„Der Konsequenteste aller Kriegshasser“
Peter Bürger. Der Russe Leo N. Tolstoi (1828-1910) warnte vor einem Zug in den Abgrund – und teilte nicht die Illusionen der bürgerlichen Friedensbewegung.
Mit Blick auf den Anbruch des 20. Jahrhunderts vermerkt Viktor Schklowski über Leo N. Tolstoi (1828-1910): „In vielem … begriff Tolstoi mehr als andere Leute. Er schrieb, es würde zu Kriegen von derartiger Gewalt kommen, dass sie den Untergang von 99 Prozent der Erdbevölkerung bewirken könnten, selbst das aber könne den Wahn der Reichen nicht eindämmen. … Das neue Jahrhundert setzte mit Kriegen ein. Man kämpfte auf den Philippinen und im Transvaal. Es waren Kriege von neuartiger Abscheulichkeit. Tolstoi sagte: ‚Kriege der Amerikaner und Engländer innerhalb einer Welt, in der schon Gymnasiasten den Krieg verurteilen, sind entsetzlich‘.“
Bei einem Besuch von Maxim Gorki (Alexej Maximowitsch Peschkow) am 13. Januar 1900 meinte Tolstoi „sich selbst ironisierend, er freue sich unwillkürlich über die Siege der Buren, wenn er auch wisse, dass es Sünde sei: sowohl die Buren als auch die Engländer begingen jenen Massenmord, den sie als Krieg bezeichneten.“ (Schklowski: Leo Tolstoi. Berlin 1984.)
Tolstoi nennt in einem Brief zu den Kämpfen im Transvaal vom Dezember 1899 drei Hauptursachen für Kriege: „Erstens: die ungleiche Verteilung des Besitzes, das heißt: die Beraubung eines Menschen durch die anderen. Zweitens: die Existenz eines Soldatenstandes, das heißt: solcher Menschen, die für den Mord erzogen und bestimmt werden. Drittens: die falsche und meist bewusst betrügerische religiöse Lehre, in der die Jugend zwangsweise erzogen wird. … Es wird solange Kriege geben, wie wir die Entstellung des Christentums predigen oder ohne sittliche Empörung und Widerwillen dulden werden.“
Ein Tagebucheintrag vom 27. Dezember 1905 zeigt, wie dringlich Tolstoi ein Jahrzehnt vor den Massenschlachten des Ersten Weltkrieges seine Warnungen verstanden wissen wollte: „Ich bin wie jener Mann auf dem Tender eines in den Abgrund rasenden Zuges, der entsetzt erkennt, er vermag den Zug nicht zum Stehen zu bringen. Die Fahrgäste hingegen entsetzten sich erst, als die Katastrophe geschehen war.“
Die Differenz zur bürgerlichen Friedensbewegung
Der Kampf gegen Todesstrafe und Krieg gehört zu den zentralen Schauplätzen des letzten Lebensjahrzehnts. „Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ist Tolstoj ein geistiges Kraftzentrum mit kolossalem Ansehen. Es war fast unmöglich, über Lebensprobleme zu diskutieren, ohne zu seiner Ansicht Stellung zu nehmen. … Aus der ganzen Welt – nicht zuletzt aus Asien und Amerika – trafen bei dem Propheten in Jasnaja Poljana Grüße begeisterter Anhänger ein.“ (Geir Kjetsaa: Lew Tolstoj. Gernsbach 2001). Ihn erreichten Zuschriften aus vielen Ländern des Erdkreises in 26 Sprachen.
Zwei Briefe Tolstois an Bertha von Suttner vom Oktober 1891 und vom August 1901 lassen – trotz des warmherzigen Tones – unschwer eine Differenz zum bürgerlichen Pazifismus erkennen. Tolstoi setzt wenig Vertrauen in Friedensgesellschaften, Konferenzen und Neuerungen des Internationalen Rechts. Er erhoffte sich ein Ende der Kriegsapparatur nicht durch staatstragende Aktivitäten, sondern aufgrund der Verweigerung des Tötens von unten.
Selbst da, wo es um den unbestrittenen literarischen Ruhm ging, wollte das Bürgertum dem russischen Kritiker der Staatsdoktrin kein öffentliches Forum verschaffen: „Dass Tolstoi 1902 den Nobelpreis für Literatur nicht erhalten hat, erscheint heute mehr als verwunderlich. … Nirgends steht geschrieben, der Preis könne nur nach Einwilligung des Kandidaten verliehen werden. Ausschlaggebend war dagegen, dass die schwedische Akademie Tolstoi … als zu anarchistisch … betrachtete und dass er deshalb den Preis nicht verdiene. Der Einfluss … auf die gesellschaftliche Entwicklung war in den Augen der Akademie eher negativ als positiv. Weshalb sollte man die gute Gesellschaft provozieren, indem man einen so umstrittenen Schriftsteller bedachte?“ (Geir Kjetsaa)
Tolstoi bezeichnete die Regierung, mit welcher die Friedensgesellschaften gleichsam Hand in Hand gehen wollten, in einem Tagebucheintrag vom 22. Januar 1904 sogar als eine „Bande von Räubern“. Diesen Gedanken wird er auch in seiner Schrift „Eines ist not“ (Edinoe na potrebu, 1905) ausführen: „Man könnte die Unterordnung eines ganzen Volkes unter wenige Leute noch rechtfertigen, wenn die Regierenden die besten Menschen wären; aber das ist nicht der Fall, war niemals der Fall und kann es nie sein.“
Für solche Kompromisslosigkeit konnte Bertha von Suttner nach Jahren voller Enttäuschung in der Friedensarbeit vielleicht doch ein wenig Verständnis aufbringen. Sie meinte 1909 in einem Brief an ihren engsten Mitstreiter: „Tolstoi ist eigentlich der Konsequenteste von allen Kriegshassern.“
Russisch-japanischer Krieg 1904-1905
Zu Beginn des Jahres 1904 zeugt ein anderer Tagebucheintrag von drängender Sorge um den Frieden: „27. Januar, Jasjana Poljana. … Der Krieg und Hunderte von Überlegungen, warum es ihn gibt, was er zu bedeuten hat, welches seine Folgen sind und dergleichen mehr. Alle reden darüber, vom Zaren bis zum letzten Trainsoldaten. Und alle müssten sich, abgesehen von den Überlegungen, was der Krieg für die ganze Welt bringt, noch Gedanken darüber machen, wie ich, ich, ich mich dem Krieg gegenüber zu verhalten habe. Doch diese Überlegung stellt niemand an. Jeder glaubt vielmehr, das brauche man nicht, es sei nicht wichtig. Man packe ihn aber einmal bei der Gurgel und drücke ihm die Luft ab, dann fühlt er, am allerwichtigsten ist für ihn sein Leben, dieses Leben seines Ich. Und wenn dieses Leben seines Ich das Allerwichtigste darstellt, dann ist er eben nicht nur Journalist, Zar, Offizier oder Soldat, sondern auch ein Mensch, der zu kurzem Verweilen in die Welt kam und sie nach dem Willen dessen, der ihn gesandt hat, wieder zu verlassen hat. Was also kann wichtiger für ihn sein als das, was er in dieser Welt zu tun hat, wichtiger ohne Zweifel als alle Überlegungen, ob der Krieg notwendig ist und wohin er führt? Und was den Krieg anlangt, so hat er offensichtlich folgendes zu tun: nicht Krieg zu führen und anderen nicht zu helfen, es zu tun, wenn er sie schon nicht zurückhalten kann.“
Im Februar 1904 begann der russisch-japanische Krieg. Er war – aus marxistischer Sicht – „das Ergebnis der rücksichtslosen Außenpolitik des Zarismus, die von einer Gruppe von Bürokraten geleitet wurde, die daran interessiert waren, den Fernen Osten zu plündern. Die zaristische Regierung provozierte einen Krieg mit Japan, ohne Zeit zu haben, ihn militärisch oder materiell vorzubereiten. Der Krieg sollte, nach dem Plan seiner Organisatoren, auch die soziale Atmosphäre in Russland entschärfen. Die blinden zaristischen Bürokraten erwarteten einen kontinuierlichen Triumph im Kampf gegen die ‚Asiaten‘. Alle Berechnungen der Selbstherrschaft erwiesen sich als falsch. Von den ersten Tagen des Krieges an fingen die russische Armee und Marine an, Niederlagen zu erleiden. Innerhalb Russlands führte der Krieg zu einer beispiellosen Verschärfung des Klassenkampfes und verursachte defätistische Gefühle nicht nur unter den Sozialdemokraten, sondern auch in manchen liberalen Kreisen. – Die Niederlage des zaristischen Russlands hat seine internationale Position stark untergraben. …“
Anlässlich des russisch-japanischen Krieges verfasste Leo N. Tolstoi seinen am 8. Mai 1904 abgeschlossenen Artikel „Besinnet Euch!“ (Odumajtesʼ!, 1904). „Der Krieg“, so referiert V. Schklowski den Inhalt, „entbrannte immer stärker, die Menschen gingen in die Schlachten wie Wanderheuschrecken, die Wasserläufe über die Leichen ihrer Ertrunkenen überqueren. Der Krieg wurde um fremdes Land geführt, um ‚Pachtland‘, um eine Konzession. Im Artikel sind Briefe eingestreut, die erzählen, wie Reservisten, zum Morden einberufen, verabschiedet werden.“
Geir Kjetsaa schreibt über die Haltung des Dichters: „Aufsehen erregend war … sein Protest angesichts des Kriegsausbruchs zwischen Russland und Japan. Wieder einmal Krieg, wieder einmal Leiden, wieder einmal diese verdummende Hurrastimmung! Keine staatliche Institution hasste er so sehr wie das Militär. Dass sein Sohn Andrej sich freiwillig gemeldet hatte, machte die Sache nicht besser. Der Schriftsteller brachte es nicht über sich, die kriegstreibenden Zeitungsberichte zu lesen. War es nicht Christus, der uns befohlen hatte, unsere Feinde zu lieben? ‚Besinnt Euch!‘ lautete sein Aufruf an alle, die sich auf den Schlachtfeldern jetzt gegenseitig umbrachten. – Einziger Trost war ihm der wachsende Widerstand des Volkes gegen diesen wahnsinnigen Krieg: ‚Der Zweifel, ob es der Wille Gottes sei, dass die Behörden uns zwingen zu töten, ist der Funke des Feuers, das Christus auf die Erde gebracht hat. Das zu wissen und zu fühlen ist eine große Freude.‘ Auf die Aufforderung einer amerikanischen Zeitung präzisierte er seine Sichtweise der Kriegshandlungen: ‚Ich bin weder für Russland noch für Japan, sondern für die Arbeiter beider Länder, die jetzt von ihren Regierungen hinters Licht geführt und gezwungen werden, gegen ihr Wohlergehen, ihr Gewissen und ihre Religion zu kämpfen.‘ … Patriotismus sei nur Egoismus, eine Zufluchtsstätte für Ganoven!“
Ernst Keuchel (Leo Tolstoi und unsere Zeit, 1926) zählt „Odumajtesʼ!“ zu jenen Texten, in den denen Leo N. Tolstois Ahnungen von einem kommenden Weltkrieg zum Ausdruck kommen: „Tolstoi hat … – unter anderem in seinen Schriften ‚Vom unvermeidlichen Umsturz‘ und ‚Besinnet euch!‘ – die europäische Katastrophe bestimmt und ziemlich genau vorausgesagt: ‚Der Abgrund‘, heißt es z.B. in der letzteren im Jahre 1904, ‚dem wir uns nähern, wird schon sichtbar und die einfachen, ungelehrten und unphilosophischen Leute sehen es, dass wir, indem wir uns immer mehr bewaffnen und im Kriege gegenseitig zu vernichten streben, wie die Spinnen in einem Glase nichts weiter tun können, als uns gegenseitig umzubringen.‘ Kurz vor seinem Tod (1910) hatte Tolstoi einen Wahrtraum, in dem er Beginn und Verlauf des Weltkrieges mit erstaunlicher Sicherheit vorausschaute! Sein Entsetzen vor dem Kriege, das ihn mitten in der tiefsten Friedenszeit (1894-1904) stets von neuem mit elementarer Gewalt packte …, zeugt davon, dass er, als wahrer geistiger Führer, sich verantwortlich für Alle fühlte und sie vor der nahenden, für ihn bereits fühlbaren, Katastrophe zu warnen für seine heilige Pflicht hielt.“
Leo N. Tolstoi hatte noch 1855 an eigenen staatstragenden Beiträgen zu einer Militärreform gearbeitet. Im nächtlichen Traumleben konnte ihm jetzt sein soldatischer Schatten vor Augen geführt werden: „Man erkennt im Traum, dass man Schwächen hat, von denen man sich sonst frei glaubt … Ich sehe mich häufig als Soldaten“ (Tagebuch, 7. März 1904).
Mit Blick auf die Ambivalenzen Tolstois 1904-1905, die nicht verschwiegen werden dürfen, führt Geir Kjetsaa aus: „Aber auch ihm sind nationalistische Stimmungen nicht fremd. Besonders ärgert ihn die schändliche Niederlage der Russen bei Port Arthur: ‚Ich war selbst Soldat, zu meiner Zeit wäre das nie passiert. Wir hätten alle unser Leben geopfert, wir hätten uns nie ergeben.‘ Man stelle sich vor, eine Stellung aufzugeben, wenn man doch noch ausreichend Munition und ein Herr von vierzigtausend Mann hat! – Er hatte gehofft, die Russen würden gewinnen, gestand er schuldbewusst beim Friedensschluss.“
„Entfachung des Patriotismus“ am „höchsten Kulminationspunkt“
Schon in seiner Schrift „Patriotismus und Regierung“ (Patriotizm i pravitelʼstvo, 1900) fragt Tolstoi, warum der „Patriotismus“ – trotz seiner Antiquiertheit in geistesgeschichtlicher Hinsicht – nicht nur nicht verschwindet, sondern „im Gegenteil … immer stärker und mächtiger“ wird. Seine Antwort:
„Es rührt dies davon her, dass die herrschenden Klassen (nicht allein die Regierungen und ihre Beamten, sondern die privilegierten Klassen überhaupt: die Kapitalisten, Journalisten, die meisten Künstler und Gelehrten) ihre privilegierte Ausnahmestellung nur dank der Staatseinrichtung, welche durch den Patriotismus erhalten wird, beibehalten können. Indem sie nun die mächtigsten Mittel in ihren Händen haben, um das Volk zu beeinflussen, pflegen sie bei sich und bei den anderen die patriotischen Gefühle unablässig, umso mehr da diese Gefühle von der Staatsgewalt am besten belohnt werden. … Hauptsächlich aber wird der Patriotismus hervorgerufen, indem man durch allerlei Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten gegen fremde Völker bei denselben Hass gegen das eigene Volk hervorruft und diesen Hass alsdann zur Erweckung von Feindseligkeiten beim eigenen Volke ausnutzt. – Die Entfachung dieses furchtbaren Gefühls des Patriotismus … erlangt gegenwärtig ihren höchsten Kulminationspunkt.“
Das Problem liege – in Russland wie in anderen Ländern – bei den Herrschenden: „Waren früher die Regierungen dazu nötig, die eigenen Völker vor Überfällen der anderen zu verteidigen, so stören jetzt die Regierungen künstlich den Frieden, der unter ihnen herrscht, und rufen zwischen den Völkern Feindseligkeiten hervor.“ Eine andere, erfreulichere Perspektive würde nur ein „Nichtvorhandensein der Regierungen“ eröffnen: „Die Befreiung vom Patriotismus und die Aufhebung des auf demselben ruhenden Regierungsdespotismus kann den Menschen nur nützen.“
Im Jahr 1908 annektierte Österreich – nach einem zuvor beim russischen Außenminister eingeholten ‚Einverständnis‘ – Gebiete von Bosnien und Herzegowina, worauf heftige Proteste des Osmanischen Reiches und Serbiens folgten. Die ‚Bosnische Annexionskrise‘ gilt als ein nicht unbedeutendes Kapitel in der Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges. Leo N. Tolstoi verfasste eine eigene, ursprünglich als ‚Brief an eine Serbin‘ konzipierte Schrift „Die Annexion Bosniens und der Herzegowina“ (O prisojedinenii Bosnii I Gerzogowiny k Awstrii, 1908): „Die österreichische Regierung hat beschlossen, die Völker Bosniens und der Herzegowina … als ihre Untertanen zu erklären, mit anderen Worten, sie nahm sich das Recht, ohne die Einwilligung dieser Völker, über die Erzeugnisse und über das Leben von einigen hunderttausend Menschen zu verfügen.“ Den Österreichischen Staat führt Tolstoi als großes Räubernest vor und ruft der Gegenseite zu, ihrerseits nun nicht mit einem „Abfall vom Bewusstsein der Einheit der ganzen Menschheit“ zu antworten: „Serben! Ihr solltet nicht zum Kriege rüsten“!
Auf weiter Strecke ist die Schrift eine Rekapitulation der älteren Aufklärungstraktate über den ‚Patriotismus‘: „Wenn man mich daher um Rat fragt, was man tun soll – ob mich nun ein Indier fragt, wie er gegen die Engländer, oder ein Serbe, wie er gegen Österreich, oder ob mich Perser und Russen fragen, wie sie gegen ihre gewalttätigen persischen und russischen Regierungen kämpfen sollen – ich kann nur das eine antworten und kann nichts anderes glauben, als dass es heil- und segensvoll für alle ist …: man soll sich mit aller Kraft vom verderblichen Aberglauben des Patriotismus und des Staates befreien und in jedem Menschen seine Menschenwürde erkennen, die keine Abweichung vom Gesetze der Liebe duldet, die nichts von Staat und von Sklaverei weiß, die keine besonderen Taten, sondern nur das Einstellen jener Handlungen fordert, welche das Böse stützen und unter welchen die Menschen leiden.“
Die nicht gehaltene „Rede gegen den Krieg“ 1909
Im Sommer 1909 wird Leo N. Tolstoi vom Organisationskomitee des 18. Friedenskongresses, der in Stockholm stattfinden soll, zu einem Vortrag eingeladen. Er antwortet mit einem Brief vom 12. Juli 1909 von Jasnaja Poljana aus: „Herr Vorsitzender, die Frage, die der Kongress zu behandeln hat, ist außerordentlich wichtig und interessiert mich schon seit vielen Jahren. Ich werde versuchen, die ehrenvolle Gelegenheit, die Sie mir durch meine Wahl geboten haben, zu nutzen, um dazulegen, was ich vor einer so auserlesenen Zuhörerschaft wie der, welche auf dem Kongress versammelt sein wird, zu dieser Frage zu sagen habe. Wenn meine Gesundheit es erlaubt, werde ich alles in meinen Kräften Stehende tun, um mich zum angegebenen Zeitpunkt in Stockholm einzufinden.“
Geir Kjetsaa scheibt zur Einladung nach Stockholm: „Seit vielen Jahren stand“ Tolstoi „mit westlichen Friedenskämpfern in Verbindung, unter anderem mit Bertha von Suttner, und jetzt wurde er sogar zu den Ehrenteilnehmern des Kongresses gewählt. Aufgrund seines großen Interesses für Frieden und Brüderlichkeit versprach der Schriftsteller zu kommen … Aufgrund des schwedischen Generalstreiks im August wurde indessen der Kongress abgesagt. Die Organisatoren haben sicher erleichtert aufgeatmet. Vielleicht hätte dieser merkwürdige Graf die Teilnehmer mit einem weiteren anarchistischen Vorstoß erschreckt? – Sein geplanter Beitrag zeigt einen kampflustigen Verfasser, der alle Pazifisten auffordert, ihre Regierungen moralisch unter Druck zu setzen. Genau wie die Kirchenväter behauptet er, der Rüstungswettstreit sei mit dem christlichen Gedankengut unvereinbar: ‚Menschen, die miteinander in Frieden leben wollen, brauchen keine Kriegsflotte. Das brauchen nur die, die plündern und töten wollen, denn Raub endet immer damit, dass Menschen sich gegenseitig das Leben nehmen‘.“
Gustav Landauer hat in deutschen Landen Tolstois Text für den geplanten Vortrag in Stockholm, der ursprünglich auch in Berlin in einer Großveranstaltung verlesen werden sollte, schon früh veröffentlicht. Die Botschaft wurde vor dem Ersten Weltkrieg und dann bis in die Spätzeit der Weimarer Republik hinein im deutschen Sprachraum vor allem von anarcho-sozialistischen Anhängern des Ideals der Gewaltfreiheit verbreitet – und zwar sehr eifrig.
Inhaltlich bietet sich an ein Vergleich der nicht gehaltenen „Rede“ mit Tolstois ein Jahrzehnt zuvor verfasster „Antwort auf den Brief einer schwedischen Gesellschaft über die Haager Konferenz“ vom Januar 1899. Dieser Brief zeugt wieder von größter Skepsis gegenüber Konzepten der bürgerlichen Friedensbewegung (Abrüstung, Verbot besonders grausamer bzw. verheerender Waffen, Schiedsgerichtsbarkeit), zumal unter der Voraussetzung, dass die kriegsführenden Staaten selbst als maßgebliche Akteure betrachtet werden.
Wie im Jahr vor seinem Tod konzentrierte sich Tolstoi schon 1899 ganz auf den Weg der Kriegsdienstverweigerung, welcher freilich ihm zufolge nicht Gegenstand einer ‚staatstragenden Veranstaltung‘ sein konnte: „Die Konferenz wird den Zweck haben, nicht den Frieden auszurichten, sondern vor den Menschen das einzige Mittel ihrer Befreiung von dem Elend des Krieges zu verbergen: das Mittel, das darin besteht, dass die einzelnen Personen ihre Teilnahme an dem militärischen Mord verweigern, und deshalb kann die Konferenz auf keine Weise diese Frage in Erwägung ziehen.“ Adressat von Friedensaufrufen sollten demzufolge nicht die Regierungen sein, sondern die Menschen, von denen die Mächtigen bei ihren Mordplänen Gehorsam einfordern.
Kein Friedensnobelpreis für Tolstoi
Gegen Ende seines Lebens, so meint Geir Kjetsaa, waren es „nur zwei Dinge, die Tolstoi … fürchtete: seine Frau und den Nobelpreis. Es gelang ihm schließlich, beiden zu entwischen. Aber nicht ohne Schwierigkeiten. – Immer mehr waren jetzt der Ansicht, dieser Erzpazifist habe den Friedensnobelpreis verdient. Nachforschungen im Nobelinstitut in Oslo haben ergeben, dass er für diese Auszeichnung dreimal vorgeschlagen wurde. … Das Resultat war allerdings negativ: Dieser Schriftsteller sei ein Gegner von Friedenskonferenzen gewesen und habe sich damit als schlechter Vorkämpfer für den Frieden erwiesen! Genau wie im Komitee für den Literaturpreis befürchtete man im Komitee für den Friedensnobelpreis zu provozieren, indem man einem ‚Anarchisten‘ wie Tolstoj den Preis zuerkannte.“
Der Kampf wurde ab 1908 außerhalb des Komitees geführt, vor allem von dem aus Russland gebürtigen Journalisten Menartz Lewin. Aus Norwegen ließ man Lewin wissen, es habe bislang eben noch niemand Tolstois Kandidatur gefördert. Es verfassten aber schließlich vier norwegische Parlamentsmitglieder am 1.2.1909 ein entsprechendes Vorschlags-Schreiben an das Nobelkomitee: „Dieser gewaltige Kämpfer, dessen Leben und Wirken von Freunden und Gegnern in der ganzen zivilisierten Welt mit Ehrfurcht verfolgt wird, hat in Wort und Tat mehr für die Sache des Friedens getan als irgendjemand anders …“
Das Nobelkomitee reagierte auf diesen Vorstoß norwegischer Parlamentarier, indem es ein „ordentliches Gutachten“ bei Karl Vilhelm Hammer, dem erster Archivar im Außenministerium (!) einholte. Der Gutachter meinte, Tolstois „künstlerisches Genie“ nütze wenig, denn seine philosophischen Studien zeugten von einem begrenzten Horizont. Im Nobelpreiskomitee war man der Ansicht, der Dichter „hasse ganz Europa, und mit seiner Kultivierung der einfachen, östlichen Gesellschaft mangle ihm jegliches Verständnis für das Ziel des Preises“.
Menartz Lewin gegenüber zeigte sich Tolstoi bei dessen Besuch in Jasnaja Poljana im Februar 1910 „nicht im mindesten darüber verwundert oder verärgert, dass man ihn nicht des Friedenspreises für würdig gehalten hatte“. Mit Blick auf weitere Bemühungen der Anhänger um den Friedensnobelpreis erklärte der Dichter im Herbst 1910 – wiederum gegenüber Lewin: „Ich würde ihn nicht annehmen, weil ich von dem absoluten Schaden durch das Geld überzeugt bin.“
Vorahnungen des Weltkrieges?
Ob Leo Nikolajewitsch Tolstoi wirklich, wie Ernst Keuchel schreibt, einen „Wahrtraum“ mit Vorausschau zu „Beginn und Verlauf des Weltkrieges“ 1914-1918 gehabt hat, bleibt zu überprüfen. Zahlreich sind in seinem Schrifttum auf jeden Fall die Verweise auf unvorstellbare Schrecken des modernen Krieges. „Man lese“, so Tolstoi, nur „die Geschichte der christlichen europäischen Völker seit der Reformation … Sie bildet eine ununterbrochene Reihe der schrecklichsten, sinnlos grausamen Verbrechen, die von Regierenden gegen ihre eignen und fremde Völker und gegeneinander verübt worden sind: Unaufhörliche Kriege, Räubereien, Vernichtung oder Bedrückung von Nationalitäten, Ausrottung ganzer Völker …“ (Eines ist not, 1905).
Im Werk „Das Reich Gottes ist in euch“ (geschrieben 1890-1893) wird aus einer Abhandlung von Graf Komarowskij zitiert: „Die Völker können nicht lange die gesteigerten Rüstungen ertragen, und früher oder später ziehen sie den Krieg allen Lasten der augenblicklichen Lage und der beständigen Bedrohung vor, so dass die winzigste Ursache genügen wird, um in Europa die Flamme eines Weltkrieges zu entzünden.“
In Tolstois Schrift „Patriotismus oder Frieden?“ (Patriotizm ili mir?, 1896) heißt es: „In diesen Tagen gab es einen Zusammenstoß zwischen den Nord-Amerikanischen Staaten und England wegen der Grenzen Venezuelas … Edison erklärte, er würde Geschütze erfinden, mit denen man in einer Stunde mehr Menschen töten könnte, als Attila in allʼ seinen Kriegen getötet hat, – und beide Völker begannen sich energisch zum Kampfe zu rüsten.“
Aussagekräftig sind auch viele Beispiele aus Tolstois „Lesezyklus für alle Tage“ (Krug čtenija, 1904-1906). In den Lesetexten für den „6. Juli“ werden z. B. folgende Warnungen des Schweizers Edouard Rod (1857-1919) angeführt: „Es ist entsetzlich, auch nur daran zu denken, welche Katastrophe unserer unvermeidlich am Ende unseres Jahrhunderts harrt, und wir müssen auf sie vorbereitet sein. Im Laufe von zwanzig Jahren (nun sind es bereits mehr denn vierzig) gehen alle Anstrengungen des Wissens darauf hin, neue Zerstörungswerkzeuge zu erfinden, und in kurzer Zeit werden einige Kanonenschüsse genügen, um eine ganze Armee zu vernichten. Jetzt stehen unter Waffen, nicht wie ehemals, einige tausend feiler armer Schlucker, – sondern Völker, ganze Nationen stehen bereit, einander zu morden.“
Wenige Monate vor seinem Tod schrieb Leo N. Tolstoi 1910 den Teilnehmern des slavischen Kongresses in Sofia: „Ja, in der Einigkeit – beruht der Sinn, das Ziel, und das Heil des menschlichen Lebens, aber auch Ziel und Heil werden nur dann erreicht, wenn es sich um eine Einigkeit der ganzen Menschheit handelt, im Namen der Grundlage, die der ganzen Menschheit eigen ist, nicht aber um eine Vereinigung kleinerer oder größerer Teile der Menschheit im Namen beschränkter Teilziele. Mag diese Gemeinschaft eine Familie sein, eine Räuberbande, eine Landgemeinde, ein Staat, einzelne Völker oder der heilige Bund der Staaten – solche Vereinigungen fördern nicht nur keineswegs den wahren Fortschritt der Menschheit, sie hemmen ihn vielmehr mehr wie alles andere; will man daher mit Bewusstsein dem wahren Fortschritt dienen, so darf man … keine derartige teilweise Vereinigung fördern, man muss ihr vielmehr stets entgegenhandeln.
Die Eintracht ist der Schlüssel, welcher die Menschen vom Übel befreit. Damit aber dieser Schlüssel seine Aufgabe erfüllen kann, muss er ganz ins Schlüsselloch gesteckt sein, bis zu der Stelle, wo er das Schloss öffnet, nicht aber zerbricht und auch nicht das Schloss verdirbt. So steht es auch mit der Vereinigung von Menschen – soll sie die ihr eigenen wohltätigen Folgen zeitigen, so muss sie die Vereinigung aller Menschen zum Ziele haben im Namen der allen Menschen eignenden und von ihnen allen in gleicher Weise anerkannten Grundlage. Eine solche Vereinigung kann aber nur auf jener religiösen Grundlage des Lebens erfolgen, die einzig und allein die Menschen eint, und leider Gottes von der Mehrzahl der Leute, die heute die Völker führen, für unnötig und überlebt angesehen wird.“
Quelle: overton-magazin.de… vom 2. Juli 2023
Tags: Bücher, Deutschland, Erster Weltkrieg, Frankreich, Grossbritannien, Imperialismus, Japan, Kultur, Russland, USA, Widerstand
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