Schweiz
International
Geschichte und Theorie
Debatte
Kampagnen
Home » Debatte

Warum ist die Ukraine das ärmste europäische Land?

Eingereicht on 15. November 2022 – 9:12

Florian Rötzer. Eigentlich sind die Lebenshaltungskosten niedrig, aber weil das Einkommensniveau so gering ist, muss in der Ukraine mehr für Lebensmittel und Waren ausgegeben werden als in anderen Ländern. Mit dem Krieg sinken die  Realeinkommen und die Kaufkraft weiter.

Die Ukraine ist ein armes Land, es ist das ärmste Land Europas. Die Ukraine war schon vor dem Krieg hoch verschuldet, jetzt benötigt sie monatlich 5 Milliarden Dollar, um die staatlichen Strukturen zu erhalten, während das BIP und die Währung eingebrochen und Arbeitslosigkeit und Inflation angestiegen sind. Die russischen Angriffe auf die Energieinfrastruktur verschärfen die Wirtschaftsprobleme. Auch nach Beendigung des Kriegs  wird das Land nicht nur auf Wiederaufbauhilfe angewiesen sein, sondern ein verschuldetes, vom Ausland abhängiges und zu Privatisierungen gezwungenes Billiglohnland bleiben.

Gerade erst wieder „druckte“ die Notenbank wieder 15 Milliarden UAH, seit Beginn des Krieges sind es 249 Milliarden, um damit Staatsanleihen zu kaufen, die niemand sonst haben will. Damit wird das Haushaltsdefizit ausgeglichen, Zahlungen für Staatsschulden geleistet oder staatliche Ausgaben finanziert. Am 23. November muss das Finanzministerium 15 Milliarden UAH an Staatsanleihen zurückzahlen, weswegen man wohl dieselbe Summe an Geld ins Spiel gebracht hat. Das wird die Währung weiter unter Druck setzen und die Inflation – über 25% –  in die Höhe treiben. Staatsanleihen werden derzeit mit einem Zinssatz von 18,5% angeboten, aber das ist Anlegern wegen des hohen Risikos zu gering.

Sollte das Land in die EU aufgenommen werden, werden die meisten Länder, die jetzt als Nettoempfänger wie Polen, Kroatien, Ungarn, Tschechien oder Rumänien Gelder erhalten, ebenfalls zu Nettozahlern werden. Jetzt schon bröckelt die Solidarität mit der Ukraine in den Geberländern, die dadurch mit wachsender Verschuldung und erhöhten Preisen belastet werden – nach ihren Regierungen noch für längere Zeit.

Der Mindestlohn wurde am 1. Oktober um 200 auf 6700 UAH angehoben, was 176 Euro entspricht. Allerdings wird auch dieses Einkommen besteuert, faktisch erhalten Ukrainer 19,5% weniger, also 142 Euro. Die Mindestrente wurde entsprechend auf 2600 UAH  (68 Euro) „erhöht“. Das ändert aber nichts daran, dass das Einkommen der Ukrainer weit geringer ist als in der EU. Robota.ua hat einmal untersucht, wie sich dies hinsichtlich des Konsums darstellt. Ausgangspunkt war die innerukrainische Ansicht, dass in Europa alles teurer als in der Ukraine ist. Reporter von Robota.ua haben Supermärkte besucht und eine Übersicht erstellt, wie viel ein Einkaufskorb in der Ukraine und in Europa kostet. Verglichen wurden die Preise ab Oktober mit einem Wechselkurs von 40 UAH für einen Euro.

Günstig kommen die Ukrainer danach weg, wenn sie Zutaten für das Nationalgericht Borschtsch kaufen. Das kostet in der Ukraine 7,56 Euro, während man in Polen 9,50,  in Deutschland 15 und in Frankreich sogar 16 Euro hinlegen muss. Aber der Schein trügt. Vergleicht man nämlich den Anteil am Mindestbruttoeinkommen müssen die Ukrainer 4,7 % des Mindestbruttoeinkommens in der Ukraine ausgeben, während es in Deutschland 0,7 % und in Frankreich 1 % sind.

Ähnlich ist es beim Kauf eines Obstkorbs, der in der Ukraine 9 Euro kostet, in Polen fast ebenso viel, in der Tschechoslowakei 10 Euro, aber in Frankreich 13,2 oder in Deutschland 13,6 Euro. Der Anteil am Mindestbruttogehalt hingegen liegt in der Ukraine bei 5,5%, in Polen bei 1,5%, in Deutschland bei nur 0,7% und in Frankreich bei 0,8%. Bei Fleisch, Eiern und Milch müssen die Ukrainer absolut am wenigsten mit 11 Euro ausgeben, in Polen kostet der Korb 15 Euro, in Deutschland sowie in Italien um die 22,7 Euro, in Frankreich sogar 25 Euro. Aber auch hier ist der Anteil am Mindestbruttoeinkommen mit 6,5% in der Ukraine am höchsten.

Für Ausländer, die in die Ukraine fahren, wäre das Leben billig, weil die Produkte deutlich billiger als in den EU-Ländern sind. Aber weil etwa Franzosen oder Deutsche das Zehnfache eines Ukrainers verdienen, gemessen am Mindesteinkommen, müssen die Ukrainer mehr für Lebensmittel ausgeben. Mit der hohen Inflation sinken das Realeinkommen und die Kaufkraft weiter. Die Arbeitslosigkeit wurde im Sommer auf 35% geschätzt. 2,6 Millionen Arbeitslose soll es geben.

Aber die Zahlen sind alles andere als verlässlich. Viele Männer melden sich nicht als arbeitslos, um nicht eingezogen zu werden. Völlig unklar ist schon die Bevölkerungszahl. 43 Millionen sollen noch in der Ukraine leben, 1991 waren es noch 55 Millionen. Die Fertilitätsrate ist niedrig, geringer als die in Deutschland oder Russland. Die Abwanderung war mithin schon vor dem Krieg groß, 8 Millionen sollen in Europa gearbeitet haben. Millionen sind aus dem Armenhaus nach Polen und nach Russland ausgewandert. Mit Kriegsbeginn sind mehr als 7 Millionen ins Ausland geflohen.  Mit der Abwanderung und der geringen Fertilität wächst der Anteil der Alten an der Bevölkerung, was die Misere weiter verstärkt, die auch insofern durch den Krieg beschleunigt wird, weil viele Männer im erwerbsfähigen Alter sterben oder schwer verletzt werden.

Die ukrainische Regierung plant, Arbeitslose zum Mindestlohn zu „nützlichen“ Arbeiten heranzuziehen: Gräben ausheben, Feuerholz hacken, Lasten abladen, Straßen säubern … Das wird die Einkommenssituation nicht verbessern, sondern nur das Einkommensniveau weiter absenken.

Quelle: overton-magazin.de… vom 15. November 2022

Tags: , , , , ,