Kenia: Massenproteste gegen Regierung führen zu Blutbad in Nairobi
Kipchumba Ochieng. Millionen Menschen haben an Massenprotesten gegen ein Finanzgesetz in Kenia teilgenommen, das massive Sparmaßnahmen vorsieht. Der kenianische Präsident William Ruto hat daraufhin das Militär mobilisiert. In einer Fernsehansprache bezeichnete er die Demonstranten als „Verräter“ und „gefährliche Kriminelle“ und erklärte, er werde „jede Bedrohung als existenzielle Bedrohung für unsere Republik behandeln“.
In den frühen Morgenstunden umzingelten Demonstranten das Parlamentsgebäude in der Hauptstadt Nairobi, um die Wirtschaft lahmzulegen und Ruto zu zwingen, seine Pläne zurückzunehmen. Diese sehen vor, zusätzliche Steuern in Höhe von zwei Milliarden Dollar von den Arbeitern und der armen Landbevölkerung zu erheben, so wie es vom Internationalen Währungsfonds (IWF) diktiert wurde.
Die überwiegend jungen Demonstranten ließen sich jedoch nicht einschüchtern – weder durch die Androhung von Polizeigewalt noch von der Abschaltung des Internets und der Verhaftung von Hunderten Personen im Lauf der letzten Woche sowie der Entführung von mindestens sieben Bloggern, Aktivisten und politischen Social-Media-Influencern.
Sie waren sich vollauf bewusst, dass sie sich einem blutigen Regime widersetzen, das bei den Protesten gegen Sparmaßnahmen im letzten Jahr 75 Demonstranten erschießen ließ. Außerdem hat die vom Westen unterstützte Diktatur von Daniel Arap Moi zahllose linke Arbeiter und Studenten durch die Staatspolizei verschwinden lassen.
Nachdem die Abgeordneten das Spardiktat verabschiedet hatten, das nur noch von Ruto unterzeichnet werden muss, stürmten Demonstranten am Nachmittag das Parlament und setzten Teile davon in Brand. Außerdem zündeten sie ein Polizeifahrzeug an. Die Abgeordneten flohen durch unterirdische Tunnel oder versteckten sich in Krankenwagen.
Vor dem Parlamentsgebäude setzte die Polizei scharfe Munition, Tränengas und Schlagstöcke ein, wobei mindestens 14 Demonstranten getötet wurden. Berichten zufolge schossen Scharfschützen der Polizei von den Dächern aus auf Demonstranten.
Im Kenyatta National Hospital, dem zentralen Krankenhaus von Nairobi, wurden mehr als 200 Menschen mit Schusswunden behandelt. Hunderte Demonstranten wurden verhaftet und möglicherweise Tausende verwundet.
Im ganzen Land kam es zu Massenprotesten. Es beteiligten sich viele Bevölkerungsgruppen, obwohl die herrschende Klasse systematisch ethnische Konflikte schürt. Die Demonstranten legten den Verkehr lahm und zwangen größere Geschäfte in Nairobi, Kisumu, Mombasa Kakamega, Nakuru und sogar Kericho den Betrieb einzustellen. In der Stadt Kericho rissen Einwohner das Schubkarrensymbol von Rutos Partei herunter. Die am häufigsten gehörten Parolen waren „[Finanzgesetz] ablehnen“ und „Ruto muss weg“.
In Rutos Heimatstadt Eldoret wurden das Bezirksgericht und Polizeiwachen in Brand gesteckt.
Im Nairobi Central Business Disctrict (CBD) blieben die meisten Geschäfte den ganzen Tag lang geschlossen. Die Polizei versuchte am Morgen, die Demonstranten mit Tränengas auseinanderzutreiben. Nachdem dies scheiterte, zogen Zehntausende durch das Business-Viertel und behinderten den ganzen Tag den Verkehr auf den Hauptverkehrsadern.
Auch in Los Angeles und Washington D.C. in den USA sowie in London kam es zu kleineren Protesten, angeführt von der kenianischen Diaspora.
KTN News und andere Medien erklärten, sie hätten von der Regierung die Anweisung erhalten, nicht mehr über die Proteste zu berichten. Die Behörden verlangsamten zudem den ganzen Abend über das Internet. Social-Media-Seiten wie X/Twitter wurden abgeschaltet.
Der Volksaufstand hat die Regierung und die gesamte herrschende Klasse Kenias erschüttert. Er hat bei den Regierungen Afrikas und weltweit Befürchtungen über einen Ausbruch von Massenopposition geweckt. Angetrieben wird die Opposition von der globalen Krise des Kapitalismus, die zunächst durch die Corona-Pandemie, danach durch den US-Nato-Krieg gegen Russland und nun durch den israelischen Völkermord an den Palästinensern verschärft wurde.
Letzten Dienstag begannen in Nairobi kleine Proteste, die sich schnell zu einer Massenbewegung ausweiteten. Bis Donnerstag hatten sich die Demonstrationen auf mehrere Großstädte ausgebreitet, während die Abgeordneten das Finanzgesetz in zweiter Lesung verabschiedeten. Der Tag endete mit der Erschießung eines 29-jährigen Demonstranten, woraufhin Rufe nach einer landesweiten Lahmlegung der Wirtschaft lauter wurden. In den sozialen Netzwerken verbreitete sich ein Poster, das zu einem landesweiten Streik aufrief.
Klinikmitarbeiter, die seit mehr als 85 Tagen streiken, haben sich den Protesten angeschlossen und sich bereit erklärt, medizinische Notfallteams zu stellen. Beschäftigte des Nairobi Women’s Hospital, eines der größten Krankenhäuser in Nairobi, traten wegen ausstehender Löhne in den Streik.
Trotz dieser begrenzten und isolierten Aktionen hindert der Gewerkschaftsapparat die Arbeiter daran, sich mit eigenen Forderungen an der Bewegung gegen den Sparkurs zu beteiligen, auch wenn viele Gewerkschaftsmitglieder an den Protesten teilnehmen.
Die Gewerkschaften sind keine Werkzeuge, um den Klassenkampf zu führen, sondern Anhängsel der Arbeitgeber und der Regierung, um ihn zu unterdrücken. Sie haben sich geweigert, Zehntausende Arbeiter in der Produktion, der Lebensmittelverarbeitung, der Chemieindustrie und der Kunststoff- und Metallbranche im Industriegebiet von Nairobi zu mobilisieren.
Im ganzen Land könnten Hunderttausende Lehrer und Beschäftigte des Gesundheitswesens mobilisiert werden, die in den letzten fünf Jahren immer wieder gegen niedrige Löhne und prekäre Arbeitsverträge gestreikt haben. Im Hafen von Mombasa könnten 6.000 Arbeiter Rutos Privatisierungspläne vereiteln und die ganze Region zum Erliegen bringen. Tausende von Beschäftigten in der Luftfahrt könnten den kenianischen Luftraum lahmlegen. In den ländlichen Gebieten könnten Millionen von Tee-, Kaffee- und Gartenbauarbeitern streiken – in einem Land, in dem 60 Prozent der Einnahmen aus dem Agrarsektor stammen.
Stattdessen verteidigte der Generalsekretär der Central Organization of Trade Unions (COTU), Francis Atwoli, das Finanzgesetz und erklärte: „Die Leute müssen überall Steuern zahlen, und wenn wir Steuern zahlen und das Geld ordnungsgemäß verwendet wird, können wir das Problem der Kreditaufnahme umgehen.“
Die COTU besteht aus 36 Gewerkschaften, die mehr als 1,5 Millionen Arbeiter repräsentieren, jedoch in der Vergangenheit immer wieder Streiks und Proteste unterdrückt haben, zuletzt Anfang des Jahres den Streik von 4.000 Ärzten.
Ruto bereitet die Einführung weiterer Polizeistaatsmaßnahmen vor, darunter das Versammlungs- und Demonstrationsgesetz 2024, das einschränkt, wo Proteste stattfinden können, und für „Verstöße“ drakonische Strafen von bis zu 770 Dollar festlegt, was einem halben durchschnittlichen Jahreslohn entspricht.
Der stellvertretende Präsident Rigathi Gachagua schürt in Zentral-Kenia kommunalistische Politik, indem er das Stammesdenken der Kikuyu propagiert, um einen Keil in die Arbeiterklasse und die unterdrückten Massen zu treiben.
Regierungssprecher Isaac Mwaura hat die Demonstranten beschuldigt, sie würden von „ausländischen Kräften“ manipuliert, wobei er versteckte Andeutungen in Richtung Russland und den USA machte, die Kenia erst vor wenigen Wochen zu einem Verbündeten außerhalb der Nato erklärt hatten.
Präsident Biden hatte während Rutos Besuch erklärt: „Amerika und Kenia: Durch Entfernung getrennt. Durch demokratische Werte vereint.“ Am Dienstag zeigte sich auf den blutbefleckten Straßen Nairobis, was von diesen „demokratischen“ Werten zu halten ist. Zudem hat Ruto 400 Polizisten nach Haiti entsandt, um im Auftrag des US-Imperialismus die Bevölkerung des Karibikstaats zu terrorisieren.
Die entstehende Protestbewegung ist nicht nur eine Herausforderung für Ruto und seine Regierung, sondern für das gesamte politische Establishment, einschließlich der Opposition der Azimio-Koalition unter Führung des Millionärs Raila Odinga, die bei den Demonstrationen durch Abwesenheit glänzte.
Letztes Jahr hatte Odinga den massiven Widerstand gegen Ruto wegen des Finanzgesetzes 2023 beendet, als die Gefahr bestand, dass die Bewegung mit den Beschäftigten im öffentlichen Dienst zusammenkommen könnte, die zum Streik aufgerufen hatten. Odinga gehört zu den 0,1 Prozent der kenianischen Bevölkerung (8.300 Personen), die laut Oxfam mehr Vermögen besitzen als die unteren 99,9 Prozent (mehr als 48 Millionen Menschen).
Als vermeintliche Widerstandsgeste verließen die Abgeordneten von Azimio am Dienstag das Parlament und schlossen sich den Demonstranten an. Sie erklärten, Änderungen an dem Finanzgesetz wären sowieso gescheitert.
Die Bewegung ist eine Bedrohung für andere autoritäre ostafrikanische Regime wie in Uganda und Ruanda, wo ähnliche Bedingungen herrschen wie in Kenia. Beide Länder werden von despotischen Verbündeten der USA regiert – Paul Kagame in Ruanda und Yoweri Museveni in Uganda.
Anfang Juni brachte in Nigeria, dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas, ein Streik der Beschäftigten in den wichtigen Umspannwerken und der Luftfahrtbranche für höhere Löhne das Land zum Erliegen, da der Strom ausfiel und die großen Flughäfen geschlossen wurden. Der nigerianische Präsident Bola Ahmed Tinubu hatte die Treibstoffsubventionen abgeschafft und die Währung Naira abgewertet, was die Inflation auf die höchste Marke seit 28 Jahren ansteigen ließ.
Der Widerstand ist auch eine Bedrohung für das Großkapital und das globale Kapital, einschließlich des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, die versuchen, die Arbeiter für die kapitalistische Krise zahlen zu lassen. Ähnliche Maßnahmen setzen sie in Argentinien, Sri Lanka, Pakistan und anderswo durch.
Bisher ist die Bewegung politisch amorph und nur vereint um die Parole „Ruto muss weg“. Sie wird bisher dominiert von kleinbürgerlichen Teilen der Menschenrechts- und Anti-Korruptions-Aktivisten und Influencer, von denen viele an die Abgeordneten appellieren, die Verabschiedung des Gesetzes zu verhindern. Sie werfen den Politikern Verrat und fehlenden Patriotismus vor und beharren auf den Grundsätzen „keine Politik“ und „keine Führung“, was in der Arbeiterklasse Anklang findet, weil „Politik“ mit der verhassten kapitalistischen Elite assoziiert wird.
Doch in der Forderung nach einem „landesweiten Streik“ kommt die Erkenntnis zum Ausdruck, dass die Arbeiterklasse mobilisiert werden muss.
Aufrufe zu einer „demokratischen Revolution“ gegen das politische Establishment sind jedoch eine Sackgasse.
Leo Trotzkis Theorie der permanenten Revolution zeigt, dass die kolonialen und halbkolonialen Völker keines ihrer grundlegendsten Bedürfnisse – Freiheit von imperialistischer Unterdrückung, demokratische Rechte, Arbeitsplätze, soziale Gleichheit und ein Ende des geschürten Tribalismus – unter der Führung eines Teils der nationalen Bourgeoisie erfüllen können, weder unter Ruto und Raila noch irgendeiner anderen Marionette des Imperialismus.
Trotzki betonte, dass in der Epoche des Imperialismus die Verwirklichung der grundlegenden demokratischen und nationalen Aufgaben in den unterdrückten Nationen die Machtübernahme durch die Arbeiterklasse erfordert, der einzigen gesellschaftlichen Kraft, die der imperialistischen Vorherrschaft ein Ende setzen kann. Dies ist nur möglich im Rahmen des Kampfs für die sozialistische Weltrevolution, um alle Ressourcen der nationalen und internationalen Wirtschaft unter die Kontrolle der Arbeiter und unterdrückten Massen zu stellen.
#Titelbild: Die kenianische Polizei setzt Wasserwerfer ein, um Proteste in Nairobi gegen die geplanten Steuererhöhungen auseinanderzutreiben, 25. Juni 2024 [AP Photo/Brian Inganga]
Quelle: wsws.org… vom 28. Juni 2024
Tags: Afrika, Arbeiterbewegung, Arbeitswelt, Gewerkschaften, Imperialismus, Kenia, Neoliberalismus, Steuerpolitik, Widerstand
Neueste Kommentare