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Heimatfront: Endlich wieder Krieg!

Eingereicht on 28. November 2022 – 10:08

Thomas Moser. Endlich bekommen tote deutsche Soldaten wieder einen Sinn! Wie das Töten zwischen Russland und Ukraine in Deutschland genutzt wird, um Wehrmachtsoldaten und Faschismus-Opfer gleichzustellen – Dem Corona-Nationalismus folgt der Kriegs-Nationalismus.

Der Krieg ist zurück in den Köpfen, im Denken, in Sichtweisen, in einer alternativlosen allumfassenden Logik, als anzustrebender Normalzustand. Für den Krieg ist man bereit, Opfer zu bringen und Kritiker wie Feinde zu behandeln. Der Krieg okkupiert selbst den Begriff „Frieden“, neudeutsch Aneignung genannt. Wer Frieden wolle, müsse Krieg führen. Dabei verfolgt Krieg noch ganz andere Zwecke: zum Beispiel Nationalismus. Krieg als das ultimative Mittel innerer Herrschaft. Die Verfügungsgewalt eines Systems über das Individuum.

Vor kurzem habe ich eine Radiosendung im SWR gehört, in der es um Kriegsgräber und ihre Pflege ging und um einen Mann, der sich da engagiert. Eine Stunde lang wurde darüber geredet, ruhig und zivil, wie im Kulturprogramm so üblich. Das suggeriert Normalität. Eine Sendung wie vor 60 oder 70 Jahren. Noch vor einem Jahr hätte es eine solche Sendung wohl nicht gegeben. Der Krieg ist fast 80 Jahre her. Jetzt hat man ihn zurückgeholt, mit allen unterstützenden Begleiterscheinungen. Dazu zählt Kriegsfolklore, die sich auf leisen Sohlen in den Alltag schleicht und schier unmerklich an einer Heimatfront bastelt.

Im Monat November gibt es immer ein paar seltsame Feiertage. Den „Volkstrauertag“ und eine Woche danach den „Totensonntag“. Stichworte für Erzählungen aus vergangenen, dunklen Zeiten. Jetzt erfahren sie eine Art Remix.

Volkstrauertag 2022. Zunächst der Plot und der Bericht dazu in der Stuttgarter Zeitung: „Vorabend des Volkstrauertages – Hauptfriedhof Bad Cannstatt – Fackelschein – feierliche Atmosphäre – Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewalt – 800 Namen erinnern an die Bombenangriffe.“

Dann das Personal: „Der Oberbürgermeister von Stuttgart – der Staatssekretär im Innenministerium –  der Kommandeur des Landeskommandos Baden-Württemberg –  ein Commander der US-Armee – ein Vertreter vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge – die Stadtgarde zu Pferde – das bürgerliche Schützencorps – Schülerinnen eines Gymnasiums – der Reservistenmusikzug 28 Ulm.“

Schließlich die Botschaft: „Krieg in der Ukraine – schmerzlich bewusst – wir haben zu wenig wachsam an den ewigen, mühelosen Frieden geglaubt – Volkstrauertag ist ein Friedensmahntag gegen alle Gleichgültigen und Schlafwandler.“

Am Sonntag die Fortsetzung der Inszenierung: „Zentrale Gedenkveranstaltung im Neuen Schloss – Für Opfer von Gewalt, Krieg und Verfolgung – Sowie Versammlung auf dem Stauffenbergplatz vor dem Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus – Kranzniederlegung und Gebete.“

Das Personal am Sonntag: „Der Ministerpräsident – Vertreter der Bundeswehr – Schüler eines Gymnasiums – der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes – der Rat der Religionen mit Vertretern des Islam, der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden-Württemberg, dem evangelischen und katholischen Christentum, der Bah’ai, der Eziden – der Stuttgarter Ordnungsbürgermeister.“

Und die Botschaft: „Aufruf zum Frieden – Friedensarbeit wichtig – auf den Schlachtfeldern der Ukraine geht es auch um uns – Angriff auf die Ukraine sei Angriff auf die gesamte freie Welt – größte Gefahr geht vom Vergessen aus – Gräber der deutschen Soldaten der beiden Weltkriege in ganz Europa sind zu Orten des Friedens geworden – 2,8 Millionen deutsche Kriegstote in 46 Staaten – dass Europa kein Kontinent des Krieges mehr sei, könne man heute nicht mehr unterschreiben.“

Was ist das eigentlich für ein Krieg?

Soweit das Stück und sein Drehbuch, das so ähnlich an vielen Orten in ganz Deutschland zur Aufführung kam. Eine Kultur des Krieges, zu der einem so Einiges einfällt. Zum Beispiel, warum deutsch-russische Städtepartnerschaften gerade dann ausgesetzt werden, wenn man sie am dringendsten bräuchte? Sie waren doch aus Friedensgründen geschlossen worden. Wie passt ihre Annullierung mit dem Reklamieren von Friedensarbeit zusammen? Oder: Was suchen deutsche Soldaten im Ausland? In so vielen Staaten, darunter auch der Ukraine, die damals Teil der Sowjetunion war? Wünscht man sie sich etwa wieder dort? Vor allem aber springt einen die Frage an: Wie kann man den Opfern deutscher Täter gedenken und zugleich diesen Tätern? Was für eine grandiose Verharmlosung des Nationalsozialismus und Relativierung des Holocaust.

Von Gegendemonstranten gegen diese Friedensheuchelei wird nicht berichtet. Es gab an jenem Wochenende zwar welche, doch die zogen es vor, der AfD die Ehre zu geben, die auf dem Stuttgarter Rathausplatz eine Kundgebung zum Ukraine-Krieg abhielt. Die Polizei trennte die Lager durch Wasserwerfer. Wasserwerfer im November? Zum Einsatz kamen sie nicht, wie vor zwei Jahren bei Corona-Auseinandersetzungen. Maßnahmen-Befürworter haben damals applaudiert, haben sie herbeiapplaudiert. Heute stört sich niemand mehr daran. Die Stuttgarter Zeitung jedenfalls nicht. Für sie sind die Leidtragenden dieser Demos die Geschäftsleute und ihr Käuferklientel.

Anlass für die heiligen Veranstaltungen am Volkstrauertag mit Uniformen, Orden, Fackeln, Trommeln, Kränzen und Klimbim ist natürlich der Krieg in der Ukraine. Eine Demonstration: Putins Krieg ist auch Deutschlands Krieg, der zum Krieg aller gemacht werden soll. Und der Kriegs-Nationalismus schafft sich eine Heimatfront. Noch gibt es keine frischen deutschen Gräber, aber das könnte ja noch kommen. Noch dürfen derzeit hauptsächlich Ukrainer sterben, noch herrscht vor allem das Motto: „Wir liefern die Waffen, Ihr liefert die Toten.“

Doch bevor es soweit ist, haben wir noch ein paar Fragen: Was ist das eigentlich für ein Krieg? Man wehrt sich gegen den „Kriegsverbrecher Putin“ und tut das mit Kriegsverbrechern in den eigenen Reihen. Stichworte: Irak oder Afghanistan, wo die Nato inklusive der Bundeswehr in 20 Kriegsjahren für Hunderttausende von getöteten Zivilisten verantwortlich ist. Man unterstützt in der Ukraine den Kampf gegen den „Aggressor Russland“ und in Mali kämpft die Bundeswehr zur gleichen Zeit Seite an Seite mit russischen Streitkräften, um eine Putschregierung zu stützen. Der „Terrorist“ auf der Gegenseite zerstört ukrainische Kraftwerke und Krankenhäuser, die Terroristen auf der eigenen Seite zerstören – mutmaßlich – eigene Gasleitungen. Mit der ukrainischen Stasi geht es gegen die russische Stasi, die beide dieselbe Vergangenheit haben. Während die Normal-Ukrainer, die Armen, Mittel- und Lobbylosen, das Land nicht verlassen dürfen, mitunter aufgegriffen und an die Front verschleppt werden, wo sie ihr Leben hergeben müssen, können sich die Söhne und Männer aus gutem ukrainischen Hause für 4- oder 5000 Euro vom Kriegsdienst freikaufen und ungehindert die Grenze ins sichere Ausland passieren.

Die eigentliche Nachricht ist deshalb: Man schämt sich in Deutschland nicht einmal mehr über diese Widersprüche, denn der Krieg wird gebraucht, vor allem aus innenpolitischen Gründen. Die so hochgehaltene Demokratie ist in Wahrheit nervend und störend. Ewige Kritik, Bedenken, Beschwerden, Einsprüche, Opposition. Doch Demokratie ist ein wichtiges Mittel für Politik, zum Beispiel die Voraussetzung für den Aufbau des Sozialstaats. Wer den Sozialstaat abbauen möchte, muss die Demokratie abschaffen. Beides ist derzeit im Gange.

Der deutsche Krieg ist nicht 80 Jahre her, es gibt ihn seit langem, jedoch verschämt, eher heimlich und irgend wo weit weg. Er war nicht im eigenen Land, sondern zum Beispiel in Afghanistan, einem der ärmsten Länder der Welt. Auch wenn dort angeblich Deutschlands Freiheit verteidigt wurde, so wie jetzt in der Ukraine, mochte sich keine Heimatfront einstellen. Der Krieg konnte in der Heimat der Soldaten nicht so richtig überzeugen, vielleicht wegen der vielen zivilen Toten.

Im Bundestag wurde ein Untersuchungsausschuss zu Afghanistan eingerichtet. Aber nicht zum Krieg dort, sondern nur zu den Abzugs- , besser: Fluchtumständen im August 2021. Um die 20 Jahre lange tödliche Anwesenheit der Bundeswehr in dem Land am Hindukusch, inklusive deutscher Kriegsverbrechen, soll sich kein unbequemer Untersuchungsausschuss kümmern, sondern nur eine zahnlose Enquêtekommission. Das ist auch ein Statement.

Mit dem Ukraine-Krieg und der deutschen Beteiligung hat man endlich neue Regeln, zum Beispiel eine Scham- und Rücksichtlosigkeit, die man braucht, wenn man Krieg zu einer guten Sache erklären will.

#Bild:  „Unseren Helden“. Kriegerdenkmal in Herdecke für die Gefallenen des 1. Weltkriegs und die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Am Volkstrauertag 2022 frisch geschmückt mit Kränzen der Kommune sowie von SPD (rote Schleife) und CDU (weiße Schleife). Bild: Im Fokus/CC BY-SA-4.0

Quelle: overton-magazin.de… vom 28. November 2022

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