Nato-Aggression und Russlands Reaktion
Jürgen Wagner. Warum sich Russland betrogen und bedroht fühlt – und warum da einiges dran ist.
Ob ein russischer Angriff auf die Ukraine tatsächlich vor der Tür steht, wie es uns die US-Geheimdienste und die Biden-Regierung glauben machen wollen, lässt sich nur schwer beurteilen. Was sich aber sicher sagen lässt ist, dass die Situation überaus heikel ist und dass viele der russischen Vorwürfe, die derzeit so empört als Hirngespinste zurückgewiesen werden, alles andere als aus der Luft gegriffen sind.
Man muss deshalb die militärische Drohkulisse, die Moskau an der ukrainischen Grenze und jetzt auch in Belarus errichtet hat, noch lange nicht gutheißen und kann dennoch verstehen, dass die Ursachen für die neuerliche Eskalation bei der Nato liegen.
Betrachtet man die am 17. Dezember 2021 präsentierten Vorschläge zur Entschärfung der Lage so wird deutlich, dass Russland vor allem drei Dinge umtreiben: Erstens die Sorge vor einer Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Osteuropa; zweitens die sukzessive Aufrüstung und Eingliederung weiterer osteuropäischer Staaten in die NATO, insbesondere der Ukraine; und drittens die dauerhafte Ansammlung massiver NATO-Truppenverbände an seinen Grenzen.
Betrachtet man weiter die jüngsten Entwicklungen wird ebenfalls deutlich, dass diese Sorgen nur allzu berechtigt sind und zwar in allen drei Dimensionen. Dennoch treffen die russischen Bedenken aktuell nur bei wenigen westlichen Akteuren auf offene Ohren, die überwiegende Mehrheit ist leider weiter auf Krawall gebürstet, weshalb augenscheinlich auch ernsthaft darüber diskutiert wird, die Truppenpräsenz an der Nato-Ostflanke weiter zu erhöhen und sogar erstmals SoldatInnen dauerhaft im Südosten des Bündnisgebietes zu stationieren.
Ursünde NATO-Osterweiterung
Seit Jahren ist die Nato eifrig darum bemüht, die Aussage, Russland bzw. der Sowjetunion sei Anfang der 1990er zugesagt worden, es werde zu keiner Erweiterung der westlichen Militärallianz nach Osten kommen, als Falschmeldung zu diskreditieren. Auch die Medien, angefangen von Stefan Kornelius in der Süddeutschen Zeitung bis hin zu Michael Thumann in der Zeit, wissen es ganz genau Die russische Sichtweise entbehre jeder vernünftigen Grundlage, so der Tenor.
Über diverse Winkelzüge versucht die Nato dem Problem beizukommen, dass sie mit der schlussendlich 1999 vollzogenen Osterweiterung schlicht wissentlich ihre einstigen Zusagen eklatant verletzt hat. Da wäre einmal die Behauptung, die (nicht nur) von US-Außenminister James Baker gemachte Versicherung, die Nato werde sich nicht nach Osten erweitern, habe sich lediglich auf das Gebiet der ehemaligen DDR bezogen, von anderen Ländern in Osteuropa sei nie die Rede gewesen.
Der genaue Wortlaut des Gesprächs lässt eine solche Interpretation aber nur mit viel Phantasie zu, er ließ sich schon vor über zehn Jahren zum Beispiel in der Frankfurter Rundschau nachlesen:
Als US-Außenminister James Baker bei KP-Generalsekretär Michail Gorbatschow am 8. Februar 1990 um dessen Zustimmung für den Verbleib des wiedervereinigten Deutschlands in der Nato warb, versicherte Baker, es werde „keine Ausweitung der gegenwärtigen Nato-Jurisdiktion nach Osten geben“. Gorbatschow setzte nach: „Jede Erweiterung der Zone der Nato ist unakzeptabel.“ Bakers Antwort: „Ich stimme zu.“
Frankfurter Rundschau, 11. 9. 2008
Tatsächlich war es völlig klar, dass die gegenüber der Sowjetunion gemachten Zusagen sich auf jede Form einer Nato-Osterweiterung bezogen, wie unter anderem der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher seinem sowjetischen Amtskollegen Eduard Schewardnadse in einem Gespräch am 10. Februar 1990 klipp und klar versichert hatte. Aus der zugehörigen Aktennotiz zitierte unter anderem Spiegel Online:
„BM (Bundesminister): Uns sei bewusst, dass die Zugehörigkeit eines vereinten Deutschlands zur Nato komplizierte Fragen aufwerfe. Für uns stehe aber fest: Die Nato werde sich nicht nach Osten ausdehnen.“ Und da es in dem Gespräch vor allem um die DDR ging, fügte Genscher ausdrücklich hinzu: „Was im Übrigen die Nichtausdehnung der Nato anbetreffe, so gelte dieses ganz generell.“
Als weiteres Argument führt die Nato ins Feld, es habe nie eine formale Zusage der Nato existiert, insofern habe man sich mit den Erweiterungsrunden auch nichts zuschulden kommen lassen. Das ist zwar keine glatte Lüge, aber dennoch keineswegs wahr.
Schließlich haben VertreterInnen nahezu aller großen Nato-Staaten Russland die besagte Garantie gegeben, wie sich in 2017 freigegebenen Dokumenten nachlesen lässt. Zu ihnen gehörten u.a. George Bush, Hans-Dietrich Genscher, Helmut Kohl, Robert Gates, Francois Mitterrand, Margaret Thatcher, John Major, Manfred Wörner und andere.
Insofern war es zwar eine geopolitische Dummheit allersten Ranges, sich diese Zusagen nicht in rechtlich bindender Form geben zu lassen, dass sie aber gemacht wurden und hätten eingehalten werden müssen, entspricht ebenso den Tatsachen. Augenscheinlich ging auch der sowjetische Generalsekretär Michael Gorbatschow von der Gültigkeit der westlichen Garantien aus:
Die Entscheidung der USA und ihrer Verbündeten, die Nato nach Osten auszudehnen, wurde 1993 letztlich gefällt. Ich habe das damals von Anfang an als großen Fehler bezeichnet. Es war definitiv eine Verletzung des Geistes der Statements und Versicherungen, die uns gegenüber 1990 gemacht wurden.
Michael Gorbatschow
Als letzter Pfeil im Nato-Köcher fungiert dann noch die Behauptung, die turbulente Zeit im Februar 1990 sei von vielen Missverständnissen geprägt gewesen, etwaige damals getätigte Aussagen ließen sich heute nicht mehr auf die Goldwaage legen. Allerdings zeigen 2018 freigegebene und beim „National Security Archive“ veröffentlichte Dokumente, dass auch mit Gorbatschows Nachfolger Boris Jelzin in Sachen Nato-Osterweiterung ein falsches Spiel getrieben wurde. Der Journalist Andreas Zumach schreibt dazu:
Aus den Dokumenten wird deutlich, wie Jelzin und seine Regierung von den damaligen US-Administrationen von George Bush und Bill Clinton im Unklaren gelassen oder gar vorsätzlich in die Irre geführt wurde über die damaligen Absichten mit Blick auf eine Erweiterung der Nato.
Es ist also völlig nachvollziehbar, dass sich Russland hier betrogen fühlt, was sicherlich weit weniger problematisch wäre, würde es die Nato-Politik insbesondere in der letzten Zeit nicht als überaus bedrohlich empfinden.
Raketenstationierungen: Neue (Nach)rüstung
Wir erinnern uns: 2019 stiegen die USA mit lautem Getöse aus dem INF-Vertrag aus, der eine Stationierung landgestützter Kurz- und Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 500 km und 5.500 km bis zu diesem Zeitpunkt verbot.
Als Begründung wurde angegeben, Russland habe den Vertrag bereits verletzt. Moskau bestritt die Vorwürfe und gab an, die infrage stehenden Marschflugkörper 9M729 (Nato-Codename SSC-8) hätten eine Reichweite unter 500 km. Gleichzeitig bot es Vor-Ort-Inspektionen an, mit denen diese Frage hätte geklärt werden können.
Stattdessen beharrten die USA und ihre Verbündeten aber auf ihren Anschuldigungen, kündigten den Vertrag auf und schlugen auch ein – bis heute – immer wieder von Russland angebotenes Moratorium für die Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen barsch aus (siehe Das Ende des INF-Vertrags und das neue Wettrüsten).
Schon 2019 wurden Forderungen nach einer erneuten Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa laut und aktuell sieht alles danach aus, als würden die USA dies auch bald umsetzen – es liegt deshalb nahe, die Aufkündigung des INF-Vertrages als Resultat dieser Ambitionen und nicht als Ergebnis bis heute nicht sattelfest bewiesener russischer Vertragsverletzungen zu begreifen.
Ein deutliches Zeichen für diese Bestrebungen war die am 8. November 2021 erfolgte Re-Aktivierung des 56. Artilleriekommandos mit Sitz im Wiesbadener Stadtteil Mainz-Kastel. Der Schritt hat einigen Symbolwert, schließlich war das Kommando bis zu seiner vorläufigen Auflösung 1993 für die Pershing-Raketen zuständig, die im Zuge der „Nachrüstung“ (oder treffender: „Aufrüstung“) in den 1980er Jahren stationiert wurden.
Die heutige Aufgabe des Kommandos besteht darin, im Kriegsfall Raketeneinsätze der US-Streitkräfte und ihrer Nato-Verbündeten zu koordinieren. Das legt natürlich nahe, dass die US-Armee auch über die entsprechenden Waffen verfügen will, weshalb der Schritt nur in Verbindung mit der nahezu gleichzeitigen Aktivierung der ebenfalls in Wiesbaden ansässigen „Multi-Domain Task Force“ (MDTF) Sinn macht. Denn geplant ist es diesen Einheiten, die explizit mit dem Anspruch konzipiert wurden, in Großmachtkonflikten mit Russland oder China die Oberhand erlangen zu können, drei Kurz- und Mittelstreckensysteme, die aktuell noch in der Entwicklung befinden, zuzuordnen.
Nachdem die US-Armee mehrfach versichert hat, es sei keine Stationierung konventioneller (aber atomar bestückbarer) Raketen in Deutschland geplant, ist die Annahme völlig plausibel, dass eine Dislozierung weiter im Osten möglichst nahe an den russischen Grenzen ins Auge gefasst wird.
Es ist deshalb nachvollziehbar, wenn Russland über diese Entwicklung beunruhigt ist, zumal es sich bei einem der in Entwicklung befindlichen US-System („Dark Eagle“) um eine Hyperschallrakete handelt, die in extrem kurzer Zeit und damit fast ohne die Möglichkeit von Abwehrmaßnahmen Ziele in Russland treffen könnte. Aus diesem Grund kritisierte der russische stellvertretende Außenminister Sergei Ryabkow am 13. Dezember 2021, er sehe in der Re-Aktivierung des 56. Artillerieregimentes ein „indirektes Zeichen“ dafür, dass die Nato plane, neue Mittelstreckenraketen zu stationieren, was er als eine ernste Bedrohung wertete.
Aufrüstung der Ukraine – Heranführung an die Nato
Die geopolitische Bedeutung der Ukraine als einer der Schlüsselstaaten in der Region steht außer Frage – und ebenso die Reichweite einer Entscheidung, ob sich das Land dem westlichen Block oder Russland zuwendet oder ob es einen neutralen Status bewahrt (siehe Ost oder West?).
Genau diese Frage war Auslöser der Eskalation im Jahr 2014, die ihren Anfang darin nahm, dass der damalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch sich entschied, die Unterzeichnung eines Assoziationsabkommens mit der EU auf Eis zu legen, mit dem sein Land nahezu irreversibel in den westlichen Block integriert worden wäre.
Die unmittelbar darauf mit massiver westlicher Unterstützung (und unter Ignorierung der regen Beteiligung faschistischer Kräfte) einsetzenden Maidan-Proteste führten dann zur unter Gewaltandrohung erfolgten Flucht des gewählten Präsidenten Janukowitsch. Russland reagierte hierauf mit der Aufnahme der Krim und der Unterstützung separatistischer Kräfte in der Ostukraine, was zu einem Bürgerkrieg führte, der mit dem Minsker Waffenstillstandsabkommen vom 12. Februar 2015 endete, das von der Ukraine, Russland, Frankreich und Deutschland unterzeichnet wurde und den Status quo erst einmal einfror.
Bis heute liefert das Minsker Abkommen die Grundlage für den extrem brüchigen Waffenstillstand. In diesem Zusammenhang ist es entscheidend, dass zwar ausführlich über den erstmals im April 2021 begonnenen russischen Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze berichtet wurde, in den Medien aber kaum davon zu lesen war, dass dem ein folgenschweres Dekret vorangegangen war.
Einzig der Berliner Zeitung war etwas über den Vorgang zu entnehmen, der vom früheren Handelsblatt-Journalisten Eric Bonse folgendermaßen zusammengefasst wurde:
Seit Mitte Februar gibt es wieder verstärkt Kämpfe zwischen pro-russischen Einheiten und der Regierungsarmee in der Ostukraine. Für besondere Aufmerksamkeit sorgt das Dekret Nr. 117 vom 24. März 2021, mit dem [der ukrainische Präsident] Selenskyj die Entscheidung des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine vom 11. März 2021 („Zur Strategie der Entbesetzung und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol“) umsetzen will. In dem Dekret wird die Vorbereitung von Maßnahmen angekündigt, um „die vorübergehende Besetzung“ der Krim und des Donbass zu beenden. Laut der staatlichen ukrainischen Nachrichtenagentur Ukrinform erhielt die Regierung den Auftrag, einen entsprechenden „Aktionsplan“ zu entwickeln.
Ohne es mit letzter Sicherheit wissen zu können macht es vor diesem Hintergrund einigen Sinn, den russischen Truppenaufmarsch als eine klare Drohung in Richtung der ukrainischen Regierung zu interpretieren, dass ein versuchter Angriff auf die von separatistischen Kräften gehaltenen Gebiete (oder gar die Krim) von Russland mit aller Härte beantwortet werden würde.
Auch das muss man nicht schön finden, es ist aber etwas gänzlich anderes als die derzeit omnipräsente Behauptung, Russland plane einfach so in die Ukraine einzumarschieren. Ganz ähnlich sah dies wohl auch Marineinspekteur Kay-Achim Schönbach, der mit von tagesschau.de zitierten Äußerungen für Furore sorgte, für die er am Samstag seinen Hut nehmenmusste – Was der Rauswurf von Vizeadmiral Schönbach bedeutet.
Deshalb forderte Samuel Charap von der dem US-Militär nahestehenden Rand-Corporation bereits im November 2021 eine Kursänderung in der Ukrainepolitik:
Verschiedene US-Regierungen haben erpresserische Instrumente ausprobiert […]. Gleichzeitig hat Washington Kiew wirtschaftlich, politisch und militärisch unterstützt […]. Die Gefahr eines großen Krieges scheint groß genug, um eine neue US-Herangehensweise zu rechtfertigen. […] Wo die USA einen entscheidenden Einfluss haben, ist auf die Ukraine – und dieser Einfluss wird im Großen und Ganzen nicht genutzt. Anstatt sich ausschließlich auf die Erpressung Russlands zu fokussieren, sollte die Biden-Regierung auch Kiew drängen Schritte in Richtung einer Implementierung des Minsker-Abkommens zu unternehmen, wozu die Ukraine bislang wenig Bereitschaft an den Tag gelegt hat.
Samuel Charap, Rand-Corporation
Aktuell handelt es sich bei derlei Stimmen aber noch um einsame Rufer und auch hier ist es verständlich, dass die weitere Aufrüstung der ukrainischen Armee in Russland nicht gerade Begeisterungsstürme auslöst. Bereits ein kurzer Überblick bei German-Foreign-Policy.com zeigt, wieviel in dieser Hinsicht bereits unternommen wurde:
So haben die USA inzwischen Militärhilfe im Wert von mehr als 2,5 Milliarden US-Dollar geleistet, darunter die Lieferung Hunderter Panzerabwehrraketen des Typs Javelin. Polen und Tschechien haben Dutzende gebrauchte Schützenpanzer beschafft; die Türkei liefert Kiew ihre berüchtigten Drohnen des Typs Bayraktar TB2. Großbritannien wiederum hat begonnen, die Aufrüstung der ukrainischen Seestreitkräfte zu unterstützen; unter anderem will es die Ukraine beim Erwerb neuer Kriegsschiffe und beim Bau einer neuen Marinebasis unterstützen.
Die neuerliche Eskalation diente der ukrainischen Regierung dazu, ihre Forderungen nach noch mehr Waffenlieferungen noch einmal deutlich lauter als bislang zu artikulieren. Großbritannien hat bereits mit der Lieferung von Panzerabwehrwaffen begonnen und am 20. Januar 2022 gab Washington den baltischen Ländern die Zustimmung, US-Waffen an die Ukraine weitergeben zu können.
Direkt wird auch Deutschland zu Waffenlieferungen aufgefordert, lehnt diese bislang aber noch ab. So betonte Kanzler Olaf Scholz: „Die deutsche Bundesregierung verfolgt seit vielen Jahren eine gleichgerichtete Strategie in dieser Frage. Und dazu gehört auch, dass wir keine letalen Waffen exportieren.“
Dennoch beharrt die Ukraine auf dieser Forderung und präzisierte laut Tagesspiegel auch, was es denn genau an „defensiven“ Waffen von Deutschland hätte:
„Es geht in erster Linie um deutsche Kriegsschiffe, die zu den besten der Welt gehören, die wir für die robuste Verteidigung der langen Küste im Schwarzen und Asowschen Meer dringend brauchen“, sagte Botschafter Andrij Melnyk der Deutschen Presse-Agentur.
Tagesspiegel
Doch nicht nur was Kriegsschiffe anbelangt ist klar, dass es so etwas wie defensive Waffen eigentlich überhaupt nicht gibt. Bereits letztes Jahr hatte Grünen-Chef Robert Habeck die Lieferung von „defensiven“ Waffen in die Ukraine gefordert. Im Zuge der damaligen Debatte stellte zum Beispiel Carlo Masala, Professor an der Bundeswehr-Universität in München, klar:
Die Unterscheidung zwischen Defensiv- und Offensivwaffen stammt aus früheren Jahrhunderten, wo sie noch Sinn ergeben hat. Mittlerweile lässt sich nahezu jede Waffe defensiv oder offensiv nutzen, das hängt immer von der Art und Weise der Operationsführung ab. […] Die Gefahr ist eben, dass diese Waffen doch für offensive Operationen eingesetzt werden […], was dann sicherlich eine massivere russische Antwort bedeuten würde […] Der Krieg in der Ostukraine würde also nochmals eskalieren. Diese Gefahr ist durchaus existent.
Carlo Masala
Auch in der aktuellen Debatte äußerte sich Masala ähnlich:
Es sind Waffen. Diese Defensiv/Offensiv Debatte dient nur der Beruhigung der deutschen pazifistischen Gemüter. Es sei denn wir reden über Helme und Nachtsichtgeräte. Die machen aber wenig Unterschied.
Gerade vor dem Hintergrund der Kiewer Ambitionen für eine Rückeroberung der abtrünnigen Gebiete sind Waffenlieferungen in jedweder Form demzufolge mehr als problematisch – dennoch wird nun auch im EU-Rahmen geliefert, wozu auch Deutschland die Zustimmung gegeben hat. So informierte der Rat der EU am 2. Dezember 2021 in einer Pressemitteilung über die Genehmigung nicht-letaler „Unterstützungsmaßnahmen“ für die Ukraine aus Mitteln der Europäischen Friedensfazilität:
Insbesondere werden militärmedizinische Einheiten, einschließlich Feldlazarette, sowie Einheiten in den Bereichen Technik, Mobilität und Logistik finanziert und es wird Unterstützung in Cyberfragen geleistet. Die Maßnahme beläuft sich auf 31 Millionen € über einen Zeitraum von 36 Monaten.
Europäischer Rat
Deutlich problematischer noch ist, dass sich außerdem seit Juni 2021 eine EU-Mission zur Ausbildung ukrainischen Militärs in der Anbahnung (EU Military Advisory and Training Mission, EUTM Ukraine) befindet, die laut dem EU-Außenbeauftragen Josep Borell bald gestartet werden soll.
„Ein solcher Einsatz würde ein Ausdruck der Solidarität mit der Ukraine sein angesichts der fortlaufenden militärischen Aktivitäten der Russischen Föderation an den Grenzen zur Ukraine und in der illegal annektierten Krim“, heißt es zu dem geplanten Einsatz in einem Arbeitspapier des Europäischen Auswärtigen Dienstes.
Augenscheinlich soll dieser Einsatz die Heranführung der ukrainischen Armee an die Nato-Standards vorantreiben, woran der lettische Verteidigungsminister Artis Pabriks kürzlich keine Zweifel aufkommen ließ:
Wir wollen eine moderne Armee schaffen. In der Praxis würde dies bedeuten, Teams von Militärexperten zu entsenden, um die ukrainischen Streitkräfte und die Kommandostruktur auszubilden. Wir können allgemeine Beziehungen in der Armee trainieren, Taktik (strategisch, Manöver…), alles, was wir lehren können… Vor etwa 30 Jahren, bevor wir der Nato beitraten, hatten wir in Lettland Nato-Standards übernommen. Die Ukraine muss bereit sein. […] Die Ukraine ist grundsätzlich ein verbündetes Land, und die Europäische Union muss ihr beim Aufbau einer modernen Armee nach Nato-Standards helfen. Das ist also tatsächlich das Ziel: der Nato-Standard. Weil es alle Arten von Wertesystemen, Zusammenarbeit und in politischer Hinsicht beinhaltet, erlaubt es uns auch, uns als Einfluss im Land zu positionieren.
Artis Pabriks, lettischer Verteidigungsminister
Russische Vorschläge zur Deeskalation
Russland wiederum reagiert auf alle diese Entwicklungen auf der einen Seite indem es in Form des stellvertretenden Außenministers Sergej Rjabkow betont, man habe „keine Intentionen, die Ukraine anzugreifen„, was außerhalb einer ukrainischen Offensive wohl auch zutreffen dürfte.
Auf der anderen Seite warnt Russland aber auch scharf, es werde nicht ohne Folgen bleiben, sollten seine Sicherheitsbedenken vom Westen nicht adressiert werden.
Diese Bedenken wurden in Form russischer Vorschläge bzw. Forderungen Mitte Dezember 2021 formuliert und u.a. in einer Erklärung des russischen Außenministeriums zusammengefasst. Darin ist zu lesen:
Es wurde der Weg gewählt, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, was mit der Stationierung von Raketen mit minimaler Flugzeit nach Zentralrussland und anderen destabilisierenden Waffen verbunden ist. […] Anstatt ihre ukrainischen Schützlinge zu zügeln, treiben die Nato-Staaten Kiew zu aggressiven Schritten an. Die zunehmende Zahl ungeplanter Übungen der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten im Schwarzen Meer kann nicht anders interpretiert werden. […] In diesem Zusammenhang bestehen wir, wie Präsident Wladimir Putin betonte, darauf, dass ernsthafte langfristige rechtliche Garantien gegeben werden, die ein weiteres Vordringen der Nato nach Osten und die Stationierung von Waffen an den westlichen Grenzen Russlands, die eine Bedrohung für Russland darstellen, ausschließen würden. […] Wir fordern Washington auf, sich dem einseitigen Moratorium Russlands für die Stationierung von Boden-Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa anzuschließen.
Russisches Außenministerium
Gleichzeitig schlug Russland einen Sicherheitsvertrag vor, mit dem diese Sicherheitsbedenken rechtlich bindend adressiert würden. Wie zu erwarten war, wurden diese zumindest nachvollziehbaren Forderungen westlicherseits fast unisono barsch zurückgewiesen.
Immerhin zeigten sich beide Seiten nach dem Treffen der Außenminister Antony Blinken und Sergej Lawrow am 21. Januar 2022 zu weiteren Gesprächen bereit und man darf gespannt auf die schriftlichen Ideen zur Beilegung der Krise sein, die Washington für diese Woche angekündigt hat. Allzu viel sollte man sich davon allerdingt nicht versprechen, schließlich wird aktuell parallel dazu auch intensiv über weitere Aufrüstungsmaßnahmen an den russischen Grenzen diskutiert.
NATO: Aufmarsch an der (Süd)Ostflanke?
Einige wenige bisherige VerfechterInnen eines harten Nato-Kurses gegenüber Russland sind wohl inzwischen selber erschreckt über die Brisanz, die die Lage mittlerweile angenommen hat. So initiierten 27 teils recht prominente SicherheitsexpertInnen, von denen eine ganze Reihe nicht im Verdacht steht, besonders russlandfreundlich zu sein, Anfang Dezember 2021 den Aufruf „Raus aus der Eskalationsspirale! Für einen Neuanfang im Verhältnis zu Russland“:
Ziel muss es sein, Russland und auch die Nato wieder aus einem konfrontativen Kurs herauszuführen. […] Die Nato sollte aktiv auf Russland zugehen und auf eine Deeskalation der Situation hinwirken.
Aufruf: „Raus aus der Eskalationsspirale“
Mehrheitlich stieß dieser Deeskalationsversuch aber leider auf taube Ohren. Im Gegenteil, wie bereits angedeutet, wird derzeit eifrig über nochmalige Truppenstationierungen diskutiert. Und das, obwohl bereits die 2014 beschlossene „Enhanced Forward Presence“, die Stationierung von vier Nato-Bataillonen à je 1.000 Soldat:innen in den drei baltischen Staaten und Polen, einen Bruch der NATO-Russland-Akte aus dem Jahr 1997 darstellte.
Diese völkerrechtliche Absichtserklärung wurde damals vereinbart, um russische Bedenken gegenüber der sich anbahnenden ersten Nato-Osterweiterung abzumildern, wozu insbesondere folgende Stelle dienen sollte:
Die Nato wiederholt, dass das Bündnis in dem gegenwärtigen und vorhersehbaren Sicherheitsumfeld seine kollektive Verteidigung und andere Aufgaben eher dadurch wahrnimmt, dass es die erforderliche Interoperabilität, Integration und Fähigkeit zur Verstärkung gewährleistet, als dass es zusätzlich substantielle Kampftruppen dauerhaft stationiert.
Nato-Russland-Akte
Im Prinzip war die Nato-Russland-Akte mit den Nato-Bataillonen in Osteuropa bereits 2014 hinfällig, nun wird aber intensiv darüber diskutiert, diese Präsenz noch einmal auszubauen, wie Ende letzten Jahres gemeldet wurde:
Nach Spiegel-Informationen schlug US-General Tod D. Wolters, der Supreme Allied Commander für Europa (kurz: Saceur), kürzlich in einer geheimen Videoschalte mit den Militärchefs der Partnernationen vor, ähnlich wie im Baltikum und Polen auch in Rumänen und Bulgarien die Nato-Präsenz über die Mission „Enhanced Forward Presence“ (EFP) zu erweitern. Der Vorschlag des Generals ist recht konkret. Demnach solle die Nato wie im Baltikum auch in Bulgarien und Rumänien eigene EFP-Kontingente von gut 1500 Personen aufbauen.
Darüber hinaus scheint auch über eine Aufstockung der bisherigen Enhanced Forward Presence nachgedacht zu werden. Zumindest gab die estnische Premierministerin Kaja Kallas Mitte Januar 2022 an, man befinde sich diesbezüglich in Gesprächen mit der Nato.
Reuters zitierte in diesem Zusammenhang einen nichtgenannten Nato-Diplomaten, demzufolge die Frage einer Aufstockung der Truppenpräsenz beim Treffen der Nato-Verteidigungsminister:innen Mitte Februar 2022 auf die Tagesordnung kommen könnte.
Zumindest in der britischen Regierung scheinen derlei Überlegungen bereits weit fortgeschritten zu sein, so wurde am 21. Januar 2022 gemeldet:
Die britische Regierung erwägt offenbar, Hunderte weitere Soldaten in die baltischen Staaten und nach Polen zu entsenden. Damit solle die Abschreckung gegenüber Russland erhöht werden, berichtete die Times unter Berufung auf eine Quelle im Verteidigungsministerium in London.
Die Nato und Russland sind endgültig an einem Punkt angelangt, an dem es so nicht mehr weitergehen kann, das gegenseitige Hochschaukeln ist brandgefährlich und muss endlich ein Ende haben.
Eine wichtige Voraussetzung hierfür wäre aber ein Eingeständnis der Nato-Staaten, dass sie die Hauptschuld an der brisanten Lage tragen oder dass sie wenigstens einsehen, dass es nachvollziehbare Gründe gibt, weshalb sich Russland bedroht fühlt. Die Nato muss endlich ernsthafte Vorschläge unterbreiten, wie für beide Seiten akzeptable Lösungen aussehen könnten, anstatt immer weiter auf ein militärisches Säbelrasseln zu setzen, das augenscheinlich nirgendwohin führt, jedenfalls nicht aus der aktuellen Krise.
Quelle: Telepolis… vom 31. Januar 2022
Tags: Balkan, Deutschland, Europa, Imperialismus, Politische Ökonomie, Russland, Sowjetunion, Ukraine, USA
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