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Was Du über die Ukraine weißt, ist vermutlich falsch

Eingereicht on 18. Februar 2022 – 10:50

Der Soziologe Wolodymyr Ischtschenko erklärt, warum die Ukraine die Kriegsgefahr geringer einschätzt als der Westen, was seit der Maidan-Revolution 2014 passiert ist und welche Interessen den Friedensprozess blockieren. Interview mit Wolodymyr Ischtschenko geführt von Branko Marcetic. Übersetzung von Thomas Zimmermann

Wer sich auf die etablierten Medien verlassen hat, um die Ereignisse der vergangenen acht Jahre in der Ukraine zu verfolgen, hat sehr wahrscheinlich ein verzerrtes Bild von der Situation im Land.

Wolodymyr Ischtschenko, Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin, schreibt seit Jahren über ukrainische Politik, die Euromaidan-Revolution von 2014 und die komplexen Überschneidungen zwischen Protesten, sozialen Bewegungen und nationalistischen Kräften. Im JACOBIN-Interview erklärt er, was man im Westen über die Ukraine und die anhaltende geopolitische Pattsituation wissen muss.

Warum wird das Risiko einer russischen Invasion in der Ukraine so anders bewertet als zum Beispiel in den USA und Großbritannien?

Die russische Zwangsdiplomatie und die militärische Aufrüstung sind nur ein Aspekt dieses Konflikts, denn parallel dazu werden weitere diplomatische Gespräche geführt. Und die mediale Kampagne über eine unmittelbar bevorstehende Invasion ist ein anderer Aspekt, der seine eigene Logik hat, von verschiedenen Interessen geleitet ist und nicht als objektive Widerspiegelung der Handlungen Russlands verstanden werden sollte. Diese Kampagne verhärtet und eskaliert den Konflikt und zielt primär wahrscheinlich nicht einmal auf Russland oder die Ukraine ab, sondern auf Deutschland, das näher an seine NATO-Verbündeten heranrücken soll.

Die Ukraine hat diese Kampagne in den westlichen Medien zunächst gar nicht wahrgenommen. Dann versuchte man, sie auszunutzen, indem man mehr Waffen und präventive Sanktionen gegen Russland forderte. Erst seit etwa zwei oder drei Wochen bemüht sich die ukrainische Regierung, klarzustellen, dass eine Invasion nicht wirklich unmittelbar bevorsteht – dass wir seit 2014 von Russland bedroht werden, inzwischen daran gewöhnt sind und diese Bedrohung nach ukrainischen Geheimdienstinformationen heute nicht größer ist als im Frühling letzten Jahres. Damals hatte Russland schon einmal sehr öffentlich und mit klaren Absichten mehr Truppen an die ukrainische Grenze verlagert.

Die mediale Darstellung im Westen hatte sehr negative materielle Konsequenzen für die ukrainische Wirtschaft: Die Währung wurde abgewertet, immer mehr Investoren – insbesondere im Immobilienmarkt – verlassen das Land, und die Regierung hatte große Angst, dass die Wirtschaft auch ohne eine tatsächliche Invasion in ernste Schwierigkeiten geraten könnte. Aber ich würde das nicht einfach als strategische Täuschung auffassen.

Warum ist die Ukraine sowohl für Russland als auch den Westen so wichtig?

Wirtschaftlich gesehen ist die Ukraine eigentlich ein großer Misserfolg. Die Ukraine ist eines der wenigen Länder weltweit, die das Pro-Kopf-BIP von 1990 nicht erreicht haben. In den 1990er Jahren erlebte das Land eine enorme wirtschaftliche Rezession, und anschließend gelang es ihm nicht, so zu wachsen wie seine osteuropäischen Nachbarn. Die Lebensqualität ist heute nicht höher als am Ende der Sowjetunion, in Polen oder sogar Russland und Belarus ist das anders.

Aus der Perspektive Russlands und der USA ist die Ukraine wichtig, weil Erdgas durch das Land transportiert wird. Es gab eine Reihe von Initiativen für ein Drei-Parteien-Konsortium: Russland als Gaslieferant, die EU als Abnehmerin und die Ukraine als Mittlerin. Diese wurden in den 1990er und 2000er Jahren insbesondere von ukrainischer Seite torpediert, und als Reaktion darauf hat Russland einfach mehrere Pipelines um die Ukraine herum gebaut. Nord Stream 2 ist für die Ukraine besonders gefährlich, weil es die ukrainischen Pipelines obsolet machen könnte.

In militärischer Hinsicht ist die Ukraine nach Aussagen Russlands bedeutend, weil es dort im Falle einer Stationierung von NATO-Offensivwaffen Raketen gäbe, die innerhalb von fünf Minuten Moskau erreichen könnten. Die russische Verteidigungsstrategie hat jahrhundertelang darin bestanden, möglichst weit nach Westen zu expandieren, um strategische Tiefe zu schaffen. Das hat die Invasionen Napoleons und Hitlers zur Strecke gebracht. Allerdings werden Kriege heutzutage nicht mehr auf dieselbe Weise geführt wie noch vor einem halben beziehungsweise zwei Jahrhunderten.

Für die USA ist die Ukraine von Belang, weil sie für Russland einen Krisenherd darstellt. Spannungen mit der Ukraine könnten Russland schwächen und seine Kapazitäten binden, was für die USA von Vorteil wäre, zum Beispiel im Falle einer Eskalation mit China. Es gibt jetzt zynische Stimmen im Westen, die sagen: »Warum lassen wir nicht die Russen in die Ukraine einmarschieren und machen die Ukraine für Russland zu einem zweiten Afghanistan?« Ein solcher Krieg würde Russland eine Menge Ressourcen kosten und mit Sanktionen einhergehen, wahrscheinlich inklusive Nord Stream. Es ist unklar, wie lange Russland eine größere Eskalation in der Ukraine überleben würde. Das könnte auch ein Grund dafür sein, warum der Krieg in der Ostukraine schon so lange andauert: Es gibt kein wirkliches Interesse, ihn zu beenden. Es gab 2015 und 2019 mehrere Gelegenheiten dazu – doch die US-Regierung hat sich dafür nicht so stark dafür eingesetzt, wie sie gekonnt hätte.

Wie ist das Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland? Und wie beeinflusst die lange und komplexe Geschichte beider Länder die politischen und kulturellen Widersprüche innerhalb der Ukraine?

In dieser Frage gibt es bei weitem keinen Konsens. Manche Linke, unter anderem einige ukrainische Marxisten des 20. Jahrhunderts, vertraten die Ansicht, dass die Ukraine eine russische Kolonie war und zumindest im Russischen Reich wirtschaftlich ausgebeutet wurde. In der Sowjetunion war die Situation eine andere – die Ukraine wurde wirtschaftlich sehr stark aufgebaut und wurde letztendlich zu einem der entwickeltsten Teile der Sowjetunion. Gerade deswegen hat die postsowjetische Krise die Ukraine auch so hart getroffen. Daher sagen andere, dass das Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland eher dem Verhältnis zwischen Schottland und England ähnelt, und mit den Beziehungen zwischen den westeuropäischen Reichen und ihren Kolonien in Afrika und Asien oder auch nur zwischen Russland und Zentralasien oder Sibirien kaum zu vergleichen ist.

Viele Russinnen und Russen betrachten die Ukraine als Teil der russischen Nation. Sie können sich Russland ohne die Ukraine einfach nicht vorstellen. Im Russischen Reich dominierte die Auffassung, Russen, Ukrainer und Weißrussen seien drei Teile desselben Volkes. Dieses Narrativ hat Wladimir Putin wieder aufgegriffen, als er im Juli 2021 einen Essay veröffentlichte, in dem er schrieb, dass Ukrainer und Russen ein Volk seien, das nur künstlich getrennt sei. Dieses Narrativ hat im russischen imperialen Denken eine lange Tradition.

In dieser Hinsicht könnte man sagen, dass im Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland zwei Nation-Building-Projekte miteinander konkurrieren. Das eine besagt, dass die Ukraine nicht zu Russland gehört, sondern eine eigenständige Nation ist. Diese Sichtweise ist in der Ukraine derzeit dominant. Doch dieses Nation-Building-Projekt war nicht ganz erfolgreich – obwohl 1990, 2004 und 2014 drei Revolutionen stattgefunden haben, die stark darauf ausgerichtet waren. Das andere Narrativ behauptet, dass die Ukraine eigentlich Teil einer größeren ostslawischen Einheit ist, die nur aufgrund der Schwäche des Modernisierungsprozesses im Russischen Reich nicht verwirklicht wurde.

Diese Diskussion beschäftigt jedoch nur einen kleinen Teil der ukrainischen Gesellschaft, insbesondere die Intellektuellen. Für die normale Ukrainerinnen und Ukrainer ist das nicht die entscheidende Frage. Laut Umfragen, die in den dreißig Jahren seit der Unabhängigkeit durchgeführt wurden, hatten unter der ukrainischen Bevölkerung stets Themen wie Arbeitsplätze, Löhne und Preise oberste Priorität, während Identität, Sprache, Geopolitik, die EU, Russland und die NATO als nachrangig beurteilt wurden.

Einige Kommentatoren meinen, die Rechtsextremen seien für die Politik des Landes nicht relevant, da sie bei den Wahlen seit dem Maidan kaum Erfolg hatten.

Die radikalen Nationalisten spielen in der ukrainischen Politik eine bedeutende Rolle. Einerseits üben sie direkten Druck auf die Regierung aus, andererseits verbreiten sie ihre Narrative. Wenn man sich die politischen Maßnahmen der Post-Maidan-Regierung ansieht, tragen sie die Handschrift der radikal-nationalistischen Parteien – insbesondere, was die Dekommunisierung angeht, also unter anderem das Verbot der Kommunistischen Partei der Ukraine, und die Ukrainisierung, also die Verdrängung der russischen Sprache aus dem öffentlichen Raum. Vieles, wofür die Rechtsextremen vor dem Maidan gekämpft haben, wurde anschließend von nominell nicht rechtsextremen Parteien umgesetzt.

Nationalistische Radikalisierung eignet sich gut, um zu kompensieren, dass wirklich revolutionäre Veränderungen nach dem Maidan ausgeblieben sind. Durch ideologische Umwälzungen – wenn man zum Beispiel Straßen umbenennt, alle sowjetischen Symbole entfernt, die Lenin-Statuen abbaut, die in vielen ukrainischen Städten standen – erzeugt man den Anschein eines Wandels, ohne dass sich tatsächlich etwas zugunsten der Bevölkerung verändert.

Die meisten relevanten Parteien sind in Wirklichkeit Wahlkampfmaschinen für bestimmte patronistisch-klientelistische Netzwerke. Ideologien sind dabei weitestgehend irrelevant. Viele Politikerinnen und Politiker sind im Laufe ihrer Karriere mehrmals zwischen entgegengesetzten Lagern hin und her gewechselt.

Die radikal-nationalistischen Parteien hingegen haben eine Ideologie, sie haben motivierte Aktivistinnen und Aktivisten und sind im Moment wahrscheinlich die einzigen Parteien im eigentlichen Sinne. Sie bilden den am besten organisierten, am stärksten mobilisierten Teil der Zivilgesellschaft und haben die größte Straßenpräsenz. Und nach 2014 haben sie auch Mittel zur Gewaltanwendung bekommen: Sie hatten nun die Möglichkeit, bewaffnete Einheiten und ein Netzwerk von Ausbildungszentren, Sommercamps, Cafés und Zeitschriften aufzubauen.

Eine solche rechte Infrastruktur gibt es vielleicht in keinem anderen europäischen Land. Sie erinnert mehr an den Rechtsextremismus der 1930er Jahre als an die heutige rechtsextreme Politik in Europa, die sich nicht so sehr auf paramilitärische Gewalt stützt, sondern sich eher darauf konzentriert, einen recht breiten Teil der Wählerschaft zu gewinnen.

Welche Aspekte der Euromaidan-Revolution von 2014 wurden im Westen missverstandenen oder gar nicht erst wahrgenommen?

Im Westen dominiert das Narrativ der professionellen NGOs. Diese waren ein wichtiger Teil des Aufstands von 2014. Aber sie repräsentierten definitiv nicht dessen gesamte Bandbreite und erst recht nicht die Vielfalt dieses großen Landes. Ihrem Narrativ zufolge handelte es sich um eine demokratische, friedliche Revolution gegen die autoritäre Regierung von Viktor Janukowitsch. Dieser gehört nebenbei bemerkt zu der wahrscheinlich kleinen Zahl von Herrschern in der Geschichte, die gleich zwei mal durch Revolutionen gestürzt wurden.

Die westlichen Medien und Regierungen haben dieses Narrativ der professionellen NGOs aufgegriffen – zum Teil weil es das besagte, was sie hören wollten. Auch haben westliche Politikerinnen und Politiker die Maidan-Revolution offen unterstützt. Zur selben Zeit, als in Griechenland EU-Flaggen verbrannt wurden, schwenkten die Menschen in der Ukraine eben diese Fahnen – für die EU war das damals inspirierend.

Die Angst vor radikalen Nationalisten gab Anlass zu den Anti-Maidan-Protesten in den südöstlichen Teilen der Ukraine. Russland beschloss, diese materiell zu unterstützen und in einem entscheidenden Moment militärisch einzugreifen, um die Niederlage der separatistischen Rebellen in der Region zu verhindern. Das hat dazu geführt, dass ein Teil des Donbass, eine stark industrialisierte und urbanisierte Region in der Ostukraine, nun von sogenannten Volksrepubliken kontrolliert wird, die mehr oder weniger als russische Marionettenstaaten zu betrachten sind.

Was sind Deine Hoffnungen bezüglich dieser Krise?

Ich hoffe auf eine friedliche Lösung. Wir alle müssen hoffen, dass Russland keine dumme Invasion startet und den Konflikt im Donbass und darüber hinaus nicht eskaliert.

Jeder Fortschritt bei der Umsetzung des Minsker Abkommens – das vorsieht, die prorussischen Separatistengebiete wieder in die Ukraine zu integrieren – würde sicherlich dabei helfen, die Lage zu deeskalieren. Auch wenn die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer mit dem Minsker Abkommen unzufrieden sind – nicht weil sie es generell inakzeptabel finden, sondern weil es sich seit 2015 als unwirksam erwiesen hat –, waren die tatsächlichen Proteste dagegen recht klein und wurden nicht wirklich von der Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung unterstützt.

Doch bislang akzeptiert die Ukraine das Minskaer Abkommen nicht und sucht nach Ausreden, um die Vereinbarungen mit Frankreich, Deutschland und Russland nicht umzusetzen. Ein Grund dafür sind die expliziten Gewaltandrohungen der nationalistischen Zivilgesellschaft, die das Abkommen als eine Kapitulation der Ukraine ansehen. Für sie bedeutet es die Anerkennung der politischen Vielfalt der Ukraine – das Eingeständnis, dass Ukrainerinnen und Ukrainer, die anderer Auffassung sind als sie, nicht einfach von der russischen Propaganda zombifiziert und ebensowenig Landesverräter sind; dass sie eine andere Vorstellung von der Ukraine haben und rationale Gründe, dem nationalistischen Narrativ zu widersprechen.

Wenn es der ukrainischen Regierung mit der Umsetzung des Minsker Abkommens ernst wäre und sie aufhören würde, sich mit Verweis auf die Drohungen der Nationalisten rauszureden, könnte sie den Westen um Hilfe bitten – um eine konsolidierte Position der USA und der EU zur raschen Umsetzung der Vereinbarungen. Das würde es der Regierung sicherlich erleichtern und den nationalistischen Teil der Zivilgesellschaft demotivieren – insbesondere jene Organisationen, die direkt von der finanziellen Hilfe des Westens abhängig sind.

Quelle: jacobin.de… vom 18. Februar 2022

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