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Sozialismus des 21. Jahrhunderts: Reform oder Revolution?

Eingereicht on 19. Juni 2022 – 15:28

Murray E.G. Smith (2018). Da wir uns dem Ende dieses zweihundertsten Geburtsjahres von Karl Marx nähern, möchte ich zunächst darauf hinweisen, dass die Erfahrungen des letzten halben Jahrhunderts viele der wichtigsten Vorhersagen von Marx über die grundlegende Dynamik und die Bewegungsgesetze des Kapitalismus voll und ganz bestätigt haben. Zahlreiche Studien haben beispielsweise festgestellt, dass die durchschnittliche Profitrate langfristig sinkt und dass dies mit der Verdrängung lebendiger Arbeit aus der Produktion durch technologische Innovationen zusammenhängt. Und genau wie Marx vorausgesehen hat, haben Kapital und Regierungen auf Profitkrisen mit Versuchen geantwortet, das Reallohnniveau zu senken, den Arbeitsprozess zu intensivieren, die Rechte der Lohnabhängigen zu untergraben und populäre Sozialprogramme zu kürzen oder zu streichen, von denen man annahm, dass sie negative Auswirkungen auf den privaten Profit hätten.

Periode und Arbeiterklasse

Gleichzeitig mit der ausserordentlichen Konzentration des Reichtums auf die reichsten Menschen der Welt hat die Weltwirtschaft auch eine riesige «Überschussbevölkerung» von weit über einer Milliarde Arbeitslosen und Unterbeschäftigten geschaffen, eine Masse von Menschen, deren Fähigkeit zur produktiven Tätigkeit vom globalen Kapitalismus effektiv vergeudet wird. Das nahezu universelle Monopol, das die Kapitalistenklasse über die mächtigsten Produktionsmittel der Welt ausübt, kann nur bedeuten, dass die fortschrittlichen Technologien, die der Kapitalismus hervorgebracht hat, nicht zur Steigerung der Produktivität oder zur Verbesserung des Wohlergehens der wirtschaftlich Ausgegrenzten eingesetzt werden, sondern weiterhin als Waffen in einem rücksichtslosen Wettbewerb und klassenfeindlichen Wettkampf, dessen oberstes Ziel die Anhäufung von Privatprofit bleibt.

Die vielen Nachrufschreiber auf den Marxismus – und davon gibt es seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 viele – werden dies natürlich nicht anerkennen. Stattdessen betonen sie in der Regel das angebliche Scheitern von Marx‘ «Vorhersagen», dass die Arbeiterklasse (a) schliesslich zu einer revolutionären Klasse «für sich selbst» werden würde und (b) eine egalitäre sozialistische Gesellschaft aufbauen würde, in der die politische Macht demokratisch von den «assoziierten Produzenten» ausgeübt werden würde. Das angebliche Scheitern der ersten Vorhersage soll zeigen, dass Marx dem Klassenkampf in den menschlichen Angelegenheiten eine zu grosse Bedeutung beimass und unrealistische Vorstellungen von der revolutionären Fähigkeit der Arbeiterklasse hatte; das Scheitern der zweiten Vorhersage soll zeigen, dass Demokratie und wirtschaftlicher Kollektivismus unvereinbar sind und dass jeder Versuch, über den Kapitalismus hinauszugehen, nur zum Aufstieg einer totalitären Gesellschaftsordnung führen kann, die von einer neuen Klasse von Staatsbürokraten beherrscht wird. Dies ist jedenfalls die politisch zweckmässige, wenn auch nicht gerade «korrekte» Bilanz des Marxismus, die von der grossen Mehrheit der heutigen «Intelligenz» gerne übernommen wird – und die, zumindest bis zu einem gewissen Grad, von allzu vielen radikalen Intellektuellen und Aktivisten der Gegenwart nur zu gerne akzeptiert wird.

Es gibt eine überzeugende marxistische Antwort auf diese bekannte kritische Bewertung der marxistischen Theorie und Praxis, die jedoch von Marx‘ Kritikern oder sogar von vielen seiner Möchtegern-Verteidigern nur selten angesprochen wird. Worin besteht sie? In erster Linie besteht sie darin, auf einer genauen historischen Darstellung des Kampfes der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus zu bestehen. Es stimmt zwar, dass es in der Geschichte nur eine einzige erfolgreiche sozialistische Revolution der Arbeiterklasse gegeben hat – die von den Bolschewiki angeführte Revolution von 1917 in Russland –, aber es ist völlig falsch zu behaupten, dass die Arbeiterklasse nicht zu vielen anderen Zeiten und an vielen Orten seit der Zeit von Marx ihre revolutionäre Fähigkeit unter Beweis gestellt hat. Es sollte niemanden überraschen, dass diese Geschichte von den Feinden des marxistischen Sozialismus nicht nur ignoriert, sondern auch absichtlich begraben wird. Die Tatsache, dass sie vielen linken Intellektuellen und Aktivisten von heute oft unbekannt ist oder zumindest nicht ausreichend erforscht wird, ist eine eindrucksvolle Bestätigung von Marx‘ These, dass die Erzieher selbst erzogen werden müssen.

Marx und Engels

Marx‘ Vertrauen in die Fähigkeit der revolutionären Arbeiterklasse, eine egalitäre und demokratische sozialistische Ordnung aufzubauen, könnte angesichts der Bilanz des «sozialistischen Aufbaus» im vergangenen Jahrhundert ebenfalls fehl am Platze sein; aber auch hier zeigt eine sorgfältige historische Bewertung dieser Erfahrungen, dass die Annahmen, auf denen diese Erwartung beruhte, kaum widerlegt wurden. Wenn überhaupt, dann bestätigt die Geschichte die Warnung von Marx, dass eine vollständig sozialistische/kommunistische Überwindung des Kapitalismus das Vorhandensein hoch entwickelter Produktionskräfte erfordert, die vom Kapitalismus selbst ins Leben gerufen wurden. Dazu gehören eine weltweite Arbeitsteilung, ein technologisch hochentwickelter Produktionsapparat und eine gut ausgebildete Arbeiterklasse, die in der Lage ist, die Aufgaben der demokratischen Selbstverwaltung zu übernehmen. Leider waren die Bedingungen, unter denen Länder wie die Sowjetunion und China im 20. Jahrhundert versuchten, den «Sozialismus» auf nationaler Ebene aufzubauen, durch einen vergleichsweise niedrigen Entwicklungsstand dieser Produktivkräfte gekennzeichnet. Es überrascht nicht, dass die Ergebnisse recht gemischt und sicherlich wenig inspirierend waren, vor allem für diejenigen, die einen wohlhabenden Lebensstil in den reichsten Enklaven der entwickelten kapitalistischen Welt geniessen. Die (falsche) Identifizierung dieser «real existierenden Sozialismen» mit Marx‘ eigener Vision der kommunistischen Gesellschaft diente dazu, das Phänomen des Stalinismus – d.h. bürokratische Herrschaft auf der Grundlage kollektivierter Eigentumsformen – in den Augen der einen zu legitimieren, während es in den Augen der anderen diskreditiert wurde. Ungeachtet ihrer Allgegenwart hat diese irreführende Identifizierung der Sache des marxistischen Sozialismus und der Entwicklung des Klassenkampfes, wie er von Marx und seinen revolutionären sozialistischen Nachfolgern angestrebt wurde, enormen Schaden zugefügt. Dies erfordert einen etwas detaillierteren historischen Rückblick.

Der Schlüssel zu einem spezifisch marxistischen Verständnis des Klassenkampfes liegt darin, das (weitgehend unbewusste) Streben nach einer anderen, kommunistischen Zukunft zu erkennen, das selbst in den «ökonomistischsten» Arbeiterstreiks impliziert ist. Wie Marx 1852 in einem Brief an Joseph Weydemeyer feststellte: «Was mich nun betrifft, so gebührt mir nicht das Verdienst, weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben. … Was ich neu tat, war 1. nachzuweisen, daß die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2. daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3. daß diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet.» (MEW 28: 507 – 508)

Dieses Beharren auf der zentralen Bedeutung des Proletariats für den Kampf um den Sozialismus untermauert den grundlegenden politischen Grundsatz von Marx, dass die Arbeiterklasse danach streben muss, die vollständige organisatorische und politische Unabhängigkeit von der Kapitalistenklasse zu erreichen – was sich vor allem im Programm und in der Praxis ihrer revolutionären Führung ausdrückt. In einer Rede vor dem Bund der Kommunisten im März 1850 erklärten Marx und Engels: «Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst rasch und unter Durchführung höchstens der obigen Ansprüche zum Abschlusse bringen wollen, ist es unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, daß die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und daß wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind. Es kann sich für uns nicht um Veränderung des Privateigentums handeln, sondern nur um seine Vernichtung, nicht um Vertuschung der Klassengegensätze, sondern um Aufhebung der Klassen, nicht um Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um Gründung einer neuen.» (MEW 7: 248)

Rosa Luxemburg

Im frühen 20. Jahrhundert haben mehrere revolutionäre Sozialisten dieses marxistische Programm der Selbstemanzipation der Arbeiterklasse entscheidend erweitert und verfeinert, allen voran Rosa Luxemburg, Wladimir Lenin und Leo Trotzki. Die Beiträge dieser drei herausragenden Marxisten verdienen bei der Untersuchung der Frage Reform versus Revolution im 21. Jahrhundert unsere besondere Aufmerksamkeit, denn sie haben mit grosser Klarheit dargelegt, was den revolutionären Marxismus im Vergleich zu anderen vermeintlich sozialistischen Ansätzen in der Vergangenheit und heute auszeichnet.

In ihrer zentralen Polemik Sozialreform oder Revolution aus dem Jahr 1899 entwickelte Rosa Luxemburg eine kompromisslose Kritik an der «revisionistischen», reformistischen Strömung, die in den 1890er Jahren in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands aufgekommen war. Der Revisionismus hatte auf bereits bestehende Spannungen und Tendenzen innerhalb der Sozialdemokratie zurückgegriffen, um erstmals eine explizit reformistische Perspektive zu formulieren, die in Eduard Bernsteins berühmtem Ausspruch zusammengefasst wurde: «Das Endziel, was es auch sein mag, bedeutet mir nichts, die Bewegung ist alles.» Auf das Wesentliche reduziert, lautete Bernsteins strategisches Konzept, dass Sozialdemokraten nicht versuchen sollten, den Boden für eine sozialistische Revolution zu bereiten, sondern sich stattdessen für die sozialistische Sache einsetzen sollten, indem sie die materielle, politische und organisatorische Stärke der Arbeiterklasse innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft stärkten. Um eine von späteren Generationen von Revisionisten oft zitierte Formel zu verwenden, bestand das unmittelbare Ziel darin, «das Verhältnis der Klassenkräfte zugunsten der Arbeit zu verändern», und zwar durch schrittweise soziale Reformen, die dem Kapital und dem Staat abgerungen wurden. Es wurde also ein evolutionärer im Gegensatz zu einem revolutionären Weg zum Sozialismus postuliert.

In ihrer energischen Verteidigung des klassischen Marxismus und einer revolutionären sozialistischen Perspektive bestand Luxemburg darauf, dass der reformistische Sozialismus Bernsteins in Wirklichkeit gar kein echter Sozialismus sei. Sie schrieb: «Wer sich daher für den gesetzlichen Reformweg anstatt und im Gegensatz zur Eroberung der politischen Macht und zur Umwälzung der Gesellschaft ausspricht, wählt tatsächlich nicht einen ruhigeren, sicheren, langsameren Weg zum gleichen Ziel, sondern auch ein anderes Ziel, nämlich statt der Herbeiführung einer neuen Gesellschaftsordnung bloß unwesentliche Veränderungen in der alten. So gelangt man von den politischen Ansichten des Revisionismus zu demselben Schluß, wie von seinen ökonomischen Theorien: daß sie im Grunde genommen nicht auf die Verwirklichung der sozialistischen Ordnung, sondern bloß auf die Reformierung der kapitalistischen, nicht auf die Aufhebung des Lohnsystems, sondern auf das Mehr oder Weniger der Ausbeutung, mit einem Worte auf die Beseitigung der kapitalistischen Auswüchse und nicht des Kapitalismus selbst abzielen.» (Werke, I, Erster Halbband: 428f.) Der Kern der revisionistischen Theorie, so argumentierte Luxemburg, ist eine Korruption des Marxismus. Das Marx’sche Verständnis des Klassenkampfes wird formal anerkannt, ebenso wie die Notwendigkeit des Sozialismus. Doch während der Marxismus die Diktatur des Proletariats als notwendigen Höhepunkt des Klassenkampfes ansieht und die soziale Revolution zu ihrer Verwirklichung vorbereitet, versucht der Revisionismus, die Klassengegensätze zu mildern und «die kapitalistischen Widersprüche abzuschwächen» (ebd.: 89) durch soziale Reformen. Sie schreibt: «Der unversöhnliche, schroffe Klassenstandpunkt, der nur im Hinblick auf eine angestrebte politische Machteroberung Sinn hat, wird immer mehr zu einem bloßen Hindernis, sobald unmittelbare praktische Erfolge den Hauptzweck bilden.» (ebd.: 403).

Im Gegensatz zur revisionistischen Sichtweise bestand Luxemburg darauf, dass der bestehende Staat ein «Klassenstaat» ist – die politisch-repressive Organisation der herrschenden Klasse – und dass die natürlichen Grenzen sozialer Reformen beim Interesse des Kapitals liegen. (ebd.: 402). Anstatt die Kämpfe der Arbeiter auf den Kampf für Reformen zu beschränken, sei es die Pflicht der marxistischen Sozialisten, diese Kämpfe auf die Zerstörung des kapitalistischen Staates auszurichten: «Nur der Hammerschlag der Revolution, d.h. die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat, kann [die ‚Mauer zwischen kapitalistischer und sozialistischer Gesellschaft‘] niederreissen» (ebd.: 400).

Hier greift Luxemburg die berühmte Erklärung von Marx in Der Bürgerkrieg in Frankreich auf, dass «die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihren eignen Zweck in Bewegung setzen [kann]. Das politische Werkzeug ihrer Versklavung kann nicht als politisches Werkzeug ihrer Befreiung dienen.» (MEW 17: 592). Sie nimmt auch Lenins Forderung in Staat und Revolution (1917) vorweg, dass das Proletariat seine eigenen, einzigartigen Organe der Klassenherrschaft schaffen und den kapitalistischen Staat «zerschlagen» müsse.

Luxemburgs Position war eindeutig revolutionär, aber sie muss im historischen Kontext betrachtet werden. Als eine sozialistische Führerin, die an der Wende zum 20. Jahrhundert schrieb, war ihr politischer Rahmen noch der des Erfurter Programms der deutschen Sozialdemokratie von 1891, ein Programm, das minimale Forderungen nach sozialen Reformen vom «maximalen» Ziel des Sozialismus trennte. Luxemburg warf den Revisionisten vor, das Minimal- und das Maximalprogramm gegeneinander auszuspielen, während ihrer Ansicht nach «der Kampf für Reformen das Mittel, die soziale Revolution das Ziel der Partei» sei.

Lenin

Zwei Schlüsselentwicklungen würden bald die Notwendigkeit bedeutender Änderungen und Erweiterungen des programmatischen und strategischen Arsenals des klassischen Marxismus aufwerfen. Die erste war die Konsolidierung (und Krise) einer imperialistischen Phase der kapitalistischen Entwicklung, die mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs am deutlichsten zum Ausdruck kam. Die zweite war die sozialistische Revolution in Russland von 1917, die einzige Revolution in der Geschichte, die die Arbeiterklasse an die Macht brachte. Die beiden Hauptführer dieser Revolution, Lenin und Trotzki, waren unbestreitbar auch die wichtigsten Theoretiker des revolutionären Marxismus des 20. Jahrhunderts.

Lenins wichtigster theoretischer Beitrag bestand darin, die politisch-organisatorischen Lehren aus den Erfahrungen der Zweiten Internationale im Lichte der Unterstützung, die die nationalen Führungen der meisten sozialdemokratischen Parteien ihren eigenen Regierungen zu Beginn des Ersten Weltkriegs gewährten, herauszuarbeiten und zu systematisieren. In zwei zentralen Texten («Der Zusammenbruch der Zweiten Internationale» [1915a; Sämtliche Werke, Band 18] und «Sozialismus und Krieg» [1915b; ]) argumentierte Lenin, dass die politische Grundlage für den «Sozialimperialismus» oder «Sozialchauvinismus» der weit verbreitete und wachsende Trend zum Opportunismus in der Zweiten Internationale war. Im Grunde, so argumentierte Lenin, ist die soziale Grundlage für den Opportunismus (das Bestreben, die Interessen des Kapitals und der Lohnarbeit in Einklang zu bringen) das Kleinbürgertum und, was am wichtigsten ist, eine relativ privilegierte und konservative Schicht der Arbeiterklasse – «eine kleinbürgerliche ‚Oberschicht‘ oder Aristokratie (und Bürokratie) der Arbeiterklasse», die sich auf die Überschüsse stützt, die durch die imperialistische Ausplünderung entstehen. Lenin beobachtete: «Es hat sich eine ganze Gesellschaftsschicht von Parlamentariern, Journalisten, Beamten der Arbeiterbewegung, von privilegierten Angestellten und von einigen Schichtungen des Proletariats herangebildet, und diese Schicht ist mit ihrer nationalen Bourgeoisie verwachsen, wird von dieser Bourgeoisie vollkommen richtig eingeschätzt und „gefügig“ gemacht.» (1915a: Sämtliche Werke Band 18: 353).

Vor dem Krieg wurde die opportunistische Strömung als mehr oder weniger harmlos angesehen, als marginalisiert, da der proletarische Charakter der Sozialdemokratie gesichert blieb. Doch die «allumfassende», «integrative» Breite der sozialdemokratischen Bewegung (von Karl Kautsky als «Partei der ganzen Klasse» formuliert) brachte eine höchst problematische «Einheit» zwischen Revolutionären und Reformisten mit sich und führte durch eine unerbittliche Logik zum wachsenden Einfluss der Letzteren auf Kosten der Ersteren, insbesondere in den Massenparteien der Arbeiter in West- und Mitteleuropa. Für die Reformisten war die Aussicht auf einen Wahlsieg und die anschliessende Verwaltung des bestehenden kapitalistischen Staates – angeblich auf eine neue und «fortschrittlichere» Weise – nicht nur realistischer als der revolutionäre Umsturz der kapitalistischen Ordnung, sondern auch weitaus verlockender und appetitlicher.

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs betonte Lenin bereits, dass: «Die Einheit ist eine große Sache und eine große Losung. Doch die Arbeitersache braucht die Einheit der Marxisten, nicht aber die Einheit der Marxisten mit den Gegnern und Verfälschern des Marxismus.» (Die Einheit. Sämtliche Werke 17:  389). Ein Jahr später ging er noch weiter und argumentierte, dass Kautskys Konzeption der «Einheit mit den Opportunisten bedeutet jetzt in der Praxis Unterwerfung der Arbeiterklasse unter die eigene nationale Bourgeoisie, Bündnis mit dieser Bourgeoisie zur Unterdrückung fremder Nationen und zum Kampf für die Großmachtprivilegien, also Spaltung des revolutionären Proletariats aller Länder.» (1915b: Kapitel I). Dies markierte den Beginn von Lenins Wandlung von einem revolutionären Sozialdemokraten der Zweiten Internationale zum späteren Gründer und zentralen Führer einer neuen, revolutionären Internationale.

Bereits 1915 war Lenin zu dem Schluss gekommen, dass die Notwendigkeit «einer neuen Form der Organisation und des Kampfes», wie sie sich aus dem historischen Verrat der Sozialdemokratie ergab, aus den Erfordernissen einer neuen historischen Epoche resultierte: «Die durch den Krieg verursachte große Krise riss alle Hüllen herunter, fegte alles Konventionelle hinweg, ließ das längst reif gewordene Geschwür aufbrechen und zeigte den Opportunismus in seiner wahren Rolle, als Bundesgenossen der Bourgeoisie. Die restlose, organisatorische Ausscheidung dieses Elements aus den Arbeiterparteien wurde notwendig. In der imperialistischen Epoche geht es nicht an, dass in ein und derselben Partei neben der Vorhut des revolutionären Proletariats noch eine halb-kleinbürgerliche Aristokratie der Arbeiterklasse existiert, die sich Brocken von den der „Großmacht“-Stellung „ihrer“ Nation entspringenden Privilegien zugute kommen lässt….» (1915a: Kapitel IX)

Auf dieser Grundlage schätzte Lenin die Erfahrungen der russischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei neu ein, die seit einigen Jahren de facto in zwei getrennte Parteien gespalten war: die Menschewiki und die Bolschewiki. Unter Berufung auf die bolschewistische Partei schlug Lenin (1915b, Kapitel III) vor, eine neue internationale sozialistische Organisation zu schaffen, die die revolutionäre Avantgarde der Arbeiterklasse in einer Dritten Internationale zusammenfassen sollte. Der ungarische Philosoph Georg Lukács, ein früher Anhänger von Lenins Projekt, stellte fest, dass diese «Avantgarde-Partei»-Perspektive eine grundlegende Neubewertung der Rolle des «subjektiven Faktors» in der Geschichte beinhaltete. Lukács schrieb: «Der Leninsche Organisationsgedanke bedeutet also einen doppelten Bruch mit dem mechanischen Fatalismus: sowohl mit dem, der das Klassenbewußtsein des Proletariats als mechanisches Produkt seiner Klassenlage auffaßt, wie mit dem, de in der Revolution selbst nur eine mechanische Auswirkung sich fatalistisch entladender ökonomischer Kräfte erblickt, die das Proletariat – bei hinreichender „Reife“ der objektiven Bedingungen der Revolution – sozusagen automatisch zum Siege führt. Müßte darauf gewartet werden, bis das Proletariat einheitlich und klar in den entscheidenden Kampf zieht, so würde es nie eine revolutionäre Situation geben. (Lenin. Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken: Kapitel III)

Lenins Beharren auf der Rolle der Avantgarde der Arbeiterklasse als dem entscheidenden subjektiven Element und bewussten Akteur der revolutionären Umgestaltung unterstreicht sein unerschütterliches Engagement für programmatische Klarheit. Alle taktischen Überlegungen und organisatorischen Fragen sollten der Wahrung der programmatischen Integrität untergeordnet werden. Dementsprechend sollten prinzipielle und strategische Fragen niemals für kurzfristige Gewinne zurückgestellt werden, die durch eine falsche «Einheit» mit Opportunisten erzielt werden könnten.

Trotzki

Genauso wie Lenins Konzept der Avantgardepartei auf der Notwendigkeit beruhte, dass Revolutionäre sich getrennt von und in Opposition zu den Bürokraten, Revisionisten und Opportunisten organisieren, die im Klassenkampf einen Waffenstillstand mit der Bourgeoisie anstreben, bestand Leo Trotzkis entscheidender Beitrag darin, die revolutionäre marxistische Strategie entscheidend aus dem Morast der Dichotomie «Minimalprogramm – Maximalprogramm» herauszuheben. Indem er die Methoden und Erfahrungen der Bolschewistischen Partei Russlands und der frühen Kommunistischen Internationale herausarbeitete und verdeutlichte, systematisierte Trotzki die Idee eines «Übergangsprogramms» im Gründungsmanifest seiner Vierten Internationale von 1938. Er schrieb: «Die IV. Internationale verwirft nicht die Forderungen des alten „Minimal“-Programms, soweit sie noch einige Lebenskraft bewahrt haben. Sie verteidigt unermüdlich die demokratischen Rechte der Arbeiter und ihre sozialen Errungenschaften. Aber sie führt diese Tagesarbeit aus im Rahmen einer richtigen, aktuellen, d. h. revolutionären Perspektive. In dem Maße wie die alten partiellen „Minimal“-Forderungen der Massen auf die zerstörerischen und erniedrigenden Tendenzen des verfallenden Kapitalismus stoßen – und das geschieht auf Schritt und Tritt – stellt die IV. Internationale ein System von Übergangsforderungen auf, dessen Sinn es ist, sich immer offener und entschlossener gegen die Grundlagen der bürgerlichen Herrschaft selbst zu richten. Das alte „Minimalprogramm“ wird ständig überholt vom Übergangsprogramm, dessen Aufgabe darin besteht, die Massen systematisch für die proletarische Revolution zu mobilisieren.» (Das Übergangsprogramm, Kapitel III; Deutsche Ausgabe z.B. in Trotzki-Bibliothek, Arbeiterpresse, 1997: 87f). Zu den Forderungen in Trotzkis Übergangsprogramm gehörten die Forderung nach einer gleitenden Skala von Löhnen und Arbeitszeiten (um sinkende Reallöhne und Arbeitslosigkeit zu bekämpfen); die Öffnung der Bücher der Unternehmer für Arbeiterinspektionen; die Organisation militanter Streikposten und gewerkschaftsübergreifende Solidarität bei Streiks; Arbeiterselbstverteidigungsgarden und Arbeitermilizen zur Verteidigung gefährdeter Bevölkerungsgruppen der Arbeiterklasse; Fabrikkomitees und Arbeiterkontrolle in der Industrie; ein System von Sowjets – von Räten oder Versammlungen –, um die Macht des kapitalistischen Staates herauszufordern und die Grundlage für die politische Macht der Arbeiter zu schaffen; die entschädigungslose Enteignung der Industrie und der Banken; und schliesslich, als krönende Forderung, auf die alle anderen Übergangsforderungen hinauslaufen, eine Arbeiterregierung.

Trotzki erkannte an, dass die Auswahl und Präsentation von Forderungen durch die revolutionäre Avantgarde auf die spezifischen Bedürfnisse und das Bewusstseinsniveau der Arbeiter in einem bestimmten Kampfkontext zugeschnitten sein muss. Er bestand jedoch auch darauf, dass das Voranbringen sozialistischer Lösungen in Begriffen, die für die Arbeiter leicht verständlich sind, niemals eine Anpassung an Ideen beinhalten sollte, die den Kampf in einen kapitalistischen Rahmen beschränken. (Im Gegenteil: Übergangsforderungen und -parolen bedeuteten, eine «Brücke zu finden» um von «… einem System von Übergangsforderungen …, die ausgehen von den augenblicklichen Voraussetzungen und dem heutigen Bewußtsein breiter Schichten der Arbeiterklasse und unabänderlich zu ein und demselben Schluß führen: der Eroberung der Macht durch das Proletariat.» (ebd.: 86).

Entscheidend ist also, dass ein echtes Übergangsprogramm keine «Reformen» vorsieht, die lediglich zu einer Umverteilung des Einkommens führen oder die Macht der Bourgeoisie allmählich aushöhlen; vielmehr bietet ein solches Programm eine flexible und ergebnisoffene Grundlage für den Kampf um ein System von Forderungen, die in ihrer Gesamtheit nicht erfüllt werden können, solange der kapitalistische Staat und das kapitalistische Eigentum an den Produktionsmitteln intakt bleiben. Nach Trotzkis Auffassung sind konkrete Kämpfe auf dieser programmatischen Grundlage der Schlüssel zur Entwicklung des Bewusstseins der Arbeiter für die Notwendigkeit der Machtergreifung, der Errichtung einer Arbeiterregierung und des Aufbaus des Sozialismus.

Nach der Russischen Revolution von 1917 griffen verschiedene nationale Sektionen der frühen Kommunistischen Internationale die strategische Orientierung auf, die im programmatischen Ansatz des Übergangs verankert war, wenn auch nur für eine vergleichsweise kurze Zeit. In Kanada fand dies seinen Ausdruck in Steps to PowerA Program of Action for the Trade Union Minority in Canada, das von der kommunistisch geführten Trade Union Educational League veröffentlicht wurde. Das Programm der TUEL enthielt Forderungen wie die Organisation nicht organisierter Arbeiter, den Zusammenschluss von Handwerkergewerkschaften, die Organisation von Betriebsausschüssen, den Aufbau einer Arbeiterpresse, internationale Gewerkschaftseinheit, höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten, die Verstaatlichung der Industrie und (last but not least!) die Abschaffung des Kapitalismus. Dies war das weitreichende Programm, mit dem die frühen kanadischen Kommunisten den Widerstand der Basis gegen die prokapitalistische Gewerkschaftsbürokratie organisierten.

Stalinismus und Sozialdemokratie

Nach der Niederlage der deutschen Revolution 1923 und der Festigung der stalinistischen, bürokratischen Vorherrschaft über den sowjetischen Staat und die Kommunistische Internationale wurde die Politik der kanadischen und anderer kommunistischer Parteien entscheidend den kurzfristigen Wendungen der sowjetischen Aussenpolitik untergeordnet. Stalins Programm des Aufbaus des «Sozialismus in einem Land» und der Förderung der «friedlichen Koexistenz» zwischen der kapitalistischen Welt und der UdSSR verdrängte die Förderung der Weltrevolution. In ihrer neuen Rolle, so Trotzki, wurde die stalinisierte Kommunistische Internationale zum «Totengräber» von Revolutionen, am tragischsten in Spanien zwischen 1936 und 1938. Es war an Trotzkis kleiner Schar von Anhängern, zunächst in der Internationalen Linken Opposition und später in der Vierten Internationale, das programmatische Erbe des revolutionären Marxismus zu verteidigen und weiterzutragen.

Innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung waren die Autorität und das Ansehen der stalinistischen Regime (insbesondere die von Josef Stalin und seinen Nachfolgern und in geringerem Masse die von Mao Zedong) mit ihrer historischen Verbindung zu erfolgreichen antikapitalistischen sozialen Revolutionen verbunden. Diese Autorität wurde jedoch immer wieder dazu benutzt, proletarisch-revolutionäre Politiken auf der internationalen Bühne zu verhindern und kommunistische Arbeiterbewegungen in der kapitalistischen Welt in Wächter des «sozialistischen Mutterlandes» und in Instrumente der Aussenpolitik der sowjetischen oder chinesischen Regierung zu verwandeln. Die revolutionäre Energie der fortschrittlichsten und sozialistisch gesinnten Schichten der Arbeiterklasse wurde vergeudet, als die bürokratischen, national-reformistischen Projekte zum Aufbau des «Sozialismus in einem Land» mit den Erfordernissen der internationalen Arbeiterbewegung kollidierten, und hinderten sie so daran, auf dem Weg der sozialistischen Revolution voranzuschreiten. Als sie ihre Unabhängigkeit von Moskau durchsetzten, glichen viele der grösseren kommunistischen Parteien schliesslich sozialdemokratischen Massenparteien – ein Prozess, der sich in der «eurokommunistischen» Wende der 1970er Jahre abzeichnete und sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 beschleunigte. Die wiederholten Niederlagen führten zu einer fatalen Schwächung der Führung, der Organisation und des Bewusstseins der Arbeiterklasse auf globaler Ebene. Die absichtliche Entgleisung einer Reihe von potenziell revolutionären Aufständen der Arbeiterklasse durch die stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien trug zur Stabilisierung des Weltkapitalismus bei und stärkte dadurch indirekt die Kräfte der kapitalistischen Restauration im Sowjetblock und in China.

Der weltweite Rückgang des Klassen- und sozialistischen Bewusstseins, der aus diesen vielen Niederlagen resultierte, forderte einen schrecklichen Tribut von denjenigen, die sich weiterhin als Sozialisten oder Kommunisten betrachteten und führte zu einer erheblichen Demoralisierung und Desorientierung in den Reihen der vermeintlich sozialistischen Linken. Das Ergebnis war der Aufstieg eines Spektrums von Ideen in dem, was euphemistisch als «die Linke» bezeichnet wird, die trotz ihrer Vielfalt in ihrer Orientierung dazu tendierte, in Opposition zum «wissenschaftlichen Sozialismus» von Marx und Engels und seiner proletarisch-revolutionären Perspektive zu konvergieren. Der Eintritt der kapitalistischen Weltwirtschaft im Jahr 2008 in die schwerste Krise seit der Grossen Depression und die (im Wesentlichen linksreformistische) Reaktion der meisten vermeintlich sozialistischen und radikalen Linken auf den «Normalbetrieb» haben nur die grosse Distanz unterstrichen, die das Denken dieser Linken von der dringenden Aufgabe des Aufbaus einer neuen, sozialistischen Führung für die internationale Arbeiterbewegung trennt.

Neoreformismus und Anti-Leninismus

Die radikale Linke von heute mag immer noch an einem abstrakten sozialistischen Ideal festhalten, aber sie tut dies oft mit einer verminderten Fähigkeit, mit Klarheit und Entschlossenheit über die elementaren Erfordernisse einer wirksamen Strategie zur Überwindung des Kapitalismus und seiner Ersetzung durch eine sozialistische Ordnung nachzudenken. Debatten über die sehr realen Fragen, bei denen es um Leben und Tod geht, die Sozialisten historisch gespalten haben – Debatten, die von Möchtegern-Sozialisten in den 1960er und 1970er Jahren zwar unzureichend, aber mit einer gewissen Ernsthaftigkeit geführt wurden – sind nicht abgeschlossen, sondern eher zur Seite geschoben worden. An die Stelle einer ernsthaften Debatte über die Frage Reform versus Revolution sind trockene Aufrufe zur Einheit, müde und vereinfachende Anprangerungen des Sektierertums, vage Plattitüden über die Notwendigkeit des Aufbaus neuer «Kapazitäten» im Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung und eine politische Praxis getreten, die weit mehr auf fortschrittliche Reformen innerhalb des Kapitalismus als auf dessen Überwindung ausgerichtet ist.

Obwohl die Arbeiterklasse nach wie vor als äusserst wichtiger Bestandteil jeder antikapitalistischen Bewegung angesehen wird, die diesen Namen verdient, werden gleichzeitig unzählige unterdrückte Gruppen als unverzichtbare strategische «Verbündete» im Kampf für den Sozialismus betrachtet. Diese Auffassung geht weit über die traditionelle leninistische Vorstellung hinaus und negiert sie sogar, dass die revolutionäre Arbeiterpartei als «Volkstribun» (d. h. als glühender Gegner aller Formen von Unterdrückung) auftreten muss. Stattdessen geht es um die problematische Vorstellung, dass, weil der Kapitalismus in die Unterdrückung von Frauen, indigenen Völkern, Homosexuellen, Immigranten, Farbigen, Jugendlichen, Behinderten usw. verwickelt ist, die Kämpfe dieser unterdrückten Gruppen implizit in einem allgemeinen Sinne antikapitalistisch sind und eine antikapitalistische «Logik» oder «Dynamik» besitzen. Während Sozialisten nach dieser Auffassung dazu beitragen sollten, den antikapitalistischen Inhalt dieser vielfältigen Kämpfe zu «klären», wird die Idee einer revolutionären Arbeiterpartei, die die Unterdrückten auf der Grundlage eines umfassenden sozialistischen Programms für die menschliche Emanzipation führt, abgelehnt.

Hinzu kommt, dass nach Ansicht eines Grossteils der heutigen radikalen Linken die Unterschiede, die einst Revolutionäre und Reformisten trennten, heute irrelevant sind oder angesichts der jüngsten historischen Entwicklungen, vor allem des Zusammenbruchs der Sowjetunion und der Kapitulation der sozialdemokratischen Parteien vor dem Neoliberalismus, an Bedeutung verloren haben. Einige Strömungen, die sich immer noch mit dem revolutionären Sozialismus identifizieren, argumentieren nun, dass linksreformistische Perspektiven, die sie einst bekämpften – zum Beispiel die der «breiten linken Parteien» wie der spanischen Podemos oder des Corbynitischen Aufstands in der britischen Labour Party – in einem Kontext, der durch die Diskreditierung der meisten traditionellen sozialdemokratischen Parteien bestimmt ist, eine objektiv revolutionäre Bedeutung erlangt haben. So hat Alex Callinicos, der führende Theoretiker der Socialist Workers Party (eine der grössten «linksradikalen» Formationen Grossbritanniens, die sich formell mit dem Leninismus und Trotzkismus identifiziert), das folgende Argument vorgebracht, das im Wesentlichen mit der Ablehnung des leninistischen Avantgardismus durch die breitere radikale Linke übereinstimmt. Callinicos schrieb: «Der Sozialliberalismus stösst heute viele Menschen aus der Arbeiterklasse ab, aber was sie in erster Linie suchen, ist eine authentischere Version des Reformismus, den ihnen ihre traditionellen Parteien einst versprachen. Wenn die Formationen der radikalen Linken für diese Flüchtlinge aus der Sozialdemokratie bewohnbar sein sollen, dürfen ihre Programme daher nicht die Debatte zwischen Reform und Revolution ausschliessen, indem sie einfach die von revolutionären Marxisten entwickelten strategischen Konzepte übernehmen.»

In den letzten zehn Jahren hat diese Art des Denkens das Projekt der Vereinigung von angeblichen Revolutionären und «echten Reformisten» in Formationen wie der Neuen Antikapitalistischen Partei Frankreichs und der britischen Respect Coalition untermauert, zwei verfehlte Projekte, die ihre angeblich leninistisch-trotzkistischen Mutterorganisationen, die französische Ligue Communiste Revolutionaire und Callinicos‘ eigene Socialist Workers Party, eher geschwächt als gestärkt haben. Die konkrete Herangehensweise an die praktische Arbeit, die mit dieser versuchten Annäherung zwischen einem rhetorischen, aber nicht authentischen «Revolutionismus» und einem «echten» Reformismus verbunden ist, beruht auf der Anpassung an die reformistischen Illusionen der Massen. Anstatt für ein sozialistisches Übergangsprogramm innerhalb von Arbeiterorganisationen und sozialen Bewegungen zu kämpfen, die von reformistischen Perspektiven dominiert werden, wird die Aufgabe der Sozialisten einfach darin gesehen, diese Bewegungen zu vertiefen und zu radikalisieren, indem Verbindungen hergestellt und kämpferischere Forderungen vorgebracht werden. Dieser Ansatz verwirft Trotzkis Prämisse in Das Übergangsprogramm, dass das Haupthindernis für die sozialistische Transformation eine «historische Krise der Führung des Proletariats» ist (ebd.: 84). Stattdessen wird das Problem so verstanden, dass es heute keine Massenbasis für revolutionäre sozialistische Ideen gibt – dass sich die Massen gut mit dem Leben im Kapitalismus arrangiert haben und sich fortschrittliche soziale Veränderungen nur in dessen Rahmen vorstellen können.

Angesichts dieser Situation besteht der einzige Weg nach vorn darin, «Kapazitäten aufzubauen» und ein sozialistisches Bewusstsein zu entwickeln, indem die Werktätigen in Kämpfe verwickelt werden, die echte Fortschritte innerhalb des Rahmens des Kapitalismus versprechen – kleine Schritte, die ihnen beibringen werden, wie man geht und eines Tages läuft. Diese Vorstellung untermauert die Argumente vieler selbsternannter Leninisten für die Beteiligung an und den Aufbau von Formationen wie der deutschen Linkspartei, dem portugiesischen Linksblock, der spanischen Podemos, der Solidaire in Québec und (am bekanntesten von allen) der griechischen Syriza. Letztlich ist diese Perspektive jedoch eine im Wesentlichen objektivistische, die auf die «spontane» Dynamik des «Kampfes» setzt, um das Bewusstsein zu verändern – genau die Art von Perspektive, die Lenin in seiner Polemik gegen den «Ökonomismus» in seinem klassischen Werk Was tun? kritisierte. Darüber hinaus ist es eine Politik, die nur dazu dient, die «Führungskrise» der Arbeiterklasse zu verschärfen, anstatt sie zu lösen.

In seinem Buch Renewing Socialism und auch an anderer Stelle hat Leo Panitch die logische Konsequenz der neoreformistischen Perspektive, die ich kritisiert habe, dargelegt. Jenseits der Rationalisierungen der «extremen Linken», die eine taktische Versöhnung zwischen revolutionärer und reformistischer Politik anstreben, macht Panitch keinen Hehl aus seiner Ablehnung des so genannten «aufständischen Sozialismus», womit er die revolutionäre marxistische Tradition von Lenin, Luxemburg und Trotzki meint. Obwohl er die zeitgenössische Sozialdemokratie kritisiert, behauptet er, dass deren Ablehnung des Leninismus nach dem Ersten Weltkrieg und der Russischen Revolution grundsätzlich richtig war. Er schreibt: «Die Prämisse, die der sozialdemokratischen Position zugrunde lag – dass eine Aufstandsstrategie im Westen unmöglich war – muss als grundlegend richtig anerkannt werden» (ebd.: 22). Anstatt auf den Sturz des bürgerlichen Staates hinzuarbeiten, «besteht die erste Aufgabe eines demokratischen Sozialismus darin, bei der Neugestaltung des Staates, nicht weniger als beim Aufbau von Bewegungen, die Schaffung demokratischer Kapazitäten aktiv zu fördern» (ebd.: 8).

Als Antwort auf Panitch sind zwei Bemerkungen angebracht. Erstens: Obwohl er seine aufstandsfeindliche Haltung oft mit Zitaten von Antonio Gramsci schmückt, steht seine Position in Wirklichkeit den Ansichten von Reformisten und Zentristen der Vorkriegszeit wie Karl Kautsky und Eduard Bernstein näher. Es lohnt sich, daran zu erinnern, dass diese beiden Herren viele Jahre lang nicht weniger bereit waren, mit selbsternannten Revolutionären in «breitlinken» Parteien zusammenzuarbeiten, als die linken Sozialdemokraten, die vor über einem Jahrzehnt das kanadische «Socialist Project» ins Leben gerufen haben.

Zweitens hätten sich die führenden Vertreter des klassischen revolutionären Marxismus vehement gegen Panitchs Behauptung gewehrt, sie seien Vertreter einer «aufständischen» Strategie. Ein Aufstand ist in gewissem Sinne ebenso wenig eine «Strategie» wie ein Generalstreik oder die Teilnahme an einer Wahl (sei es für das Parlament oder eine Versammlung nach Art der Sowjetunion). Vielmehr ist er im Wesentlichen eine militärisch-technische Operation, eine Taktik von grosser Bedeutung, die der vorletzten Phase des Kampfes der Arbeiterklasse um die Macht angemessen ist. Wie ich schon vor vielen Jahren als Antwort auf Ralph Milibands Kritik an der, wie er es nannte, «aufrührerischen Position» des Trotzkismus dargelegt habe: «Aufständische Aktivitäten können nur in wirklich revolutionären Situationen ins Auge gefasst werden – und diese treten nur periodisch und unter aussergewöhnlichen Umständen auf». Darüber hinaus ist eine wirklich revolutionäre Situation, in der die Machtergreifung der Arbeiterklasse eine unmittelbare Möglichkeit darstellt, gerade eine Situation, in der eine revolutionäre marxistische Avantgarde nicht nur vorhanden ist, sondern auch in der Lage ist, ernsthaft um die Führung der Massenbewegung zu kämpfen. Die Möglichkeit eines erfolgreichen Aufstandes in Abwesenheit einer revolutionären Massenpartei zu verneinen, ist völlig vernünftig. Sie abzulehnen, wenn eine solche Partei «vor Ort» ist (wie es z.B. 1923 in Deutschland der Fall war), hiesse, sich faktisch auf die Seite der «demokratischen Konterrevolution» zu stellen.

Anstatt sich mit theoretischen Abstraktionen zu beschäftigen, die gewaltsam aus den tatsächlichen historischen Umständen herausgeschält werden, müssen die Anhänger der antileninistischen sozialistischen Linken sorgfältig und konkret über die Auswirkungen von Panitchs und Milibands «antiaufständischer» Haltung nachdenken. Vor allem müssen sie sich entscheiden, ob sie – im Kontext von Ereignissen wie der Oktoberrevolution 1917, der deutschen Revolution 1923, der spanischen Revolution 1936 oder der portugiesischen Revolution 1975 – auf der Seite derjenigen stehen, die die Massenbewegung auf konstitutionelle Wege beschränken wollen oder auf der Seite derjenigen, die die Arbeiterklasse zur Eroberung der Staatsmacht führen wollen.

Das grundlegende Problem des linkssozialdemokratischen Ansatzes von Panitch und Miliband besteht darin, dass er sich nicht mit der ganz offensichtlichen Tatsache auseinandersetzt, dass der Kampf für die Abschaffung des Kapitalismus keine leichte Aufgabe ist – dass jeder ernsthafte Kampf auf den entschlossenen Widerstand der Kapitalistenklasse und ihrer Organe auf allen Ebenen stossen wird. Man muss nicht jede einzelne Massnahme verteidigen, die Lenins Bolschewiki nach der sozialistischen Revolution in Russland ergriffen haben, um zu erkennen, dass die grundlegenden Elemente von Lenins Strategie – die Notwendigkeit einer disziplinierten und programmatisch kohärenten «demokratisch-zentralistischen» Partei, ein entschlossenes Engagement für die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines internationalistischen sozialistischen Programms, und eine Perspektive der «Zerschlagung» des bestehenden kapitalistischen Staatsapparats und seiner Ersetzung durch Organe der Arbeitermacht (ein System der «Rätedemokratie») – ganz unverzichtbar sind für jede ernsthafte und entschlossene Anstrengung zum Sturz der kapitalistischen Ordnung und zur Verwirklichung des Sozialismus.

Es bleibt weiterhin die hartnäckige Tatsache bestehen, dass die anti-leninistische reformistische Linke noch keine ernsthafte, geschweige denn überzeugende Alternative zu dem von Lenins Bolschewiki in den Anfangsjahren der Dritten (Kommunistischen) Internationale entwickelten und später von Trotzki und seinen Anhängern nach der stalinistischen Entartung der internationalen kommunistischen Bewegung verfeinerten und erweiterten Programm und Strategie formuliert hat. Anstatt die «Lehren des Oktobers» oder die hart erkämpften Lehren anderer bedeutender Arbeiterrevolten zu beherzigen, stimmen die Radikalen von heute leider viel eher Susan Georges abwertendem Vorschlag zu, dass «eine ‚Revolution‘ des einundzwanzigsten Jahrhunderts vielleicht auf verschiedene Weise stattfinden könnte, aber die Erstürmung des Winterpalastes gehört nicht dazu» (Another World Is Possible If: 93). George, die langjährige Präsidentin des Transnational Institute, äussert sich nicht dazu, wie diese verschiedenen Möglichkeiten aussehen könnten. Sie räumt auch nicht ein, dass die Eroberung des Sitzes der Staatsmacht durch aufständische Kräfte (ob dieser Sitz nun der Winterpalast, Westminster oder das Washingtoner Kapitol ist) eine notwendige, wenn auch nicht völlig ausreichende Bedingung für den Sieg jeder sozialistischen Revolution ist, die diesen Namen verdient. Dennoch besteht der eigentliche Zweck von Georges Argument gegen eine «alles verzehrende, einmalige revolutionäre Transformation» (was immer das auch bedeuten mag) nicht darin, auf die Formulierung einer besseren, «zeitgemässeren» revolutionären Strategie zu drängen, sondern vielmehr darin, die Idee der Vorbereitung einer aufständischen antikapitalistischen Massenbewegung auf eine entscheidende Konfrontation mit den repressiven Agenturen der kapitalistischen Ordnung abzulehnen.

Sie schreibt: «Ich kann mir kaum vorstellen, wie ein solches gigantisches einmaliges Ereignis aussehen oder sich anfühlen könnte, aber die Geschichte legt nahe, dass es nur nach einer Reihe von erschütternden Krisen zustande kommen könnte, bei denen Millionen leiden und Tausende sterben würden…. Ehrlich gesagt, hoffe ich, dass solche traumatischen Ereignisse vermieden werden können.» (93) In dieser einzigen Passage gelingt es George, einen Grossteil des verwirrten Denkens zu destillieren, das nicht nur in der «globalen Gerechtigkeitsbewegung» (deren prominente Anführerin sie ist), sondern auch bei vielen «unabhängigen sozialistischen» Marxisten vorherrscht.

Ein revolutionärer Sozialist – ein Leninist, ein Trotzkist – zu sein bedeutet nicht, auf «traumatische Ereignisse» zu hoffen; es bedeutet, sie zu erwarten und sich auf sie vorzubereiten. Es bedeutet in der Tat, anzuerkennen, dass die Menschheit jetzt mit ihnen lebt und weiterhin mit ihnen leben muss, solange die Herrschaft des Kapitals andauert. Darüber hinaus bedeutet ein revolutionärer Sozialist zu sein, anzuerkennen, dass Massenkämpfe von Arbeitern und anderen Volkskräften periodisch mit der Frage der Staatsmacht konfrontiert werden müssen und dass es zu entscheidenden (und oft blutigen) Auseinandersetzungen kommen wird, unabhängig davon, ob eine revolutionäre Avantgardepartei vorhanden und bereit ist, eine aufständische Massenbewegung zum Sieg zu führen. Lassen Sie mich noch einmal aus meiner Polemik gegen Miliband zitieren:

«Letztlich geht es bei der Frage [nach der Relevanz der Lehren aus der Oktoberrevolution] darum, ob man sich – im Kontext von Episoden wie der Russischen Revolution von 1917, der Spanischen Revolution von 1936 oder der Portugiesischen Revolution von 1975 – auf die Seite derjenigen stellt, die die Massenbewegung auf konstitutionelle Wege beschränken wollen, oder auf die Seite derjenigen, die die Arbeiterklasse zur Eroberung der Staatsmacht führen wollen. Trotzkist zu sein bedeutet, sich schon lange vor solchen revolutionären Situationen darüber klar zu werden, auf welcher Seite man inmitten einer entscheidenden Konfrontation (einer Situation der «Doppelherrschaft») stehen wird, und es bedeutet, die Notwendigkeit zu proklamieren, eine Partei aufzubauen, die es versteht, die Konfrontation entscheidend zugunsten der Arbeitermacht zu lösen. Eine solche trotzkistische Partei wird sich sicherlich auch in nichtrevolutionären Situationen von anderen Organisationen der Linken unterscheiden, aber sie wird dies gerade als eine Organisation von Militanten tun, die sich an breiteren Bewegungen des Kampfes gegen Ausbeutung, Unterdrückung und soziale Ungerechtigkeit beteiligen – und diese Kämpfe mit einem Programm der sozialistischen Transformation verbinden … und durch all das hindurch einen revolutionären Geist kultivieren, der in seinem Kern eine grundlegende Missachtung der verfassungsmässigen Beschränkungen, des rechtlichen Rahmens und der repressiven Organe des kapitalistischen Staates beinhaltet.»

Eine solche Argumentation bedeutet nicht, in Sektierertum zu verfallen oder Luftschlösser zu bauen. Es geht darum, zu betonen, was Susan George selbst sagt, dass «die Geschichte nahelegt», dass nämlich erschütternde Krisen tatsächlich revolutionäre (und konterrevolutionäre) Ereignisse hervorbringen können. Was also George und andere reformorientierte Linke von revolutionären Marxisten unterscheidet, ist weder ihr angeblicher Realismus noch ihre fromme Hoffnung, dass traumatische Ereignisse irgendwie vermieden werden können. Vielmehr ist es ihre Weigerung, die elementare Verantwortung zu akzeptieren, die all jenen obliegt, die sich anschicken, «die Welt zu verändern» – aus den Lehren der Geschichte zu lernen und die politischen Instrumente aufzubauen, die notwendig sind, um echte Siege gegen das Kapital zu erringen.

Ich bin mir bewusst, dass dieses Argument von vielen als ein Appell an das «Sektierertum» gesehen werden wird – das die meisten radikalsozialistischen Linken fälschlicherweise als das Haupthindernis in unserer Zeit für den Aufbau einer wirksamen sozialistischen Massenbewegung ansehen. Aber Sektierertum kann unterschiedlich verstanden werden, und meiner Meinung nach ist das Etikett im Wesentlichen nicht auf Marxisten anwendbar, die die Notwendigkeit der Arbeit innerhalb der Massenorganisationen der Arbeiterklasse (insbesondere der Gewerkschaften) hochhalten, die bereit sind, sich in Einheitsfrontaktivitäten mit anderen Gruppen zu Themen von gemeinsamem Interesse zu engagieren, die sich nicht «aus Prinzip» weigern, Wahlkampagnen als Plattform für sozialistische Ideen zu nutzen, und die bereit sind, mit ihren linken Gegnern in einer Weise zu debattieren, die gegenseitiges Verständnis und prinzipielle Zusammenarbeit nicht ausschliesst. Die Auffassung, dass die Verteidigung revolutionärer marxistischer Ideen von Natur aus sektiererisch ist, ist eine liberale und reaktionäre Vorstellung, die von keinem aufrichtigen Sozialisten gebilligt werden sollte.

Perspektiven

Der Schlüssel zur Wiederbelebung des marxistischen Sozialismus im 21. Jahrhundert muss vor allem in der Wiederbelebung eines echten Internationalismus liegen. Revolutionäre Sozialisten, die für die Ideen von Marx, Engels, Luxemburg, Lenin und Trotzki kämpfen, müssen sich nicht nur um den Aufbau «nationaler» Organisationen kümmern (die zwangsläufig mit sehr unterschiedlichen Bedingungen konfrontiert sein werden), sondern um eine internationale Arbeiterpartei, die ihr Verständnis der ungleichmässigen Entwicklung des globalen Klassenkampfes in ihre strategische Perspektive einbezieht. Ein echter revolutionärer Realismus muss auch anerkennen, dass die Errichtung eines revolutionären Arbeiterstaates in auch nur einem Land der Welt unvergleichlich mehr zur Veränderung des Massenbewusstseins auf globaler Ebene beitragen würde als jedes noch so opportunistische Manöver, das die heutigen Reformisten auf nationalem oder lokalem Terrain durchführen.

Welches Land käme also für eine solche Rolle in Frage? Eigentlich sind es mehrere. Griechenland, Spanien, Venezuela, Bolivien, Südafrika, Indien und Sri Lanka weisen alle auf ihre Weise eine Kombination objektiver und subjektiver Faktoren auf, die für einen revolutionären Aufschwung günstig zu sein scheinen – obwohl ich mich beeilen möchte hinzuzufügen, dass die Arbeiterklasse in keinem dieser Länder auch nur annähernd in der Lage ist, ihre Führungskrise zu überwinden.

Das Land, das meine sozialistische Fantasie am meisten anregt, ist jedoch China, und zwar aus zwei Gründen. Erstens, weil seine Wirtschaft einen Übergangs- oder hybriden Charakter hat, der sozialistische und kapitalistische Elemente kombiniert, und zweitens, weil es ein «bürokratisch deformierter Arbeiterstaat» bleibt, in dem sich kolossale Kämpfe der Arbeiterklasse entfalten, sowohl gegen die herrschende stalinistische Oligarchie als auch gegen aufkeimende kapitalistische Unternehmen. In diesem Zusammenhang möchte ich eine Passage aus meinem Buch Global Capitalism in Crisis: Karl Marx and the Decay of the Profit System zitieren – eine Passage, die meiner Meinung nach mit dem Auftrag des neuen Zentrums für marxistische Studien in globaler und asiatischer Perspektive der Universität York übereinstimmt. In diesem Werk habe ich geschrieben:

«Die Zukunft von Chinas deformiertem Arbeiterstaat und «sozialistischer Marktwirtschaft» bleibt sehr zweifelhaft…. Aber eines ist ziemlich sicher: Entweder rechnet die chinesische Arbeiterklasse mit der stalinistischen Oligarchie ab und errichtet einen revolutionären Arbeiterstaat, der der sozialistischen Demokratie und dem Internationalismus der Arbeiterklasse verpflichtet ist, oder die Oligarchie wird weiterhin den Boden für eine umfassende kapitalistische Konterrevolution bereiten. In jedem Fall wird China auf Gedeih und Verderb die Giesserei sein, in der das Schicksal der Menschheit für einen beträchtlichen Zeitraum geschmiedet werden wird.»

China ist gegenwärtig die Heimat der grössten und kämpferischsten Arbeiterklasse der Welt, und es gibt gute Gründe für die Annahme, dass ihre fortgeschrittenen Sektoren, die chinesischen Arbeiter mit dem am weitesten entwickelten sozialistischen Bewusstsein, versuchen werden, an die besten Traditionen des revolutionären Marxismus anzuknüpfen und sie wiederzubeleben. Meiner Ansicht nach wird ihre Suche nach einem Weg nach vorne, um sowohl die verbleibenden Errungenschaften der sozialen Revolution Chinas zu verteidigen als auch den Kampf für den Weltsozialismus voranzutreiben, in keiner Weise durch die Aktivitäten und Ideen westlicher Reformisten unterstützt werden – angebliche Linke, die vor allem eine perfektere liberale Demokratie innerhalb des Kapitalismus wollen; die Illusionen in pro-imperialistische, wirtschaftsnationalistische Politiker wie Bernie Sanders nähren; die Allianzen mit vermeintlich fortschrittlichen Elementen der Kapitalistenklasse suchen; oder die die klassische sozialdemokratische Vision einer breiten Partei wiederbeleben wollen, die Reformisten und Revolutionären gleichermassen eine Heimat sein kann. Noch weniger werden sie von jenen westlichen Sozialisten unterstützt werden, die die Errungenschaften der Revolution von 1949 abschreiben, die sich weigerten, Mao Zedongs China gegen den Imperialismus zu verteidigen, weil es «staatskapitalistisch» sei, oder die jetzt das postmaoistische China als kapitalistisch und imperialistisch denunzieren.

Damit China zu einem sozialistischen Leuchtturm für die Welt wird, muss die Avantgarde der chinesischen Arbeiterklasse ermutigt werden, die Prinzipien, strategischen Grundsätze und historischen programmatischen Errungenschaften des revolutionären Marxismus als feste Grundlage für ihre künftigen Kämpfe zu übernehmen. Und dies wird meiner Meinung nach viel wahrscheinlicher sein, wenn die Möchtegern-Sozialisten im Westen ihre eigene Verantwortung ernst nehmen, wieder eine weltweite Bewegung zu schmieden, die sich demselben revolutionären marxistischen Erbe verpflichtet fühlt.

#Bild: Feierliche Eröffnung des II. Kongresses der Komintern am 19. Juli 1920, Isaak I Brodski (1883-1939), Sowjetunion, 1924 FOTO: STAATLICHES HISTORISCHES MUSEUM, MOSKAU

Quelle: murraysmithorg… vom 18. Juni 2022 ; Übersetzung und Zwischentitel durch Redaktion maulwuerfe.ch

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