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Die Arbeit bei Amazon «kann psychische und physische Schäden verursachen»

Eingereicht on 28. Februar 2018 – 16:24

In Polen gab und gibt es hitzige Diskussionen in den landesweiten Medien über ein Gerichtsgutachten, das im Zuge eines Prozesses gegen eine Person erstellt wurde, die am Bummelstreik im Juni 2015 im Amazon-Lager in Poznan teilgenommen haben soll. Zum Gutachten über die Arbeitsbedingungen bei Amazon in Polen aus Anlass des Prozesses um den Bummelstreik 2015 siehe die deutsche Übersetzung eines Artikels von Adriana Rozwadowska am 30. Januar 2018 in der Gazeta Wyborcza

„Die Arbeit bei Amazon ist nicht an die physischen und psychischen Möglichkeiten des Menschen und Arbeiters angepasst“, schreibt der Sachverständige in seinem Gutachten an das Gericht. Und zählt auf: ein Stuhl zum Ausruhen für fast 500 Arbeiter, fehlende Toiletten, Arbeitsüberlastung. Amazon versichert: „Wir handeln immer im Einklang mit dem Arbeitsrecht.“

„Die Beklagte [Amazon] hat im gesamten Prozess der Arbeitsorganisation überhaupt nicht die Anpassung der Arbeitsbedingungen an die psychophysischen Möglichkeiten des Menschen/Arbeiters berücksichtigt“, lesen wir im Gutachten des Arbeitssicherheits-Sachverständigen Jarosław Łucko, der im Auftrag des Bezirksarbeitsgerichts in Poznan ein Gutachten über die Arbeitsbedingungen bei Amazon in Sady bei Poznan erstellt hat. Das Gutachten, das uns vorliegt, wurde im Verfahren von Łukasz B. erstellt, der bei Amazon wegen „Verlangsamung der Arbeit“ und Nichterfüllung der Normen entlassen wurde. B. hat gegen die Kündigung geklagt – seiner Ansicht nach waren die Normen einfach nicht zu schaffen.

Aktuell sind in der arbeitsrechtlichen Abteilung des Gerichts in Poznan ein gutes Dutzend ähnlicher Verfahren anhängig. Richter Jarosław Jankowiak entschied, Erkundigungen über die Arbeitssituation bei Amazon einzuholen und beauftragte ein Sachverständigengutachten aus Arbeitssicherheits und  arbeitsmedizinischer Sicht. Das Arbeitssicherheitsgutachten liegt uns vor. Der Sachverständige hatte am 16. November 2017 einen Ortstermin in Sady.

Es handelt sich um eine große, dreigeschossige Halle. Jedes Stockwerk ist so groß wie ein Fußballfeld. Die Leute arbeiten im Schichtsystem – die Nachtschicht dauert von 17:30 Uhr bis 4:00 Uhr morgens. Die Arbeiter suchen Waren aus den Regalen heraus, packen sie in Boxen und bringen diese zu einem Förderband – das ist der Anfang des Paketversandprozesses. Diese Tätigkeiten dauern zehneinhalb Stunden. Die ganze Zeit stehen oder gehen die Leute – am Tag legen sie ca. 20 km zurück. Und all das in hohem Tempo, denn jeder Arbeiter muss im Verlaufe einer Schicht 1000 Artikel packen.

Der Sachverständige stellt einer Arbeiterin eine Frage und bekommt von ihr zu hören: „Muss ich antworten? Denn [wenn ich rede] schaffe ich die Norm nicht.“ Sie erklärt sich erst dann zu einem Gespräch bereit, als ihr versichert wird, dass der Stillstand nicht auf ihr Arbeitsergebnis angerechnet wird.

Normen: sein oder nicht sein bei Amazon

Die Normen ändern sich alle vier Wochen. Die neuen werden auf Basis der bisherigen Arbeitsproduktivität festgelegt – das neue Minimum entspricht dem 20. Perzentil der Ergebnisse aller Arbeiter der Abteilung des vorigen Zeitabschnitts (wenn man 100 Arbeiter nimmt und vom unproduktivsten bis zum produktivsten geordnet aufstellt, dann entspricht das neue Minimum dem Ergebnis des 20. Arbeiters). Alle vier Wochen wird die Latte höher gelegt. Urszula K. hatte folgende Produktivitätsergebnisse: 87 Prozent, 96 Prozent, 93 Prozent, 89 Prozent, 99 Amazon Fulfillment Engine, d.h. die Versandabteilung.

Die Arbeiter stehen an einem langen Tisch. An den Wänden Ampeln: grün, gelb, rot. Rot bedeutet „sofort verpacken“. „Wenn die Wand voller gelber und roter blinkender Ampeln ist, wird einem langsam schwindlig, die Vorarbeiter sehen, dass du zu langsam arbeitest, und machen Druck, damit du schneller arbeitest, selbst wenn du keine Kraft mehr hast. Bei so einem System steigen die Normen in erschreckendem Tempo“, erzählt eine Amazon Arbeiterin der „Wyborcza“. Arbeitspause bei Amazon In der 2. Schicht gibt es zwei Pausen à 15 Minuten. Die zusätzliche halbstündige Pause muss man nacharbeiten.

Nach Ansicht des Sachverständigen darf Nachtarbeit, wenn sie mit großer physischer und psychischer Anstrengung verbunden ist, acht Stunden nicht überschreiten: „Der Mensch ist nicht in der Lage, ohne zusätzliche Pause non stop zehneinhalb Stunden am Tag bei einer Viertagewoche zu arbeiten und bei der Ausführung dieser Arbeit in erzwungenem Tempo 20 km zurückzulegen“, schreibt er im Gutachten. Und er zählt die Verfehlungen des Arbeitgebers auf, u.a.: Überlastung mit Arbeit im Gehen, großer Druck, verlängerte Arbeitszeit, fehlender Einfluss auf die Arbeitsbelastung, dazu schlechte Arbeitsbedingungen: Beleuchtung, kein Platz zum Ausruhen, kein funktionierender Arbeitssicherheitsdienst. Schlussfolgerung? Die Arbeitsbedingungen bei Amazon können „psychische und physische Schäden“ verursachen.

Stuhl und Ruhepause oder: Nichterfüllung der Norm

Eine weitere Beobachtung des Gutachters: In zwei Stockwerken gibt es überhaupt keine Toilette, die anderen sind weiter als 75 Meter von den Arbeitsplätzen entfernt – hinzugehen, nimmt schon einen großen Teil der Pause ein. Obwohl die Arbeiter 10 Stunden lang gehen, gibt es keine Plätze, um im Sitzen auszuruhen. Erst im letzten Jahr hat Amazon pro Stockwerk je einen Stuhl aufgestellt. Dieser eine Stuhl steht mitten in der Halle, wird von einer Kamera überwacht und ist durch eine durchgezogene gelbe Linie abgetrennt. „Seine Positionierung, Farben (…), die durchgezogene gelbe Linie, die nach den Arbeitsschutzvorschriften ‚Betreten verboten‘ bedeutet, schrecken die Arbeiter ab“, meint der Gutachter. Und fügt hinzu, dass er während der ganzen Schicht nicht einen einzigen Menschen sich dort hat ausruhen sehen. Als er danach fragte, hörte er, dass der Weg zum Stuhl aus verschiedenen Teilen der Halle fünf Minuten dauere. Sich auszuruhen, würde bedeuten, die Norm nicht zu schaffen.

„Wenn bei 480 Arbeitern pro Schicht jeder 5 Minuten pro Schicht ausruhen wollte, käme im 4-Schichten-System der letzte von ihnen am Donnerstag dran, wenn er am Montag den Gedanken daran gehabt hätte“, fasst der Gutachter zusammen und bewertet die ausgewiesenen Ausruheplätze als „scheinbar“.

Was sagt Amazon zum Gutachten? Das Gericht hat das Gutachten aktuell zur Vervollständigung an einen arbeitsmedizinischen Gutachter weitergegeben. Daher schrieb Amazon Pressesprecherin Marzena Więckowska auf unsere Fragen – u.a. zu Arbeitzeit und Arbeitsnormen – zunächst zurück: „Das Gutachten wurde vom Gericht zurückgewiesen, da seine Ausführung nicht den Anforderungen der Bestellung entsprach. Wir können dazu keine Stellung abgeben, (…) wir haben es nie gesehen.“ Dann erklärte sich Amazon aber bereit, unsere Fragen zu beantworten. „Wir arbeiten mit den Behörden zusammen, wir garantieren ihnen volle Einsicht in unsere Arbeitsbedingungen und handeln immer im Einklang mit dem Arbeitsrecht. Anders wäre es uns nicht möglich, auf dem umkämpften polnischen Arbeitsmarkt 9.000 festangestellte Arbeiter zu halten“, so Marzena Więckowska.

Beabsichtigt Amazon, etwas an den Arbeitsnormen zu ändern?

Więckowska: „Wie jeder Arbeitgeber haben wir Erwartungen hinsichtlich der Arbeitsproduktivität. Der Arbeiter wird vor der Einstellung ärztlich darauf untersucht, ob sein Alter und Gesundheitszustand die Erbringung der Arbeitsleistung erlauben. Es ist also ein Arzt, nicht Amazon, der darüber entscheidet, ob das Alter oder der Gesundheitszustand des Arbeiters zur Arbeitsaufnahme bei Amazon erlauben. Laut Więckowska ist aufgrund des von Amazon angewandten äquivalenten Arbeitszeitsystems eine tägliche Arbeitszeit von bis zu 12 Stunden zulässig, da die Arbeiter nur vier Tage in der Woche arbeiten.

Und die „scheinbaren Plätze zum Ausruhen“? Więckowska: „Wir wenden das 5S System an, bei dem gelb ein markiertes Feld bedeutet. Zonen, die nicht betreten werden dürfen, sind mit einer schwarz-gelben Linie gekennzeichnet. Um die Farbgebung abwechslungsreicher zu gestalten, benutzen wir gelbe, rote, blaue und grüne Stühle, die nach dem Zufallsprinzip verteilt werden.“

Der Amazon-Chef über die Arbeit: „lang, hart und schnell“

„Wir sind begeistert, dass Amazon nach Polen kommt. Die Eröffnung der Logistikzentren ist ein Meilenstein für unser Wirtschaftswachstum“, sagte Vizepremier Janusz Piechociński 2014, als Amazon die Eröffnung seiner Logistikzentren bei Wroclaw und Poznan bekanntgab (aktuell gibt es in Polen fünf). Schon bald liefen bei der Staatlichen Arbeitsinspektion (PIP) Dutzende von Beschwerden über die Arbeitsbedingungen in den Logistikzentren der amerikanischen Firma ein. Die Amazon-Arbeiter schlugen Alarm: In den Hallen komme es zu vielen Unfällen, vor allem nachts, die Arbeiter würden gehetzt und dürften sich nicht hinsetzen, um sich auszuruhen. Kontrollen der PIP ergaben viele Unregelmäßigkeiten, u.a. die Tatsache, dass Amazon die Arbeitsunfälle nicht bei der PIP meldete.

Im September 2016 erschien ein Bericht des Instituts für Öffentliche Angelegenheiten (ISP). Dominik Owczarek und Agata Chełstowska führten Interviews mit Arbeitern der Firma durch. „Ein Manager sagte irgendwann, die Normen würden jährlich um 10 Prozent steigen. Und dann stiegen sie von Woche zu Woche. Im Laufe von vier Wochen gab es zweimal einen Sprung nach oben um 10 Prozent! Und allen fiel der Unterkiefer runter. Der Druck wurde immer größer“, erzählt einer von ihnen. Der ISP-Bericht wird gerade ins Deutsche übersetzt. Denn in Deutschland werden weiterhin – wegen der Arbeitsbedingungen – Streiks in den Amazon-Zentren organisiert. Der letzte fand Ende Dezember in Bad Hersfeld statt. Und im November 2017 gab es eine Arbeitsniederlegung in Mailand.

2016 veröffentlichte die Tageszeitung New York Times eine Reportage, die auf Gesprächen mit über 100 ehemaligen und gegenwärtigen Beschäftigten von Amazon-Büros in den USA beruhte. Nach Angaben der Zeitung „werden die Arbeiter im Namen der Produktivität und Effizienz an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gebracht“. Jeder Teil der Arbeit und des Privatlebens des Arbeiters wird beurteilt. Von den Beschäftigten werden u.a. sofortige Reaktionen auf E-Mails gefordert – selbst wenn diese nach Mitternacht ankommen. Nach Meinung der NYT entspricht dieses Arbeitssystem aus den Ansichten des Amazon-Gründers Jeff Bezos – des aktuell reichsten Menschen auf der Welt.

„Man kann lang, hart oder schnell arbeiten. Bei Amazon kann man nicht einfach zwei von diesen drei auswählen“, schrieb Bezos 1997 in einem Brief an seine Aktionäre. Dieser Brief gilt bis heute als Amazon Manifest.

Die Arbeitgeber missbrauchen das Arbeitsrecht

Nach Auffassung von Dr. hab. Anna Musiała, Professorin an der Universität Poznan und Mitglied der Kodifizierungskommission, die zur Zeit im Auftrag der Regierung die Bestimmungen des neuen Arbeitsgesetzbuchs formuliert, nutzt Amazon in Polen die Tatsache aus, dass die Vorschriften hinsichtlich der Arbeitsnormen sehr knapp gefasst sind – Arbeitgeber können die Arbeitsnormen willkürlich und ohne Einschränkungen festlegen.

„Dieselbe Arbeit kann bei unterschiedlichen Normen völlig andere Auswirkungen auf die Arbeitssicherheit und Gesundheit der Arbeiter haben“, erklärt Musiała. „Aber sie betreffen ja immer einen konkreten Menschen mit seinen ganz spezifischen psychophysischen Eigenschaften. Das sollte sich expressis verbis im Gesetz wiederfinden. Es war ein Fehler, den Arbeitgebern das Recht zu überlassen, bei der Festlegung der Arbeitsnormen willkürliche Entscheidungen zu fällen.“

Die Kodifizierungskommission soll den Entwurf des neuen Arbeitsgesetzbuchs Mitte März der Regierung vorlegen. Die Vorschriften hinsichtlich der Normen werden im Februar behandelt. Nach Ansicht einiger Kommissionsmitglieder sollte der entsprechende Artikel präzisiert werden.

Quelle: ) labournet.de… vom 28. Februar 2018

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