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Gab es keine Alternative zum Stalinismus?

Eingereicht on 15. Oktober 2017 – 14:34

Eric Blanc. Gegen ein Jahrhundert lang hat der Aufstieg des Stalinismus das emanzipatorische Projekt der Revolution von 1917 verdunkelt.

Liberale und konservative Kritiker bestehen darauf, dass diese Wende – der Aufstieg einer politischen und gesellschaftlichen Tyrannei nach der Revolution und dem Bürgerkrieg – beweist, dass jeder Versuch eines Sturzes des Kapitalismus notwendigerweise in eine brutale Diktatur führen muss. Gemäss dem Historiker Bruno Naarden beispielsweise «sollten die Entwicklungen nach der Oktoberrevolution zeigen, was geschieht, wenn der Staat und die Gesellschaft ohne die bürgerliche Elite klarkommen müssen».

Angesichts des Vorherrschens solcher Auffassungen bleibt eine ernstzunehmende Erklärung für die Niederlage der Russischen Revolution eine zentrale Aufgabe für revolutionäre Marxisten und Marxistinnen.

Das emanzipatorische Potential der Arbeiterklasse

Das befreiende Potential von Arbeitermacht kann aus den ersten Monaten der Sowjetmacht nach der Oktoberrevolution ersehen werden, wie auch aus der Roten Räteregierung in Finnland, die kurz darauf entstand.

Millionen von Arbeitern, Landarbeiterinnen und Bauern ergriffen am Arbeitsplatz, in ihrer Umgebung und im Staate die Macht. Mit dem Sturz der alten Obrigkeiten breitete sich eine Massenbeteiligung an allen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens in einem bisanhin nicht gekannten Ausmass aus. Angesichts der Sabotage und der Desertion von Regierungsbeamten und kapitalistischen Managern, griffen die arbeitenden Menschen und Revolutionäre zu und übernahmen Verantwortung, um das Vakuum auszufüllen. Selbstverwaltung von der Basis her wurde zur Norm.

Unmittelbar nach dem Oktober drängten die Bolschewiki und andere radikale Sozialisten auf eine Ausweitung der Revolution auf ganz Russland und auf das Ausland. Nach deren Auffassung stellte die Oktoberrevolution den vorgeschobenen Brückenkopf der Weltrevolution dar – ohne die internationale Asuweitung der Arbeiterkontrolle, so argumentierten sie, war die Russische Revolution zum Untergange verurteilt.

Obwohl es den Bolschewiki und ihren Verbündeten weitgehend gelang, die Herrschaft der Sowjets in Zentralrussland zu sichern, so blieben ihre Erfolge in der Peripherie des russischen Herrschaftsgebietes und darüber hinaus beschränkt. Im Sommer 1918 waren die Regierungen der Sowjets in der Ukraine, in Lettland, Estland, Baku gestürzt worden wie auch die finnische Rote Räteregierung; dies mit vereinter Anstrengung der deutschen Regierung, der einheimischen Bourgeoisie und der gemässigten Sozialisten.

Dieses Unvermögen, den früheren vom Imperialismus an den Rändern Russlands geschaffenen cordon sanitaire zu durchbrechen, verlängerte den zerstörerischen Bürgerkrieg, der insbesondere in den Grenzgebieten des früheren zarstischen Imperiums wütete.

Der Elan der Revolution zugunsten von Demokratisierung des gesellschaftlichen und politischen Lebens kam angesichts des Bürgerkrieges, der Intervention zahlreicher ausländischer Mächte – darunter der USA, Englands, Frankreichs, Japans – und des wirtschaftlichen Zusammenbruches  zum Erliegen. Dabei muss man sich daran erinnern, dass die Bolschewiki ein Land erbten, das bereits am Rande der Auflösung stand.

In dieser Situation einer imperialistischen Einkreisung Russlands, einer sich vertiefenden wirtschaftlichen Katastrophe und der aktiven Sabotage durch die Kapitalisten und die Intelligentsia stellten die regierenden Bolschewisten in Baku im November 1917 fest, «dass nirgendwo eine Regierung unter so komplexen und schwierigen Bedingungen arbeiten müsse».

Im Verlaufe von 1918 brach die Industrie noch mehr ein. Die Verbindungen zwischen Stadt und Land lagen in Trümmern; Hunger, Krankheit und Demoralisierung breiteten sich wie eine Seuche aus. Die Lebensbedingungen in dem einstigen zaristischen Reich wurden beinahe unbeschreiblich katastrophal und stellten selbst die Krisen der vorhergehenden Periode in den Schatten. Die Arbeiterdemokratie konnte unter solchen Bedingungen kaum überleben, geschweige denn aufblühen.

Fast nur Feinde der Arbeiterklasse

Wir möchten auf folgenden Brief von Yakov Sheikman, einem 27-jährigen bolschewistischen Führer in Kasan, einer mehrheitlich muslimischen Stadt an der südlichen Wolga als einer aufrichtigen Beschreibung dieses historischen Momentes hinweisen. Er fürchtete, in der Schlacht zu fallen und schrieb an seinen Sohn im Kleinkindalter folgende Zeilen, wo er den Verlauf des Kampfes erläutert, für den er sich entschloss, sein Leben zu wagen:

Lieber Emi, wir sind also umzingelt. Vielleicht muss ich sterben. Jeden Augenblick erwartet uns die Gefahr. Deshalb entschloss ich mich, dir zu schreiben. Du kannst dir vorstellen, wie schwierig alles war [nach dem Oktober], denn wir mussten gleichzeitig alles niederreissen, alles neu aufbauen und uns der Feinde erwehren, die es an grimmigem Hass gegen uns nicht mangeln liessen. Das ganze Land war in die Flammen des Bürgerkrieges getaucht…

Die Bourgeoisie und ihre Lakaien zogen überall Hinterhalte auf. Die Sabotage nahm unglaubliche Formen und riesige Ausmasse an. Die Intelligentsia, die die Bourgeoisie klaglos unterstützte, wollte nicht der Arbeiterklasse dienen. Als ob dies nicht genügte, schloss sie sich einem Bündnis mit der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse an…

Die Konterrevolution schlug in Russland schmerzlich zu. Die Sowjetmacht jedoch wehrte die auf sie von allen Seiten niederprasselnden Schläge mutig ab und ging bald in die Offensive. Wo immer unsere Feinde die Oberhand hatten, gab es keine Gnade für uns. Aber wir zeigten ebenfalls keine Gnade.

Unter solchen Umständen  wurde der Prozess der gesellschaftlichen und politischen Demokratisierung schnell den militärischen Anstrengungen, um die Konterrevolution zu besiegen wie auch dem verzweifelten Kampf zur Ernährung der Städte und der neugeschaffenen Rote Armee untergeordnet.

Alle Anstrengungen waren auf das politische Überleben gerichtet – so  lange wie möglich auszuhalten, bis dass die Arbeitermacht im Westen neue politische Horizonte eröffnen würde. Im ehemaligen Zarenreich versank die Selbstverwaltung nun unter der Bürokratisierung und einem Autoritarismus. Als Sheikman auf diese Dynamik einging, klagte er, dass « es bei den sowjetischen Beamten eine Menge von Verkommenheit gibt (nicht bei allen natürlich, aber bei vielen) ».

Das tote Gewicht auf der Arbeiterdemokratie

Vergleicht man die verheerenden sozialen Zustände über das ganze ehemalige Zarenreich, so wird deren tödliches Gewicht auf den politischen Optionen sichtbar.

Die Verfechter der Idee, dass die diktatorische Wende der Russischen Revolution der Strategie Lenins und der Bolschewiki angeblich inhärent sei, müssen vorerst erklären, weshalb deren politische Gegner – einschliesslich russischer und nicht-russischer Liberaler, Nationalisten, gemässigter Sozialisten und der Anarchisten – zu ähnlichen antidemokratischen Methoden griffen, wenn sie mit dem Bürgerkrieg und vergleichbaren politischen Bedrohungen ihrer Herrschaft konfrontiert waren.

Der russische Historiker Vladimir Sapon kommt in seiner neuen Studie über den libertären Sozialismus in Russland hinsichtlich des Sturzes der Sowjetdemokratie zum Schluss, dass dieser vor allem den katastrophalen Bedingungen geschuldet sei, die Ende 1918 vorherrschenden:

Diese Auffassung wird durch die Tatsache bestätigt, dass in den Gebieten, wo die Anarchisten und die linken Populisten ihre politische Hegemonie in der Zeit der ersten Sowjetregierung festigten, diese nicht weniger zur Parteiherrschaft neigten als die Bolschewiki in ganz Russland.

Die Erfahrungen der kurzlebigen finnischen Roten Arbeiterregierung weisen in die selbe Richtung. Die sozialistischen Führer Finnlands waren 1918 ideologisch fraglos an die traditionelle Unterstützung des orthodoxen Marxismus für Parlamentarismus, allgemeines Wahlrecht und politischer Freiheit gebunden.

Wie dies für die ersten Wochen der Sowjetherrschaft in Zentralrussland galt, so scheute die frühe Arbeiterregierung Finnlands vor diktatorischen Methoden zurück und ging mit ihren politischen Gegnern grossherzig um. Und es würde grösste Mühe bereiten, eine demokratischere Verfassung zu finden als diejenige, die durch die finnischen Marxisten nach deren Machtergreifung vom Januar 1918 angenommen wurde.

Doch während die finnischen Sozialisten weiterhin ihre demokratische Theorie und Ziele verteidigten, so waren sie letztendlich doch durch die Dynamik des brutalen Bürgerkrieges und einer gnadenlosen Konterrevolution gezwungen, zunehmend auf autoritäre Praktiken zurückzugreifen.

Ein erster früher Schritt in diese Richtung war die Schliessung und das Verbot der nicht-sozialistischen Presse im frühen Februar. Kurz darauf wurden auch die Zeitungen der gemässigten Sozialisten verboten, die den Januaraufstand und die Rote Arbeiterregierung nicht unterstützt hatten.

Nicht wie in Russland blieb die finnische Rote Arbeiterregierung von Anfang bis Ende ein Einparteienstaat, da sich alle anderen Parteien weigerten, deren Legitimität anzuerkennen. Obschon die Zahl ihrer Opfer im Vergleich zu den Weissen verschwindend klein war, so wurde ein roter Terror gegen die Bourgeoisie und ihre Verbündeten entfesselt, der über 1’500 Leben kostete.

Im Zeitraum von nur wenigen Monaten glich die Regierung zunehmend einer Militärdiktatur. Am 10. April reorganisierte sich die Regierung in einer verzweifelten Anstrengung unter einem hyper-zentralisierten Militärkommando, um die erlittenen Niederlagen rückgängig zu machen; dabei erlangte der Führer der Sozialisten, Kullervo Manner, persönliche diktatorische Vollmachten. Die Presse der finnischen Sozialisten argumentierte, dass «Krieg Krieg ist, mit seinen eigenen Gesetzen und seinen eigenen Erfordernissen, die nicht im Einklang stehen mit Erfordernissen der Menschlichkeit».

Trotz des zunehmend autoritären Charakters der von Revolutionären angeführten Regimes im ehemaligen Zarenreich macht es keinen Sinn, die beiden Parteien im Bürgerkrieg einander gleichzusetzen.

Die diktatorischen Methoden konnten und wurden angewandt, um einander gegenüberstehende soziale Ordnungen aufrechtzuerhalten oder zu stürzen.

Der Verweis auf den entscheidenden Einfluss der objektiven Bedingungen für die Herausbildung eines autoritären Militarismus auf allen Seiten der blutigen Konflikte dieser Periode jedoch entbindet nicht von der Einsicht, dass die Bolschewiki und die finnischen Sozialisten nach 1917 fragwürdige Entscheide getroffen haben.

Darunter beispielsweise die Neigung der Bolschewiki, viele der ad-hoc unter den Bedingungen des Bürgerkrieges getroffenen diktatorischen Massnahmen theoretisch zu begründen. Obgleich diese Methode der ideologischen Kodifizierung wichtig gewesen sein mag, um die anstehenden Schlachten zu gewinnen, so hatten dadurch die Führer und die Kader der Partei grössere Schwierigkeiten, die Bürokratie nach dem Ende des Bürgerkrieges 1921 politisch wirklich herauszufordern.

Es wäre hingegen verfehlt, die verpassten Gelegenheiten für eine Demokratisierung nach 1921 zu überschätzen, da die Bürokratisierung von Partei und Staat zu dieser Zeit bereits tief verwurzelt war. Überdies hatte die wachsende Entfremdung der Sowjetherrschaft und der Bolschewiki von sehr grossen Teilen der Bevölkerung – letztendlich auch von einem Grossteil der Arbeiterklasse – im Laufe des Bürgerkrieges zu diesem Zeitpunkt nur mehr wenig Raum gelassen für eine wirkliche Sowjetdemokratie in einem isolierten Russland.

Die reformistischen Führer retten die Bourgeoisie

Wäre ein anderer Weg möglich gewesen? Wie bereits in den vorhergehenden Jahren, so hing das Schicksal der Russischen Revolution grundsätzlich ab von einer internationalen Revolution.

Wie die Bolschewiki seit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges vorhergesagt hatten, ging – als Antwort auf die Russische Revolution – eine Welle von Revolutionen um Europa und die Welt.

So klagte der Oberbefehlshaber der deutschen Armee, dass der «Einfluss der bolschewistischen Propaganda enorm ist». Auf der anderen Seite des Globus rief der mexikanische Revolutionär Ricardo Flores Magón im März 1918 aus, dass der antikapitalistische Bruch in Russland «, ob dies nun die Schmeichler des herrschenden Systems der Ausbeutung und des Verbrechens lieben oder nicht, die grosse Weltrevolution auslösen wird, die jetzt an die Tore aller Völker pocht».

In vielen Ländern wankte der Kapitalismus bis ins Jahr 1923 hinein am Rande des Abgrundes. Obzwar heute meistens angenommen wird, dass die Ausrichtung der Bolschewisten auf die Weltrevolution utopisch war, so drohte doch die Erhebung nach dem Kriege die internationale bürgerliche Ordnung wirklich zu Fall zu bringen.

Beispielsweise zeigt Brian Porter in seinem neuen Werk über Polen zutreffend die Tiefe der antikapitalistischen Herausforderung auf:

Die alten politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Normen waren diskreditiert und zerstört. Heutzutage nennen wir die Ereignisse von 1917 «die Russische Revolution», zu jener Zeit aber schien es eine echte Chance zu geben, dass es die Revolution sei, der Moment der schöpferischen Zerstörung, die die alten Zentren der Macht stürzen und eine neue Weltordnung schaffen würde.

Über die Länder Europas und der kolonialen Welt fegten politische Radikalisierung, Streiks und Aufstände. Arbeiter- und Soldatenrevolutionen stürzten im November 1918 die Regierungen in Deutschland und Österreich. Gleich darauf ergriffen Marxisten für kurze Zeit die Macht in Persien, Bayern und Ungarn. Revolutionäre Arbeiterinnen und Arbeiter kamen dem Sturz der kapitalistischen Herrschaft in Polen (1918-19), Österreich (1919), Italien (1919-20), Deutschland (1918-23) und später gefährlich nahe.

Dass der Kapitalismus diese revolutionäre Offensive letztenddlich überlebte, war nicht unvermeidlich. In der Arbeiterklasse bestand ein starker Wunsch nach einer radikalen Umwälzung der Gesellschaft.

Diese Hoffnungen wurden vor allem durch die Führungen der gemässigten Sozialisten blockiert: Als die Arbeiterinnen und Arbeiter zur Tat drängten, versuchten die Bürokratien der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften die Ordnung mit allen Mitteln  wiederherzustellen. Nicht ohne Grund rief der bolschewistische Führer Grigory Zinoviev 1920 aus: «Schaut in den Rest der Welt. Wer rettet die Bourgeoisie? Die sogennanten Sozialdemokraten!».

Obschon die frühen Kommunisten sicher wichtige Fehler begingen, die ihre Möglichkeiten zur Überwindung der Kräfte des offiziellen Reformismus untergruben, so muss der Vorwurf für die Niederlage der revolutionären Welle von 1918-23 in erster Linie und vor allem an diejenigen Arbeiterführer gerichtet werden, die ihre kapitalistischen Staaten nach dem Kriege unterstützten.

Um die Linke der polnischen sozialistischen Partei zu zitieren, so haben diejenigen, die «sich Sozialisten nennen, all ihre Aktivitäten gegen den Sozialismus gerichtet». Ende 1923 hatten die auf Klassenzusammenarbeit orientierten sozialistischen Führer den revolutionären Flächenbrand in Deutschland und in ganz Europa entschärft.

Diese unentehrlichen Anstrengungeen der Moderaten, den Drang der Arbeiterklasse in Richtung eines antikapitalistischen Bruches isolierte die umkämpfte Regierung der Arbeiter und Bauern in Russland.

Dieses Ergebniss war bei weitem nicht vorgezeichnet. Die Revolutionäre waren in vielen Ländern in Reichweite des Sieges über die Reformisten und nahe der Führung der Arbeiterklasse zur Macht. Angesichts der sehr fragilen Macht der Bourgeoisie hätten sich viele verschiedene – aber nicht realisierte – politische Entscheidungen, Aktionen oder Entwicklungen als genügend erweisen können, die Weltgeschichte nach 1917 auf einen ganz anderen Pfad zu führen.

Indem die revolutionären Sozialistinnen und Sozialisten die Lehren aus dieser inspirierenden und tragischen Geschichte ziehen, können sie sich besser auf die folgenschweren Kämpfe der Zukunft vorbereiten.

Quelle: socialistworker.org… vom 15. Oktober 2017. Übersetzung und Zwischentitel durch Redaktion maulwuerfe.ch

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