Fluchtursachenbekämpfung hört sich gut an…
Yovo. Durchschnittlich werden in Afrika jeden Tag 15.000 Menschen innerhalb ihrer Landesgrenzen vertrieben, rechnete ein Ende 2017 veröffentlichter Bericht des Internal Displacement Monitoring Centre der Vereinten Nationen (IDMC) und des Norwegischen Flüchtlingsrats (NRC) vor. Danach wurden 2016 in Afrika 3,9 Millionen Menschen intern vertrieben, rund 70 Prozent davon als Folge bewaffneter Konflikte. Die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen in Afrika erreichte damit 12,6 Millionen. In der ersten Jahreshälfte 2017 kamen noch mal 2,7 Millionen dazu. Und der Strom der Vertreibungen reißt seitdem nicht ab. Nicht zu vergessen die knapp 6,3 Mio. Flüchtlinge in Afrika, die bis Ende 2017 Landesgrenzen passiert hatten (über eine Million mehr als Anfang des Jahres).
Spitzenreiter beim Vertreiben ist die Demokratische Republik Kongo, wo die EU 2006 erstmals eine „autonom und im multinationalen Rahmen geplante militärische Operation“ zur Unterstützung der Vereinten Nationen durchführte. Platz zwei belegt die Zentralafrikanische Republik, wo die EU vom März 2008 bis März 2009 durch einen „Überbrückungseinsatz zur Unterstützung der UN-Mission MINURCAT“ mit tausenden Soldaten aus 14 europäischen Ländern für „nachhaltige Stabilität“ – sprich: reichlich Waffen und gut ausgebildete Kämpfer – sorgte. „Fluchtursachenbekämpfung“ in der Praxis.
Das zweite Standbein der Fluchtursachenbekämpfung ist ein Migrationsmanagement in Afrika, das vor allem auf Abschottung setzt und so für die Migrierenden stetig die Kosten in die Höhe treibt. Bezahlt wird mit immer mehr Geld für eine sichere Passage oder mit dem eigenen Leben.
Die Bewegungsfreiheit aller Afrikaner*innen auf dem Kontinent ist ein zentrales Ziel staatlicher Zusammenarbeit auf dem Kontinent. In den Statuten aller Regionalorganisationen und der Afrikanischen Union ist sie verankert oder zumindest als Ziel formuliert. Doch auf Befehl des Imperialismus wird sie praktisch eingeschränkt oder verboten; Wanderungen über Landesgrenzen, die – im Gegensatz zu den Landesgrenzen – eine jahrhundertealte Tradition haben, werden reglementiert und kriminalisiert. Vom Imperialismus abhängige Regime lassen die Menschen in der Wüste verdursten. Algerien setzte z.B. mindestens 14.000 Migrant*innen in der Sahara aus – viele starben. Auch die Toten im Grenzgebiet zwischen Niger und Libyen, oder Tschad und Libyen, oder Sudan und Tschad, oder Eritrea und Sudan, oder Marokko und Algerien, oder, oder, oder … kann niemand mehr zählen. An den Küsten Senegals verfolgen spanische Grenzschützer Migrant*innen „fast so, als sei dies hier ihr eigenes Land“ schreibt die taz. Imperialistische Konzerne verkaufen biometrische Pässe, Grenzanlagen und Repressionsutensilien. Die Zäune von Melilla und Ceuta, an der einzigen europäisch-afrikanischen Landgrenze, sind immer wieder Orte heftigster Auseinandersetzungen. Nicht immer können die spanischen Behörden die Einreise verhindern, aber es gibt viele Verletzte und Tote.
Mit der Effektivität der Abschottung steigen die Profite der Transportdienstleister, die im Norden als Menschenhändler und -schmuggler verunglimpft werden.[1] Und höhere Profitraten ziehen mehr Dienstleistungsanbieter an …
Völlig entrechtete Migrant*innen werden versklavt, als Sexarbeiter*innen ausgebeutet oder erledigen andere oft sehr gefährliche Jobs, die sonst niemand erledigen würde. Wie z.B. die sudanesischen Flüchtlinge, die ihr Leben in prekären Goldminen in der tschadischen Wüste riskieren, in der Hoffnung genügend Gold zur Finanzierung der Weiterreise zu finden, nachdem die EU die Finanzierung der Flüchtlingslager, in denen sie leben, eingestellt hatte. Wie in Südeuropa wird z.B. auch in Algerien die Bau- und Landwirtschaft durch preiswerte illegalisierte Arbeiter*innen am Laufen gehalten. Die von der EU in Afrika geplanten Auffanglager werden diese Tendenz verstärken, weswegen sie in Algerien auch schon treffenderweise „Sklavenmärkte“ genannt werden.
Es wirkt da fast schon wie Hohn, dass darüber hinaus in einigen Städten Afrikas sogenannte Migrationsberatungszentren, die vom deutschen Entwicklungshilfeministerium finanziert werden, über „legale Migrationswege“ nach Europa „aufklären“ – die es nicht gibt.
Das dritte Standbein der Fluchtursachenbekämpfung ist die sogenannte „Entwicklungspolitik“.
Noch leben 80% der Bevölkerung Sub-Sahara Afrikas auf dem Land. Davon sind laut AU 268 Millionen Nomad*innen, aber deren Zahl nimmt rapide ab. Die Lebensräume von Hirtennomaden und Subsistenzbäuer*innen werden durch industrielle Landwirtschaft, Infrastrukturprojekte, das Wuchern der kapitalistischen Städte, Tourismus, „Naturschutz“, Klimawandel, die leichte Verfügbarkeit von Waffen und Krieg – sprich: vielfältige kapitalistische Angriffe – zerstört . Das stellt die Menschen häufig vor die Alternative aufgeben oder kämpfen: Lohnarbeit, Krieg, Kriminalisierung.
Das ganze Gerede von Entwicklung, Nachhaltigkeit, Förderung der Privatinitiative und der angeblichen Unfähigkeit der Subsistenzlandwirtschaft, die afrikanische Bevölkerung zu ernähren, soll nur darüber hinwegtäuschen, dass in den Augen der Kapitalisten das Land nicht dazu dienen soll, die Armen zu ernähren, sondern Profite zu erwirtschaften.
In den meisten afrikanischen Staaten wird die Wirtschaft durch Imperialisten, Militärs, protostaatliche Banden und nepotistische Netzwerke[2] kontrolliert, die eng miteinander verwoben sind (beim Thema Bad Governance werden die Imperialisten in der Regel „vergessen“). Militärs, Milizen und (Schlepper-)Banden werden zu Wirtschaftsunternehmen und großzügig aus dem Norden gesponsert. Alleine Italien will in Libyen bis zu 4,2 Milliarden Euro investieren, ein Land, dessen Wirtschaft komplett in den Händen von Milizen und Schlepperbanden liegt. Wie überall auf der Welt, entstehen kapitalistische Strukturen aus Blut und Krieg.
Ein Schwerpunkt der deutschen Investitionen in Afrika ist Tunesien: Mehr als 350 Mio. € haben deutsche Unternehmer bislang in das Land investiert, um dort 55.000 Menschen für Billiglöhne schuften lassen. Die Zahl der Auswanderer*innen steigt gleichzeitig kontinuierlich an.
In den Jahren nach der Finanzkrise 2008 floss besonders viel Geld nach Afrika. Afrikanische Staatsanleihen wurden in der Hoffnung auf anhaltend hohe Rohstoffpreise zum Verkaufsschlager. Als die Preise fielen, war der Boom vorbei. Zwischen 2012 und 2016 sind die afrikanischen Exporte in die EU um ein Drittel zurückgegangen. Nicht unbedingt, weil weniger Waren exportiert wurden, sondern vor allem, weil weniger bezahlt wurde. Ein Jahrzehnt nach dem letzten großen Schuldenerlass drohen heute wieder Staatsbankrotte, und auf dem ganzen Kontinent werden Sozialausgaben gekürzt. Jetzt fließen z.B. weniger als 1% der nigerianischen Regierungsausgaben in das Gesundheitswesen – aber rund 25% in den Schuldendienst.
Es wird deutlich: das Gerede von der Fluchtursachenbekämpfung ist reiner Bullshit. Dem Imperialismus kann es nicht darum gehen, dass Menschen ein Recht haben, nicht vertrieben zu werden. In seiner Logik müssen Menschen in Wert gesetzt werden.
Die Verweigerung vieler Rechte für als „Ausländer“ definierte Bürger*innen (?) in den imperialistischen Staaten, die häufig errichteten tödlichen Hürden auf der Flucht in den Norden und die Vertreibungen der Menschen im Süden stellen keine Widersprüche dar. Die Brutalität auf den Schlachtfeldern im Südsudan, zwischen dem Terror von Nigerias Militärs und Boko Haram, in den „Konzentrationslagern“ (so nennt die deutsche Diplomatie das) Libyens, das Verdursten lassen in den Wüstengegenden oder der Todeskampf auf den Wellen des Mittelmeers sollen auf einen einzigen möglichen Ausweg hinweisen: Wenn du dich anstrengst und dann noch Glück hast, darfst du dich verwerten lassen.
Wenn nicht, Pech gehabt: Überflüssig!
Dass dieser brutale Zynismus immer wieder an vielfältigen Widerstandsformen scheitert, ist die andere Seite der Medaille.
Im Norden Mosambiks konnten z.B. Bäuer*innen ein riesiges Entwicklungsprojekt mit dem Namen „ProSavanna“ mit vielfältigen Aktionen und internationalem Support (bislang) verhindern. Auf 14 Millionen Hektar (ungefähr ein Drittel der Gesamtfläche der BRD) sollten Cash Crops wie Soja, Baumwolle und Mais für den Weltmarkt angebaut werden. Die Kleinbäuer*innen – ungefähr 5 Mio. Personen – sollten ihre traditionellen Anbaumethoden aufgeben und der Intensivlandwirtschaft auf der Basis von Lohnarbeit, privatem Grundbesitz, kommerziellem Saatgut und Pestiziden das Feld überlassen.
Unter einem Mangobaum in Nakarari, irgendwo im Buschland, rund 2000 Kilometer nördlich der mosambikischen Hauptstadt Maputo entfernt, sitzen rund vierzig Männer und Frauen auf der Erde oder auf wackligen Holzbänken. Die Kinder, die um sie herumwuseln, hüpfen jedes Mal wie Flummis in die Luft, wenn sich eine Mango vom Ast löst. Das Wort „ProSavana“ braucht man nur zu erwähnen, und schon verfinstern sich die Mienen. „Sie können tausendmal hier auftauchen – sie werden uns nie überzeugen“, erklärt der Bauer Agostinho Mocernea lautstark. Sein Kollege Jeremiah Vunjane bekundet seine Zufriedenheit über den „historischen Sieg“, bleibt aber vorsichtig: „Die Regierung schlägt inzwischen andere Töne an. Aber wir bleiben auf der Hut.“
Lasst uns lieber solche Widerständigkeiten unterstützen. Und den Imperialismus bekämpfen – anstatt irgendwelche ominösen, angeblichen Fluchtursachen.
Und übrigens: niemand sollte das Recht haben, andere als Ausländer zu definieren!
Gescheitertes ProSavana-Projekt in Nord-Mosambik
Afrika war schon immer ein Kontinent des Bewegens … des Weggehens, des Ankommens, des Weiterwanderns, des Wiederkommens. Die Eingebundenheit in soziale Strukturen bewirkt, dass diese Mobilität als kollektiver Prozess gelebt wird. Der Krieg, die Not oder das Abenteuer, Gründe wegzugehen gibt es zahlreiche. Doch die Katastrophen der letzten Jahrzehnte, vor allem auch die restriktive Migrationspolitik der Metropolen, blockieren zunehmend die Option des Wiederkommens für den ärmeren Teil der Migrierenden. Diese Katastrophen fördern das Schleppertum, die Verschuldung, und selektieren gnadenlos die „Fittesten“ auf dem Weg in die Flüchtlingslager des Südens, durch die Sahara in den Norden des Kontinents oder im Mittelmeer auf dem Weg nach Europa. Jene, die Europa lebend erreichen, häufig traumatisiert, immer mit furchtbaren Erfahrungen im Gepäck, sind der Repression und Entrechtung sowie anderen Formen der Gewalt noch längst nicht entkommen. Ausgeschlossen vom regulären Arbeitsmarkt, getrieben von der Notwendigkeit, jede Arbeit zu übernehmen, um die Schulden abzuzahlen und das Schicksal der Lieben zu Hause zu erleichtern, werden sie gezwungen, die Konkurrenz in den prekären Sektoren des Arbeitsmarktes anzuheizen. Egal welche Ausbildung oder Vorerfahrung sie haben, als Facharbeiter müssen sie erst sozialisiert werden. (uMlungu)
Sie versuchen, diese Bewegungsfreiheit einzuschränken, unter ihre Kontrolle zu kriegen. Doch heute sind mehr Menschen unterwegs als jemals zuvor.
Mitte April kündigte die EU an, dass “50 000 Personen, die internationalen Schutz benötigen”, in Europa neuangesiedelt werden sollen. Die Neuansiedlungen sollen bis Herbst 2019 durchgezogen werden. Vor allem Flüchtlinge aus Libyen, Ägypten, Niger, Sudan, Tschad und Äthiopien sollen angesprochen werden. Mit den Ansiedlungen soll einerseits dem „Fachkräftemangel“ und den „wachsenden Problemen infolge der alternden Gesellschaften“ entgegengewirkt und andererseits gleichzeitig sollen Anreize für irreguläre Migration reduziert werden. Die Bundesregierung in Berlin habe die Zusage erteilt, dass Deutschland 10.000 Flüchtlinge aufnehme. Andere Mitgliedstaaten hätten die Aufnahme von insgesamt 40.000 Flüchtlingen zugesagt. Mit dem Umsiedlungsprogram soll auch der Mechanismus für die Evakuierung von Flüchtlingen aus Libyen unterstützt werden. Schließlich sprach selbst die deutsche Botschaft im Niger davon, dass dort die Flüchtlinge in „KZ-Ähnlichen Verhältnissen“ gehalten werden. Und Videos bei CNN über Sklavenmärkten in Libyen sorgten letztes Jahr international für großes Aufsehen. Eines ist offensichtlich: die Ansiedlung von 50.000 Menschen in der EU – so sie denn je realisiert wird – wird weder dem „Fachkräftemangel“ und den „wachsenden Problemen infolge der alternden Gesellschaften“ entgegenwirken, noch Millionen von Menschen überzeugen, dass irreguläre Migration in die EU keine sinnvolle Option.
Ende letzten Jahres veröffentlichten die beiden taz-Autor*innen Christian Jakob und Simone Schlindwein das Buch Diktatoren als Türsteher Europas. Sie interviewten unter anderem zahlreiche Parlamentarier*innen (Linke, Grüne, SPD,), Hilfsorganisationen, Wissenschaftler*innen, Journalist*innen und einige Alt-Autonome (Ex-Autonome?) für die Recherche. Die Botschaft des Buches ist eindeutig: Indem die EU afrikanischen Regierungen, darunter „Diktatoren“, Militär- und Wirtschaftshilfe in im Milliardenhöhe zukommen lässt, deren Repressionskräfte ausbildet und unterstützt, mache sie sich mitschuldig an den schweren Menschenrechtsverletzungen, die diese Regimes zu verantworten haben. Das Buch ist eine umfassende Darstellung der aktuellen europäischen Flüchtlingspolitik in Afrika, sauber recherchiert, faktenreich und lesenswert, keine Frage. Kein Skandal wird ausgeklammert, kein Verbrechen beschönigt. Das Buch wird mittlerweile von der Bundeszentrale für politische Bildung für 4,50 € angeboten, sozusagen von amtlicher Stelle für die „kritische Auseinandersetzung“ empfohlen.
Lesetipps:
Anderson, Bridged/ Sharma, Nandita/ Wright, Cynthia; “We are all Foreigners”: „No Borders“ als praktisches politisches Projekt; izidaba.info (im erscheinen); original: Anderson, Bridged/ Sharma, Nandita/ Wright, Cynthia; “We are all Foreigners”: No Borders as a Practical Political Project,” in: Nyers, Peter/ Rygiel, Kim (eds.); Citizenship, Migrant Activism and the Politics of Movement; New York 2014: S. 73-91
Benz, Martina/ Schwenken, Helen; Jenseits von Autonomie und Kontrolle: Migration als eigensinnige Praxis; in: Prokla 140; 3/2005; S. 363-377:www.prokla.com/Volltexte/140Benz_Schwenken.rtf
Federici, Silvia; Aufstand aus der Küche; Münster 2012
Foucault, Michel; Die Gouvernementalität; in: Bröckling, Ulrich, Krassmann, Susanne/ Lemke, Thomas; Gouvernementalität der Gegenwart; Frankfurt/ M. 2000; S. 41ff.
Hartmann, Detlef; Alan Greenspans endloser „Tsunami“; eine Angriffswelle zur Erneuerung kapitalistischer Macht;Berlin/ Hamburg 2015.
Holloway, John, Kapitalismus aufbrechen, Münster 2010
Jakob, Christian/ Schlindwein, Simone; Diktatoren als Türsteher Europas; Berlin 2017
Khider; Abbas; Ohrfeige; Berlin 2016
Liberti, Stefano; Soja? Nein danke; Im Norden von Mosambik war das größte Agrobusinessprojekt Afrikas geplant. Doch dann begannen sich die Bauern zu wehren; Le Monde diplomatique vom 12.07.2018; https://monde-diplomatique.de/artikel/!5518101
Ortiz, Isabel/ Burke, Sara/ Berrada, Mohamed/ Cortés, Hernán; Weltweite Proteste 2006-2013; Arbeitsdokument der Initiative for Policy Dialogue und der Friedrich-Ebert-Stiftung New York, September 2013; http://www.fes-globalization.org/new_york/wp- content/uploads/2014/02/World_Protests_2006-2013_Executive_Summary-German.pdf
Pienig, Günter; «Die Arbeiter sind total unzuverlässig!»; Peter Birke zum Verhältnis von betrieblichen Kämpfen und Migration;https://www.rosalux.de/publikation/id/14790/die- arbeiter-sind-total-unzuverlaessig/ Mai 2017
uMlungu; Afrika – Kontinent der Kämpfe; http://izindaba.info; 07.04.2017
*Gebrauch des Begriffs „Imperialismus“
Der Gebrauch des Begriffs „Imperialismus“ ist in der Redaktion nicht unumstritten. Konsens herrscht darüber, dass der Begriff in dem Zusammenhang, wie er hier gebraucht wird, sich weder auf das „Zeitalter des Imperialismus“ (ca. 1870 bis 1918) in der bürgerlichen Geschichtsschreibung, noch auf Lenins „höchstem Stadium des Imperialismus“ bezieht. Gerade letztere Verwendung von leninistisch inspirierten Gruppen in den aktuellen linken Debatten, inclusive der Begriffsverwirrungen durch die Kontroverse zwischen sogenannten Antideutschen und sogenannten Antiimperialist*innen, sind sicherlich ein Grund, warum der Gebrauch des Begriffs kritisch zu hinterfragen ist.
Ich benutze den Begriff stattdessen in dem Sinn, wie er von der Zeitschrift „Autonomie – Neue Folge“ besonders in den Heften 10 (Antiimperialismus in den 80er Jahren) und 11 (Imperialismus in den Metropolen) Anfang der 1980er Jahre entwickelt wurde, und in den nachfolgenden Jahrzehnten durch konkrete Kämpfe und kritischen Auseinandersetzungen weiter entwickelt wurde.
In diesem Sinne begreife ich Imperialismus weniger als System denn als Strategie im sozialen Krieg auf der Grundlage von unterschiedlichen Niveaus bzw. Kosten der Reproduktion. Die imperialistische Strategie zielt einerseits darauf, in den Metropolen durch materielle Zugeständnisse an kämpfende Unterklassen (z.B. vergleichsweise preiswerte Lebensmittel, Textilien, Erdölprodukte) möglichst großer Teile dieser zu befrieden. Andererseits zielt diese Strategie darauf, in der Peripherie immer neue Regionen und Sektoren in Wert zu setzen, und gleichzeitig die Kosten der Reproduktion dort weitgehend zu drücken oder gar nicht zu bezahlen.
Der zweite Grund, warum uns die Verwendung des Begriffs „Imperialismus“ problematisch erscheint, ist, dass angesichts
- extremer Armut in den Metropolen und extremen Reichtums in den peripheren Ländern des Trikonts,
- neuer imperialistischer Akteure aus Ländern wie China, Russland, Saudi-Arabien, Türkei, Malaysia usw.,
- und des aufkommenden „Zeitalters des Überwachungskapitalismus“ (um eine Formulierung von Shoshana Zuboff vorläufig zu übernehmen)
die Nord-Süd-Dichotomie, die der Begriff „Imperialismus“ beinhaltet, unangemessen ist.
Der dritte und vielleicht schwerwiegendste Grund, warum uns die Verwendung des Begriffs „Imperialismus“ problematisch erscheint, ist dass die Verwendung des Begriffs die Reichhaltigkeit der sozialen Kämpfe, deren Widersprüchlichkeit, die antipatriarchalen und antirassistischen Kritiken an traditionellen Linken Widerstandkonzepten eher verdecken als sichtbar machen kann.
Ich verwende den Begriff trotzdem, vor allem aus dem einfachen Grunde, weil wir keinen besseren haben, um die Strategie im sozialen Krieg, die auf unterschiedlichen Niveaus bzw. Kosten der Reproduktion basiert, zu beschreiben. Ich tue das in der Hoffnung, dass die Leser*innen bei dem Begriff nicht an Lenin denken, sondern an die Reichhaltigkeit der sozialen Kämpfe, deren Widersprüchlichkeit, und an die antipatriarchalen und antirassistischen Kritiken an traditionellen Linken Widerstandkonzepten.
„Soziale Nicht-Bewegungen“
Ob der Begriff „Soziale Nicht-Bewegungen“ so glücklich gewählt ist, sei einmal dahingestellt. Eigentlich ist damit nicht das Gegenteil von „Bewegen“ eben „Nicht Bewegen“ gemeint, dass was der amerikanische Anthropologe James Scott als „Everyday Forms of Resistance“ als „alltägliche Formen des Widerstandes“ beschrieben hat. Wichtig ist, dass der Begriff, wie Bayat ihn gebraucht, das was meist in der politischen Debatte unsichtbar bleibt, sichtbar macht: eben jene „alltägliche Formen des Widerstandes“, die es nicht in die Schagzeilen schaffen, aber auf Dauer in enormes Veränderungspotential bergen.
Scott, James; Weapons of the Weak: Everyday Forms of Peasant Resistance; New Haven/ London 1985
Quelle: hydra.world… vom 31. Mai 2019
[1] Damit soll nicht behauptet werden, dass diese Geschäftemacher ehrenwerte Motive haben (was Geschäftemachern sowieso niemals unterstellt werden sollte). Aber es soll behauptet werden, dass deren Geschäftsmodell ausschließlich auf der Abschottungspolitik des Nordens beruht. Die deutsche Geschichte bietet hier ausnahmsweise einmal ein positives Beispiel: Nach der Öffnung der Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland brach das Geschäftsmodell des Menschenschmuggels dort sofort zusammen. Effektiver kann Menschenschmuggel nicht bekämpft werden. Ein Beispiel, das zu Nachahmung anregt.
[2] D.h. auf Verwandtschaft im weitesten Sinne beruhende Netzwerke.
Tags: Afrika, Arbeitswelt, Flüchtlinge, Imperialismus, Politische Ökonomie, Repression, Widerstand
Neueste Kommentare