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Chile: Wahlen inmitten von politischen Krisen

Eingereicht on 4. November 2021 – 12:25

Pablo Torres & Fabián Puelma. Die grundsätzliche Frage ist, ob diese politische Krise von den derzeitigen Institutionen des Regimes verarbeitet und eingedämmt werden kann, oder ob die Arbeiterklasse in der Lage sein wird, den unruhigen Fluss in den «Kommandohöhen» zu nutzen, um die von ihr geführten Kämpfe in die politische Arena zu tragen.

Das Land befindet sich vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen mitten in einer politischen Krise. Die «Pandora Papers», gemäss denen Piñera in die Ausplünderung des Bergbauunternehmens Dominga durch auf den Jungferninseln unterzeichnete Verträge verwickelt ist, haben eine neue politische Krise ausgelöst, die für Piñera das Ende bedeuten könnte. Nicht nur die Staatsanwaltschaft hat eine Klage gegen Piñera eingereicht (mit Abbott an der Spitze, nachdem sie es jahrelang vertuscht hat, da sie bereits seit 2017 von dem korrupten Vertrag mit seinem Freund Délano wusste), sondern die «Opposition» (die alte Concertación zusammen mit der Frente Amplio und der PC) hat eine Verfassungsklage eingereicht, deren Ausgang offen ist. Am wahrscheinlichsten ist bisher, dass die Abgeordnetenkammer die Anschuldigung bestätigt und der Senat darüber entscheidet, ob Piñera die Regierung verlässt oder bis zum 11. März nächsten Jahres weitermacht, wenn seine Amtszeit endet.

Diese Anschuldigungen wurden jedoch schon zu schlimmeren Zeiten erhoben, wie zu Zeiten der Revolte von vor zwei Jahren, als der kriminelle Piñera Demonstranten unterdrückte, ermordete und folterte, und in dieser Zeit versuchte dieselbe «Opposition», die ihn mit dem Friedensabkommen gerettet hatte, den Kampf auf der Strasse zu schwächen, indem sie ihn auf den Weg der alten Institutionen zurückbrachte; dabei machte sie die Anschuldigung zunichte, und kam Piñera völlig ungeschoren davon.

Diese Krise findet inmitten des Wahlkampfes für die Wahl eines neuen Präsidenten und einer neuen Regierung am 21. November (und einer wahrscheinlichen zweiten Runde im Dezember) statt, und es ist ein Wahlkampf, dessen Ausgang ungewiss ist. Wir erleben einen Wahlkampf, auch wenn er die Masse «kalt» lässt; dies ist sehr «aussergewöhnlich», wie Ascanio Cavallo kürzlich bemerkte. Handelt es sich doch um den ersten nach der Eröffnung des Zyklus nach der sozialen Explosion von 2019.

Die politischen Manöver und Operationen, die sich in den oberen Rängen abspielen – wo Schlüsselfiguren wie Sichel, der «offizielle» Kandidat der Rechten, untergehen – könnten dazu führen, dass Kandidaten wie Provoste oder der ultrarechte José Antonio Kast, der in den Umfragen hinter Gabriel Boric [der Kandidat des mitte-links Bündnisses um die mitte-bürgerliche Concertación, die Volksfront des Frente Amplio und der Kommunistischen Partei; die Red.] an zweiter Stelle liegt, wieder auftauchen. Weniger als zwei Monate vor der Wahl haben wir also ein ziemlich offenes Szenario: Gewinnen die gemässigteren «Zentren», oder gewinnt die Polarisierung mit Kast in der zweiten Runde gegen Boric?

Gewerkschaftliche Neuzusammensetzung und Elemente der Polarisierung

Der Scheideweg, der sich in der nationalen Situation auftut, ist die Frage, ob diese politische Krise von den derzeitigen Institutionen des Regimes (dem Kongress mit der verfassungsrechtlichen Anklage, der Staatsanwaltschaft mit den Ermittlungen gegen Piñera und dem Wahlprogramm) bearbeitet und eingedämmt wird, oder ob die Arbeiterklasse in der Lage sein wird, den unruhigen Fluss in den Höhen zu nutzen, um ihre wirtschaftlichen Kämpfe auf das politische Terrain zu tragen und die noch ausstehenden Forderungen der Rebellion durchzusetzen, um Piñera zu vertreiben und ihn nicht straffrei zu lassen. Tatsache ist, dass der Kongress ihn schon einmal gerettet hat und die Staatsanwaltschaft seine Betrügereien mehr als einmal ungestraft gelassen hat.

Diese politische Krise tritt zu einem Zeitpunkt ein, an dem die Massenbewegung, die den Volksaufstand von 2019 angeführt hat, institutionell «abgewichen» ist, und zwar mit der Einsetzung des Verfassungsgebenden Konvents, der in den Massensektoren grosse Illusionen hervorgerufen hat; mittlerweile aber wächst in vielen Sektoren die Frustration und Enttäuschung über den Konvent, weil er keine der grundlegenden Forderungen des Aufstandes wie Freiheit für die politischen Gefangenen, Entmilitarisierung von Araucanía, Gesundheit, Bildung, Wohnen, Löhne und Renten erfüllt. Der von der FA [Frente Amplio] und der linken Mitte geführte Verfassungskonvent hat sich dieser «Abweichung» gegenüber völlig stabilisierend verhalten und alle alten Regeln des Pinochetismus wie die «Zweidrittelmehrheit» respektiert.

Auf der anderen Seite beginnt die Arbeiterklasse, ihr Haupt zu erheben. Das diesjährige Wirtschaftswachstum nach den schwersten Momenten der Pandemie, die Hilfen aus der AFP [staatliche Zuschüsse für Renten] und dem IFE [staatliches Hilfsprogramm für die ärmsten Familien] haben es möglich gemacht, diese Monate zu überstehen. Die neu geschaffenen Arbeitsplätze sind jedoch prekär und die Informalität hat zugenommen. Darüber hinaus bestraft die Bourgeoisie die Menschen mit Inflation: Alles wird teurer, nur die Löhne steigen nicht. Hinzu kommen die Entlassungen im Gesundheitswesen und Piñeras Veto gegen das Gesetz, das den Lehrern mehr Stabilität gibt.

Dies ist ein wichtiges Phänomen der Neuzusammensetzung, der Organisation, der neuen Sektoren und Generationen, die beginnen, sich zu wehren. Im ganzen Land haben wir vereinzelte und verstreute Streiks und Arbeitsniederlegungen von Lehrern erlebt, wie diese Woche gegen Piñeras Veto, als landesweit Zehntausende auf der Strasse waren; die Beschäftigten im Gesundheitswesen, die sich Entlassungen widersetzen und an einigen Orten mobilisieren und dazu aufrufen, sich dieser Situation entgegenzustellen (wie es die Beschäftigten von Barros Luco bereits getan haben und heute im Sótero del Rio tun). Wir haben dies auch bei den Beschäftigten des Gesundheitswesens an der «vordersten Front» gesehen, wie etwa beim kämpferischen Streik der Gewerkschaft Siglo XXI im Krankenhaus von Antofagasta. Die Arbeiter von Mantos de la Luna und Albemarle in der Region Antofagasta; die Arbeiter der Stadtverwaltung von Puente Alto, die Hafenarbeiter von Quinteros; die Handelsangestellte beispielsweise in Tottus, die einen harten Streik hatten und jetzt in Teilen des Handels für die Verkürzung ihrer Arbeitszeit mobilisiert haben.

Wir haben auch gesehen, dass Sektoren weiterhin für die Freilassung der Gefangenen des Aufstandes mobilisieren; Mapuche-Gemeinschaften und -Organisationen, die weiterhin Widerstand gegen die militärisch-polizeiliche Offensive der Regierung in der Wallmapu und in ihrem Kampf für die Rückeroberung der Ländereien leisten, die jetzt in den Händen der grossen Forstunternehmen sind; der Kampf der Einwohner für Wohnraum und viele andere Sektoren.

In diesem Rahmen versuchen reaktionäre Sektoren unter dem Schutz von Kast, die soziale und migratorische Krise im Norden auszunutzen, um ihre fremdenfeindliche Agenda voranzutreiben und Zwietracht unter den einheimischen und ausländischen Lohnabhängigen zu säen, wie in Iquique. Oder sie greifen zu repressiven Massnahmen, wie es Piñera getan hat, indem er den Ausnahmezustand verhängte, um das Volk der Mapuche mit der Miliz und nicht nur mit der militarisierten Polizei zu verfolgen.

Dies sind Elemente der sozialen und politischen Polarisierung. Angesichts dieses Szenarios zeigen das Programm und die Kandidatur von Gabriel Boric die Grenzen auf, die der Offensive des rechten Flügels und der Geschäftswelt gesetzt sind. Nicolás Grau, einer der programmatischen Koordinatoren des Kandidaten, hat eine Reihe von Gesten gegenüber der herrschenden Klasse gemacht, um deren Ängste zu besänftigen und die Gunst einiger zu gewinnen. Kürzlich erklärte er, dass der Privatsektor der wichtigste Investitionssektor bleiben wird, und war bereit, das Programm weiter azuschwächen. Wie Boric in den Debatten betonte, besteht das Ziel seiner Kampagne darin, einige Reformen durchzuführen, um die Regierungsfähigkeit und den sozialen Frieden zu gewährleisten. Ganz zu schweigen von der unrühmlichen Rolle der Frente Amplio im Konvent, die einen Block mit der ehemaligen Concertación und der Rechten bildete, um wichtige Aspekte des Friedensabkommens in verschiedenen Fragen der Geschäftsordnung zu blockieren.

Eine Alternative für die Arbeiterklasse

Die verstreuten Kämpfe der Arbeiterklasse müssen in eine einzige Faust umgewandelt werden und der Arbeiterklasse die Möglichkeit geben, im Mittelpunkt zu stehen. Eine Faust, um sich gegen Angriffe zu wehren, wie sie bei der Inflation vorkommen, während die grossen Unternehmen Millionen scheffeln, wie beispielsweise im Gassektor. Eine Faust, um unsere Kämpfe zu vereinen, um unsere gemeinsamen Forderungen zu erreichen, beginnend mit dem Sieg dieser Kämpfe, wie die Ablehnung von Piñeras Veto gegen die Lehrer, das Nein zu den Entlassungen im Gesundheitswesen, für ein Gehalt und eine Mindestrente von 600.000 Pesos entsprechend dem Basisfamilienkorb, für das Ende der prekären Arbeit, für die Verkürzung des Arbeitstages ohne Lohnkürzung und die Aufteilung der Arbeitszeit zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen, für ein Ende der Militarisierung von Wallmapu und die Rückgabe des Landes an das Mapuche-Volk, für das Selbstbestimmungsrecht der indigenen Völker, für Gesundheit, Bildung und Wohnungsbau, ohne weitere Subventionen für private Unternehmer, die sich auf Kosten der öffentlichen Haushalte bereichern, für die Forderungen der Frauen wie das Recht auf legale, freie, sichere und kostenlose Abtreibung und der LGBTIQ+-Gemeinschaft und für ein Ende der Plünderung der grossen Ressourcen durch die transnationalen Konzerne.

Wichtige Gewerkschaften wie das Lehrerkollegium oder die Verbände des Gesundheitspersonals haben Mobilisierungen angeführt, aber sie dürfen sich nicht auf ihre gewerkschaftlichen Forderungen beschränken. Zusammen mit den wichtigsten Gewerkschaften wie der CUT müssen sie einen einheitlichen Forderungskatalog aufstellen, mit gemeinsamen Kampagnen durch Koordination und Einheit dieser Sektoren, mit Versammlungen, wie wir es in Antofagasta durch die gegen den Rückzug kämpfenden Lehrer in Einheit mit den Beschäftigten des Gesundheitswesens und anderer Sektoren zu fördern versuchen.

All dies in der Perspektive, dass nur die Arbeiterklasse und das Volk einen Ausweg aus der Krise bieten können, die das Land durchmacht; zu diesem Weg gehört die Perspektive eines Generalstreiks, in dem sich alle Arbeiter ohne Unterschied, gewerkschaftlich organisierte und nicht gewerkschaftlich organisierte, Staatsangehörige und Immigranten, aus dem öffentlichen und privaten Sektor, Angestellte und Subunternehmer, zusammen mit dem Volk als Ganzes, vereinigen. Dies ist die einzige Möglichkeit, Piñera aus der Regierung zu drängen und eine Lösung durchzusetzen, die unseren Interessen entspricht und bei der die Lösung aller Forderungen und Ansprüche im Vordergrund steht.

Die Kandidaturen der Arbeiterklasse und der Sozialisten, wie die, die wir von der PTR in der Einheitsfront der Arbeiterklasse aufstellen, werden dafür kämpfen, Piñera mit der Mobilisierung der Arbeiterklasse und des Volkes zu stürzen, und deshalb sind die Koordination und die Einheitsfront so wichtig, die ein Programm und eine Politik präsentieren, die völlig unabhängig von der „Opposition“ von Boric und Provoste sind, die Wahlgewinne anstreben, anstatt die Selbstorganisation und Mobilisierung zu fördern. Die Kandidatur von Lester Calderón in Antofagasta hat diesen Hintergrund und diesen Inhalt: dass die Arbeiterklasse sich in ein politisches Subjekt mit einem von der Unternehmerklasse unabhängigen Programm verwandelt.

Quelle: laizquierdadiario.cl… vom 4. November 2021; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch

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