Schweiz
International
Geschichte und Theorie
Debatte
Kampagnen
Home » Debatte, Geschichte und Theorie, International

Sieger und Besiegte

Eingereicht on 12. Mai 2023 – 10:35

Eva C. Schweitzer. Die Siegesparade der russischen Armee marschiert über den Roten Platz; in diesem Jahr in Kleinausgabe, und die deutsche Linke rätselt immer noch, ob sie 1945 befreit oder besetzt wurde. Und von wem.

Auch in Amerika denkt man darüber nach, wenngleich sich dort das Nachdenken meistenteils auf Intellektuelle und Neokonservative beschränkt. Dieses Jahr ist das Nachdenken ganz besonders kompliziert, denn die Ukraine wurde offensichtlich 1945 nicht mitbefreit, sonst würde es da gerade keinen Aufstand gegen Russland geben.

Aber wurde 1945 denn Österreich befreit, das Baltikum, Polen, die Tschechoslowakei und überhaupt Osteuropa? Frankreich? Spanien? Italien? Waren das nicht unsere Co-Faschisten? Das sind wichtige Fragen, die noch heute der Klärung hoffen und eigentlich noch nie wissenschaftlich angefasst wurden.

Befreite und andere erzählerische Freiheiten

Nach der noch heute in den USA populären Saga war Österreich das erste Opfer der Nazis. Die Bilder der Wiener Bevölkerung, die jubelnd an der Straße stand, als Hitler einzog, gehören in Amerika nicht zum kollektiven Gedächtnis. Statt dessen halten viele Amerikaner die Österreicher für jodelnde, sepplhosentragende, klampfende, alpenkletternde, bierkrugschwenkende und edelweißpflückende Anti-Nazi-Kämpfer wie im Kitschmusical The Sound of Music (deutscher Titel: Meine Lieder, meine Träume).

Ähnlich Frankreich. Amerika hat die fixe Idee, dass es in Frankreich im Zweiten Weltkrieg so zuging wie in Casablanca, wo ein schlitzohriger Polizist unpolitische Widerstandskämpfer laufen lässt und rehäugige Mädchen dieselben anschmachten. Auch im französischen Glauben wächst die Größe der Resistance ständig, während es vergessen ist, dass mindestens die Hälfte der Bevölkerung hinter Vichy stand und stramm antikommunistisch und antisemitisch war, besonders auf dem Land.

Und Italien? Ein nicht unerheblicher Teil der Amerikaner glaubt, dass sie im Zweiten Weltkrieg zusammen mit Italien gegen die Sowjetunion gekämpft haben und dass Italien aus dem Krieg aus Sieger hervorgegangen ist. Ein Flügel der Neocons vertrat im Irakkrieg ernsthaft die Ansicht, Mussolini sei ein Linker gewesen.

Polen? Polen war tatsächlich ein von Deutschland und der Sowjetunion überfallenes Opfer, kein Zweifel, und übrigens auch der eigentliche Grund, weshalb Frankreich und England dem Dritten Reich im September 1939 den Krieg erklärt hatten (wobei die Befreiung der Tschechoslowakei auch auf der Agenda stand).

Befreiung war kein Kriegsziel

Fünf Jahre später trafen sich Stalin, Roosevelt und Churchill in Yalta und teilten die Welt neu auf. Die Befreiung von Polen oder der Tschechoslowakei stand da schon lange nicht mehr auf der Tagesordnung. Bei der Konferenz von Potsdam wurde die polnische Delegation mehr oder weniger abgebürstet. Finnland geriet nur deshalb nicht unter den Eisernen Vorhang, weil es sich selbst verteidigen konnte. Die Ukraine stand damals gar nicht zu Debatte, die war schon den Versailler Vertrag zum Opfer gefallen.

Und wurde Deutschland befreit? George Smith Patton, General der US Army im Zweiten Weltkrieg sah das nicht so. Er wollte damals mit den letzten Resten der Wehrmacht auf Moskau marschieren und die Sowjets erledigen. So hätte er sich eine echte Befreiung vorgestellt.

Das war natürlich eine irre Idee, zumal der Großteil der deutschen Soldaten ohnehin tot oder in Kriegsgefangenschaft waren und es in Amerika absolut unvermittelbar gewesen wäre, schon wieder die Leben von amerikanischen Soldaten zu opfern, um ein Land zu besiegen, das gerade noch ein Bruderstaat gewesen war. Aber so tickten manche Amerikaner damals, vor allem Konservative.

Hätte irgendjemand 1944 oder 1945 in den USA (oder England) behauptet, Ziel des Krieges sei, die Deutschen von den Nazis zu befreien, dann wären die Männer mit den weißen Turnschuhen gekommen. Und das änderte sich nicht so bald.

In den ersten Nachkriegsjahren waren es allenfalls die Sowjets, die nicht nur ihre Bruderstaaten in Osteuropa befreit haben wollten, sondern auch die deutschen Linken in der DDR. Natürlich nur in der ideologischen Vorstellung, nicht in der Wirklichkeit. Schon kurz nach Kriegsende wurden in neuerlichen stalinistischen Säuberungen treue Parteimitglieder beseitigt, vor allen in der Tschechoslowakei.

Die ersten Besatzungsjahre: Keine Befreiung

An Befreiung zu denken, war aber für Amerikaner fremd und für Engländer unvorstellbar – die hatten ja bereits den deutschen Widerstand als Störfaktor abgebürstet. Und wie die Franzosen dazu kommen, sich als Befreier danken zu lassen, ist mir ein völliges Rätsel. Die haben nicht einmal sich selber befreit und sind zwei Monate nach Kriegsende in Berlin aufgekreuzt, ohne einen Schuss abzufeuern. Das einzige, was die Franzosen befreit haben, waren ihre eigenen Vichy-Offiziellen und Kollaborateure in den Gefängnissen durch eine Generalamnestie, die Charles De Gaulle erließ und die sogar Marschall Philippe Petain umfasste.

Die ersten Besatzungsjahre in Deutschland ließen niemanden an Befreiung denken, nicht einmal Nazigegner. Ein bis zwei Millionen Tote forderte die Nachkriegszeit, gestorben an Hunger und Kälte. Die Säuglingssterblichkeit lag bei 50 Prozent. Ich lese gerade in den Erinnerungen von Mary Tucholsky, die (geschiedene) Witwe von Kurt Tucholsky, die den Krieg in Berlin überlebt, dabei jüdische Freunde geschützt hat, und große Hoffnungen auf die Alliierten setzte.

Schon nach wenigen Monaten war sie völlig desillusioniert. Es herrsche nur Chaos und sinnlose Bürokratie, schreibt sie; die Alliierten behinderten sich gegenseitig und erließen eine Flut von Vorschriften, statt dafür zu sorgen, dass die Bevölkerung nicht hungere oder wenigstens zu arbeiten in der Lage wäre. Von Befreiung keine Spur.

Deutsche mussten Telefonapparate abgeben und durften rechtlich nicht gegen plündernde oder vergewaltigende Soldaten vorgehen. GIs waren angehalten, Lebensmittel, die sie nicht aßen, vor dem Wegwerfen zu vergiften. Privatleuten in Amerika war es zunächst verboten, Pakete an deutsche Verwandte zu schicken.

Richard von Weizsäcker: Der Befreier

Das galt auch für die Verwandten von überlebenden deutschen Juden, die keinesfalls besser versorgt wurden als Nicht-Juden. Und auch denen war es verwehrt, nach Amerika zu reisen. Auch Dollars besitzen durften die genauso wenig wie alle anderen. Die Homosexuellen wurden zwar aus den KZs befreit, aber Schwulsein war unter US-Besatzung weiterhin strafbar, und für Roma und Sinti interessierte sich bei den Alliierten keiner.

Kommunisten wurden in den Westzonen rascher zu Staatsfeinden als sich ein amerikanischer Trotzkist zum Ronald-Reagan-Anhänger wandeln kann. Als Bert Brecht fluchtartig die USA verließ, verbot ihm Amerika, westdeutschen Boden zu betreten. Er musste über die Schweiz nach Ostberlin reisen.

Die Saga von der Befreiung auch der Deutschen entstand erst viel später. Sie geht auf den damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zurück, der erst 1985 erstmals davon sprach. Sie kommt aus dem Dunstkreis der Transatlantiker, deren Agenda sie komplementiert; die Wurzeln aber reichen bis zur Berlin-Blockade und der Luftbrücke von 1948, als sich Amerika gegen die Sowjetunion wendete und Deutschland als Verbündeten brauchte.

Das Befreiungsnarrativ war für die Transatlantiker wichtig, um das Bündnis zu festigen und in der Konkurrenz zur Sowjetunion zu bestehen. Deren Besatzung war zwar harscher als die der Westmächte, aber die „Mutter der Völker“ konnte ihren Unterlingen wenigstens das Gefühl vermitteln, auf der Siegerseite zu stehen.

Die Amerikaner zogen nach, schon weil es ihrem Selbstbild entspricht, sich als „good guys“ zu sehen. Seit dem Zweiten Weltkrieg gerierten sich die Amerikaner überall als Befreier; Vietnam, El Salvador, Irak. Sehr glaubwürdig war das nie, und es bespielt eigentlich auch mehr die heimische Front. Aber die deutsche Befreiung hat in diesem Kontext ihren festen Platz, die Taten des „Blob“, des militärisch-industriellen Komplexes zu legitimieren.

Deutsche Außenpolitik nach geostrategischen Interessen ausrichten?

In neuerer Zeit – allerdings eher vor dem Ukrainekrieg – wird das Narrativ der Befreiung Deutschlands wieder in Frage gestellt; von linken Intellektuellen allerdings (die Transatlantiker sind ja im Grunde Konservative und waren in den USA eher den Republikanern verbunden, bevor die mit Newt Gingrich durchgeknallt sind). Deutschland, so die Logik, dürfe sich nicht als befreit betrachten, denn das würde die Tatsache verschleiern, dass fast alle Deutschen Nazis waren. Und die wurden nicht befreit, sondern besiegt.

Und die Österreicher? Die Franzosen? Aber in der Sache ist das richtig. Zwar  waren nicht alle Deutsche Nazis – Hitler kam bei der letzten legitimen Wahl auf weniger Wählerprozente als Donald Trump. Aber dass Deutschland besiegt und besetzt wurde, ist eine historisch unumstrittene Tatsache.

Als besetzt betrachten darf sich Deutschland allerdings auch nicht, denn sowas, so die gleichen Logiker, behaupteten vornehmlich Neonazis. Man ist also in jedem Fall ein Nazi, ob man nun glaubt, dass Deutschland befreit oder besetzt wurde. Ein Catch 22, wie der Amerikaner sagt. Aber vielleicht sind wir ja weder befreit noch besetzt? Aber warum ist dann Ramstein die Drehscheibe der US-Army in den Mittleren Osten? Und wofür sollten wir da mittelfristig überhaupt dankbar sein?

Die Debatte wird nicht nur in Deutschland geführt. Gerne winken amerikanische Außenpolitiker mit dem Befreiungszaunpfahl und hätten immer schon gerne deutsche Unterstützung bei ihren anderen Befreiungsaktionen von Vietnam bis Irak gehabt. So halbwegs geklappt hat das allenfalls in Bosnien. Nun aber herrscht Krieg in der Ukraine, ein Krieg, der noch sehr gefährlich werden kann, und da sollte Deutschland – ich verfolge nur die linke Logik weiter – aus Dankbarkeit für die Befreiung durch die sowjetisch-amerikanische Allianz von 1945 nun auch die Ukrainer befreien, die damals schon Stalin gerne losgeworden wären (mit Recht).

Ich kann mir gar nicht so viele Kringel in die Gedanken drehen wie nötig wäre, diese Logik zu verstehen. Also, nur so eine Idee, aber wie wäre es, wenn Deutschland seine Außenpolitik, und dazu gehören Waffenlieferungen an kriegsführende Parteien, ausschließlich nach seinen geostrategischen Interessen ausrichtet und nicht nach Ideologien von linken Meinungsführern, die vornehmlich mit Vergangenheitsbewältigung beschäftigt sind? Das wäre wirklich befreiend. Und auch echt transatlantisch, denn Amerika macht das genauso.

Quelle: overton-magazin.de… vom 12. Mai 2023

Tags: , , , , , , , , , , , , , ,