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Hamas-Überfall: Lange Vorwarnzeit für Regierung, Öffentlichkeit und Militär

Eingereicht on 6. Dezember 2023 – 10:10

Florian Rötzer. Überraschend war der 7. Oktober nicht gekommen, wofür es immer mehr Beweise gibt. Warum ließ man es geschehen oder schaute weg?

Es wird immer deutlicher, woran auch die israelischen Medien arbeiten, dass der groß angelegte Angriff auf Israel aus dem Gazastreifen am 7. Oktober keineswegs überraschend gekommen ist. Schon vor einem Jahr war den israelischen Sicherheitskräften ein 40seitiges Dokument bekannt geworden, berichtete die New York Times, in dem detailliert unter dem Titel Jericho Wall beschrieben wurde, wie Militante nach Ausschaltung des Sicherheitszauns nach Israel eindringen wollten.

Angeblich wurde das von der israelischen Regierung nicht ernst genommen. Man sah die Palästinenser angeblich nicht in der Lage, eine solch große und komplizierte Aktion auszuführen. Das lässt vermuten, dass man rassistisch die Palästinenser für zu blöd hielt und/oder dass man andere Präferenzen hatte, d.h. das Westjordanland weiter zu besiedeln und die Palästinenser dort einzuschüchtern und zu vertreiben, weswegen von der Netanjahu-Regierung dorthin auch Einheiten des Militärs von der Grenze zum Gazastreifen verlegt wurden.

Eine BBC-Sendung hat darauf aufmerksam gemacht, dass Hamas und andere militante Gruppen für den Angriff schon seit drei Jahren geübt haben. Das geschah auch gar nicht heimlich, Fotos und Bilder wurden in Sozialen Netzwerken verbreitet. Auf Videos ist zu sehen, dass Hamas-Kämpfer in nachgebauten israelischen Siedlungen üben, in sie eindringen,  von Raum zu Raum gehen und Menschen töten sowie Zivilisten und Soldaten verschleppen. Eine dieser Siedlungen war ganz im Norden an der Grenze zu Israel, gerade mal einen Kilometer vom Grenzübergang Erez entfernt. Hier gab es auch einen Übungspanzer.

Gerade kamen wieder neue Informationen im israelischen Sender Channel 12 auf, die belegen, dass Warnungen nicht zur Kenntnis genommen wurden, geschweige denn, dass darauf reagiert wurde. Der Fernsehsender wies überdies darauf hin, dass es in einem auf Informationen gestützten Bericht vor einem Jahr um eine von Hamas geplante Invasion und Entführungen ging. Im Juli 2022 hat danach, wie Times of Israel berichten, der Geheimdienstoffizier der Gaza-Divison eine Präsentation über den „Hamas-Plan einer massenhafte Invasion“ vorbereitet. 20 Hamas-Einheiten, die von Ingenieur-Einheiten begleitet werden, um den Sicherheitszaun an mehreren Orten zu zerstören, würden in Südisrael eindringen. Das sei die größte Bedrohung, mit der die israelische Armee konfrontiert sei.

Drei Monate vor dem 7. Oktober wurde auf einer Diskussion des Militärgeheimdienstes noch darüber gesprochen. Brigadegeneral Peh sagte damals: „Wir können nicht sagen, wie (Hamas-Chef) Sinwar handeln wird, daher sollten die Kommandeure im Feld die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen ergreifen.“ Der Kommandeur der Gaza-Division hatte noch am 1. Oktober einen Lagebericht angefordert, in dem es hieß, dass es  einen „starken Anstieg der Übungen bei den Nukba-Streitkräften“ gebe. Es würden sechs Hamas-Bataillone in Nordgaza und Khan Younis ein- oder zweimal die Woche üben. Der Geheimdienstoffizier der Division hat aber abgewiegelt, im Moment laufe es auf ein Arrangement und eine Beruhigung der Unruhen zu. In der Nacht vom 6. auf den 7. Oktober, sei, so Channel 12, eine allerdings wenig konkrete Email von einem Stützpunkt an der Gaza-Grenze geschickt worden, dass „bestimmte Hinweise aus Gaza“ kämen. Auch der Geheimdienst Shin Bet erkannte Hinweise, dass sich etwas zusammenbraut.

Und noch vor dem Beginn des Angriffs sei der Stabschef  um 3:30 Uhr am morgen aufgeweckt worden, um über diese Hinweise informiert zu werden. Der Stabschef berief 90 Minuten später eine Telefonkonferenz ein, auf der die Hinweise auf einen möglicherweise bevorstehenden Angriff diskutiert worden seien. Zuvor war er noch von General Basiuk informiert worden, der erklärte, es gebe noch keine „zufriedenstellenden Erklärungen“ für die Hinweise. Der Stabschef befahl nicht die Einleitung von Vorbereitungen, sondern lediglich, dass die Informationen noch einmal geprüft werden sollten. An der Lagebesprechung am Telefon hatte seltsamerweise der Militärgeheimdienstchef Halevi, der sich im Urlaub befand, nicht teilgenommen. „Selbst wenn ich an der Beratung mit dem Stabschef teilgenommen hätte“, erklärte er später, „hätte es schließlich nichts geändert: Ich hätte gesagt, dass es wahrscheinlich eine Übung war, dass die Hinweise schwach waren und wir den Morgen abwarten sollen. Am Endergebnis hätte es überhaupt nichts geändert.“ Zumindest hätte man die Veranstalter der Rave-Veranstaltung an der Grenze zum Gazastreifen warnen können. Hier hatten die Angreifer, nachdem sie zufällig davon erfuhren, ein Massaker angerichtet.

Am 6. Juli warnte auch eine Offizierin in einer Email „Tod im Kibbuz zu jedem Preis“ ihre Vorgesetzten. Hamas habe Übungen abgehalten, u.a. in einem Trainingskibbuz, aber auch für die Einnahme eines IDF-Stützpunkts. Ein hoher Geheimdienstoffizier nahm es nicht ernst: Das beschriebene Szenario sei eine „komplette Fantasie“, man müsse „unterscheiden, was Hamas zum Angeben und zur Show mache und was real ist“.

Militär und Geheimdienste waren mithin nicht in Unkenntnis über den Angriff, sie wiegten sich angeblich nur in Sicherheit. Aber auch die Politik und die Öffentlichkeit sollten Kenntnis gehabt haben. Waren alle abgelenkt durch die großen Proteste gegen die „Justizreform“ der Netanjahu-Regierung bzw. wegen der Zerrissenheit der Gesellschaft? War es nur Geringschätzung der Fähigkeiten der Palästinenser oder der Glaube, durch den teuren Sicherheitszaum um Gaza vor Überraschungen geschützt zu sein?

War man aufgrund der neuen Netanjahu-Regierung, die den Siedlungsbau im Westjordanland vorantreiben und Palästinenser dort vertreiben wollte, abgelenkt, zumal sich hier gegen die zunehmenden Übergriffe eine neue militante Widerstandsbewegung entwickelte hatte? IDF-Einheiten wurden jedenfalls von der Gaza-Grenze ins Westjordanland versetzt. Probleme mit Gaza hätten vielleicht nur gestört. Oder wurde gar ein Überfall von Hamas in Kauf genommen, der wegen des Sicherheitszauns vielleicht nur als geringfügig eingeschätzt wurde, um einen Anlass zu haben, verschärft gegen die Palästinenser vorzugehen oder eine Notlage auszurufen, mit der man auch die Proteste hätte unterbinden können? Auch im Schatten des Gaza-Krieges wurden bereits im Westjordanland tausende Palästinenser, angeblich alles gesuchte Terroristen und Hamas-Anhänger, festgenommen und über 230 erschossen, darunter auch Kinder.

Netanjahu versucht, die Schuld auf die Protestbewegung und auf das Militär und die Geheimdienste abzuwälzen. Für eine Aufklärung sei jetzt keine Zeit. Das sagen auch IDF und Geheimdienste. Da kommt der Krieg also nicht ungelegen, auch nicht, wenn er länger dauern sollte. In Israel scheint weniger das Problem zu sein, dass im Gazastreifen Tausende von Palästinensern, meist Frauen und Kinder, bei der versuchten Auslöschung von Hamas sterben müssen. Da spielt sicher Angst und Rache wegen der brutalen Abschlachtung von Kindern, Alten und Frauen, von denen viele vor ihrem Tod vergewaltigt wurden, eine verständliche Rolle. Aber wenn Netanjahu und das Kriegskabinett die Geiseln nicht retten, sondern sie als Kollateralschaden bei der Vernichtung der Hamas wie die Palästinenser im Bombardement oder in den Tunneln sterben lassen, dürfte das zu massiven Protesten und Aufruhr führen.

#Titelbild: Die Präsentation des Gaza-Divisionskommandanten über die geplante Invasion der Hamas. Bild: Channel 12

Quelle: overton-magazin.de… vom 6. Dezember 2023

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