Die »graue Flut« der Rentenproteste
Jan Marot. Sie haben die Nase voll davon, dass Spaniens Wirtschaft auf ihre Kosten saniert wird. Weder starker Regen noch Kälte oder Schnee halten sie davon ab, ihrem Unmut in mehr als 40 Städten in ganz Spanien lautstark kundzutun. Erstmals seit Jahren organisieren sich Rentner und Rentnerinnen wieder, um gegen niedrige Renten zu protestieren. Unterstützt werden die Proteste von den großen sozialistischen und kommunistischen Gewerkschaftsverbänden UGT und CCOO sowie der linken Partei »Unidos Podemos« und der sozialdemokratischen Partei PSOE.
»Hände hoch, das ist ein Überfall« war ursprünglich ein Slogan der »15M«-Bewegung gegen die Austeritätspolitik. Jetzt skandieren ihn Abertausende Rentner, die gegen die rechtskonservative Regierung unter Ministerpräsident Mariano Rajoy (Partido Popular, PP) demonstrieren. Der PP hat damit weiteren Ärger, neben dem Konflikt um die Unabhängigkeit Kataloniens und dem Erstarken der immer rechtspopulistischer agierenden Partei Ciudadanos (Bürger).
Demonstrationen im ganzen Land fanden am 22. Februar und am 1. März statt, die größte am 22. Februar mit über 35 000 Personen in Bilbao. Medien tauften die Protestwelle prompt die »graue Flut« (»Marea gris«); als »grüne Flut« gelten Proteste im Bildungs-, als »weiße Flut« jene im Gesundheitsbereich. Am 15. März, dem »15P« (»P« für pensionistas), soll sie ihren vorläufigen Höhepunkt erreichen. »Würdevolle Rentenzahlungen« ist die Hauptforderung und groß die Wut über die nur symbolische Anhebung der Rentenbezüge zum Jahreswechsel um 0,25 Prozent für das Jahr 2018. Diese gilt auch für Berufsunfähigkeits-, Witwen- und Waisenrenten. Angesichts der Inflationsrate – 2017 lag sie bei zwei Prozent – stellt das einen weiteren Verlust der Kaufkraft dar.
»Nein zum Einfrieren der Renten«, »Rentner, eine vom Aussterben bedrohte Spezies«, »Nehmt eure schmutzigen Hände von unseren Renten«, »Gegen Renten, die scheiße sind« und »Von 0,25 Prozent ernähren wir uns nicht« war auf Transparenten zu lesen. Zu hören war auch das Motto von Podemos: »Ja, es ist möglich.« Politiker wurden lauthals als »Diebe« beschimpft.
Auch die 59jährige Blanca Elena Carmona, seit ihrem 39. Lebensjahr berufsunfähig, protestiert. Sie rechnet vor, dass sie sich nun »dank der Anhebung um 1,73 Euro eben einen Kaffee mehr im Monat leisten könne. Aber keine typische Frühstücks-Tostada dazu.« Sie spare, wo sie könne, heize kaum, wasche eine Waschmaschinenladung pro Woche. Mit einer Butangasflasche für rund 15 Euro komme sie bis zu vier Monate aus, sagt sie: »Für das Warmwasser der täglichen Kurzdusche und zum Kochen.« Ins Kino gehe sie nie und auch auf das kleine Bier und die Tapas mit Freundinnen verzichte sie. »Am meisten spare ich beim Essen. Darum bin ich so schlank«, sagt Carmona, die sich ihren Humor bewahrt hat.
Teresa Carrera, 67jähriges Mitglied des sozialistischen Gewerkschaftsbunds UGT, ist aus der Arbeitervorstadt San Jerónimo von Sevilla zur Demonstration im Zentrum der andalusischen Hauptstadt angereist. Da sie, wie so viele Spanier, einige Jahre im Ausland, konkret in einem Messerwerk in Solingen, gearbeitet hat, erhalte sie neben der spanischen Rente von 1 100 Euro monatlich auch »etwa 100 Euro« aus Deutschland. Stolz ist sie, dass die Mobilisierung der Rentner glückt. Es sei ohnehin höchste Zeit gewesen. Ob die heutige Jugend überhaupt noch eine Rente bekommen werde, macht sie von deren Kampfgeist abhängig: »Die im Kapitalismus Aufwachsenden müssen sich endlich auf die Hinterbeine stellen und für ihre Rechte eintreten.«
Die UGT errechnete anhand von Statistiken, dass der spanische Durchschnittsrentner zwischen 2010 und 2017 rund 670 Euro pro Jahr an Kaufkraft eingebüßt hat. Zu den Forderungen auf den Demonstrationen zählt, die Renten wie in einigen anderen EU-Staaten entsprechend der Inflationsrate zu erhöhen. Dagegen spricht sich der PP vehement aus. Finanzminister Cristóbal Montoro (PP) erachtet diesen Weg, den auch der sozialistische PSOE einfordert, schlichtweg »als antiquiert«.
»Es gibt keine Lösung. Dafür ist es zu spät«, sagt der renommierte Ökonom Santiago Carbó der Jungle World. Das Rentensystem sei seit etwa 15 Jahren nicht mehr nachhaltig. Die Renten einfach anzuheben, »geht zu Lasten anderer Bereiche, der Bildung oder der Gesundheit«, warnt er und meint, »die geschwächte PP-Regierung« sei »den Herausforderungen des Landes nicht gewachsen«. Ein Ansatz wäre es Carbó zufolge, anstatt der letzten 21 oder, wie künftig vorgesehen, 25 Erwerbsjahre das gesamte Arbeitsleben für die Rente zu berücksichtigen. Das würde die Kosten und Bezüge generell senken und so das System »nachhaltiger« machen. An einer Erhöhung des Rentenalters käme man ohnehin nicht vorbei. Private Rentenversicherungen müssten ebenso forciert werden, sagt Carbó, »wofür aber höhere Gehälter eine grundlegende Voraussetzung wären«. Zudem müsse man die Bezieher niedriger Renten separat behandeln und deren Situation deutlich verbessern. »Wenn sie sukzessive bis zu 30 oder 40 Prozent mehr bekämen, wäre es nicht so teuer für den Staat, und man würde ihr Elend enorm lindern«, sagt Carbó. Wirklich teuer kämen die Staatskasse hingegen Wellen von Frühverrentungen, etwa bei Strom- oder Telekomkonzernen.
Die Mindestrente liegt in Spanien derzeit bei 639 Euro und wird 14 Mal pro Jahr ausbezahlt. Frauen sind unter den Beziehern niedriger Renten stark überrepräsentiert. Insgesamt über 8,7 Millionen Personen, knapp 60 Prozent der Rentner, müssen mit weniger als 1 000 Euro Rente pro Monat leben. 1,3 Millionen Spanier erhalten weniger als 600 Euro Rente, womit es so gut wie unmöglich ist, Fixkosten wie Miete, Strom-, Wasser- und Gasrechnungen zu decken.
Um die Gemüter abzukühlen, versprach Finanzminister Montoro, über 80jährige sollten fortan per Scheck eine »Steuerhilfe« ausbezahlt bekommen. Davon würden »etwa 2,6 Millionen Rentner profitieren«. Doch das beträfe eher vergleichsweise hohe Renten. Der PSOE will dagegen das marode Rentensystem mittels neuer Bankensteuern sanieren. Der Generalsekretär des PSOE, Pedro Sánchez, denkt an eine Finanztransaktionssteuer und eine »Sonderabgabe auf Bankgeschäfte«. Beides solle zwischen ein und zwei Milliarden Euro pro Jahr einbringen. »Damit ist man weit entfernt von den Summen, die das System benötigt«, betont Carbó.
2017 schloss die Rentenkasse mit 18,8 Milliarden Euro Verlust. Seit 2012 hatte die Regierung Rajoys 67 Milliarden Euro aus dem Rentenrücklagenfonds entnommen und großteils zur Sanierung des Haushalts zweckentfremdet. Daher soll bei den künftigen Renten gekürzt werden. Ab 2019 sollen der sogenannte Nachhaltigkeitsindex und die »Wertberichtigung für Renten« wirksam werden. Der Index ist geknüpft an die durchschnittliche Lebenserwartung – derzeit 83 Jahre, hinter Japan weltweit Rang zwei – und soll die Renten der Zukunft regulieren.
Quelle: jungle.world… vom 12. März 2018
Tags: Neoliberalismus, Spanien, Widerstand
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