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Bolsonaro: Faschismus oder Bonapartismus?

Eingereicht on 25. Oktober 2018 – 10:40

Daniel Matos. Es ist unmöglich, den Aufstieg des Bolsonarismus in Brasilien als soziales und politisches Phänomen zu deuten, ohne den Charakter der wichtigen Proteste vom Juni 2013 zu verstehen.

Es ist kein Zufall, dass der erste politische Mord im Rahmen des Bolsonarismus die eines Capoeira-Meisters war, der für seinen Kampf gegen den Rassismus bekannt war, Moa do Katendê. Bolsonaro, der mit 58% der Wahlabsichten gegen 42% von Haddad von der PT der große Favorit ist, will nicht, dass die soziale und politische Polarisierung, die sich im Land aufgebaut hat, in gesellschaftliche und politische Gewalt umschlägt, zumindest nicht bis zum Ende der Wahlen. Aber als die von Bolsonaro aufgestachelten Wut und Hass nicht mit der gefügigen Bürokratie der Gewerkschaften und der PT zusammenprallten, sondern mit einem Symbol des Widerstands gegen die Sklaverei, wurde der «Konflikt» durch 12 Stichwunden gelöst. In diesem Zusammenhang gab es trotz Bolsonaros Bemühungen, die Euphorie seiner Gefolgschaft einzudämmen, bereits mehr als 70 politische Angriffe aller Art, sogenannte Hassverbrechen, die von bolsonaristischen Fanatikern in den letzten Wochen begangen wurden, auch wenn nur einer tödlich geendet hat.

Die radikalsten Kräfte, die der Bolsonarismus entfesselt hat, haben nicht wenig dazu beigetragen, diesen als «Faschismus» zu bezeichnen. Dieser Begriff wurde – im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch der 1920er und 1930er Jahre und den Folgen des Ersten Weltkriegs und der Vorbereitung auf den Zweiten Weltkrieg – verwendet, um die politische und gesellschaftliche  Mobilisierung und Organisation der durch die Wirtschaftskrise deklassierte Kleinbourgeoisie (die allgemein als «Mittelschicht» bezeichnet wird) gegen Arbeiterparteien und Gewerkschaften im Dienste der Interessen des Finanzkapitals zu charakterisieren.

Das bolsonaristische Phänomen ist sehr weit entfernt von dem Kontext und dem Grad der Organisation und Radikalisierung, den die faschistischen Kräfte damals erlangt haben. Eine solche Kategorie kann jedoch zur Erklärung von einigen der aufkommenden Strömungen beitragen, die in einigen Sektoren ihrer sozialen Basis sichtbar sind. Diese Art von Phänomenen wiederum sind in den imperialistischen Ländern und in den rückständigen Ländern unterschiedlich. Wie Trotzki feststellt:

In Deutschland, Italien und Japan sind Faschismus und Militarismus die Waffen eines ehrgeizigen, hungrigen und damit aggressiven Imperialismus. In den lateinamerikanischen Ländern ist der Faschismus Ausdruck der unterwürfigsten Abhängigkeit vom ausländischen Imperialismus. Wir müssen in der Lage sein, den wirtschaftlichen und sozialen Inhalt in der politischen Form zu entdecken.

Der Bolsonarismo: ein unerwünschter Sohn des Staatsstreichs

Es ist unmöglich, den Aufstieg des Bolsonarismus als soziales und politisches Phänomen zu deuten, ohne den Charakter der wichtigen Proteste vom Juni 2013 zu verstehen. Diese brachten den Widerspruch zum Ausdruck zwischen den Bestrebungen nach sozialem Aufstieg, die durch die Jahre des Wirtschaftswachstums ausgelöst wurden, die Lulas zweite Amtszeit kennzeichneten, und den strukturellen Grenzen für die Verwirklichung dieser Bestrebungen in einem Land, das der Plünderung des internationalen Finanzkapitals unterworfen ist. Es ist eine Explosion der Empörung, die bessere Leistungen der öffentlichen Dienste fordert, in einem São Paulo, wo man für den Arbeitsweg in vielen Fällen je Richtung 3 oder 4 Stunden im öffentlichen Verkehr vertrödelt, an Haltestellen, in überfüllten Bussen und Zügen und mit Preisen, die mindestens viermal über denen in Buenos Aires liegen. Diese Empörung erstreckt sich auch auf die Bereiche von Bildung und Gesundheit, die trotz des Wirtschaftswachstums im Lulismo weiterhin zu den teuersten und prekärsten in Lateinamerika gehören.

Die von der Jugend angeführten Straßenproteste wurden von einer zunehmenden Welle wirtschaftlicher Kämpfe begleitet, wie sie seit dem Ende der Diktatur nicht mehr zu beobachten war. Es kam zu wilden Streiks, an denen die ärmsten Sektoren der Arbeiterklasse beteiligt waren, genau diejenigen, die während des Lulismo in grosser Zahl in prekarisierte Arbeitsplätze eingetreten waren. Gleichzeitig (wenn auch unkoordiniert) kam es zu Streiks von mehr als 200.000 Bauarbeitern, die am Bau der riesigen Wasserkraftwerke entsprechend dem so genannten „Growth Acceleration Plan (PAC)“ von Dilma im Norden und der Stadien für die Fußball-Weltmeisterschaft im Südosten und Süden beteiligt waren. Sowie in den Arbeiten zur Erweiterung des petrochemischen Konglomerats von Petrobras.

Die PT versuchte als Partei und mittels der Einheitsgewerkschaft der Arbeiter (CUT, die wichtigste im Land), diese enormen Kämpfe zu spalten, zu isolieren, einzudämmen und umzulenken und griff sogar zur absurden Lüge, diese Mobilisierungen als reaktionär zu bezeichnen, weil sie sich gegen ihre eigene Regierung richten würden. In dem Maße, wie keine politisch-soziale Kraft auftauchte, um diesen Mobilisierungsprozess nach links zu lenken, waren es die rechten Strömungen, die ihn zu nutzen versuchten, indem sie progressive soziale Forderungen von der Ablehnung des politischen Systems als Ganzes trennten. So führten sie diese Unzufriedenheit vor allem gegen die PT und setzten derem «Etatismus» wirtschaftsliberale Werte entgegen. So entstand in Brasilien ein neuer politisch-sozialer Akteur, der sich aus Jugendbewegungen zusammensetzt, die von Instituten wie Atlas Netwoks («Red Atlas») finanziert und beeinflusst werden, einem ultra-neoliberalen Think Tank, der für seine Beziehungen zum US-Außenministerium und den Brüdern Koch sowie zu multinationalen Öl- und Gasunternehmen bekannt ist. Dieser Think Tank verfügt über 465 Partnerinstitutionen in 95 Ländern (davon 11 in Brasilien) und hat, nach eigenen Angaben, allein im Jahr 2016 5 Millionen Dollar an seine Mitglieder «gespendet» [1]. Dieses Institut hat als eines seiner Mitglieder die Argentinische Stiftung Pensar, die sich aus dem PRO von Mauricio Macri zusammensetzt.

Diese Jugendbewegungen der liberalen Rechten, die heute Millionen von Anhängern in den sozialen Netzwerken des Internets haben, sind mittlerweile in der Lage, sich auf den Straßen gegen die Regierung von Dilma und die PT zu mobilisieren, im Rahmen der Kampagne «gegen die Korruption», die durch das Globo-Netzwerk mit Bußerklärungen, die von der Justiz in der so genannten «Lava Jato»-Operation gefiltert wurden, ausgelöst wurde. Eine von der Mani Pulite italiano inspirierte Operation, die durch ein Netzwerk von Staatsanwälten des Staatsministeriums, Richtern aus Curitiba, der Bundespolizei als «militärischer Arm», dem US-Außenministerium und den großen multinationalen Ölgesellschaften organisiert wurde.

Die besonders korrupte Struktur des brasilianischen politischen Systems – der so genannte «Koalitions-Präsidentismus» – basiert auf einem permanenten und «legalisierten» Erpressungs- und Bestechungsmechanismus zwischen Exekutive und Kongress zur Bildung parlamentarischer Mehrheiten, die den Interessen des Finanzkapitals und großer Monopole dienen. In einem der ungleichsten Länder der Welt, in dem jährlich mehr als 40 % des Bundeshaushalts für die Zahlung von Zinsen und die Tilgung der Staatsschulden an das Finanzkapital bestimmt sind und die Verschuldungsfähigkeit der Gliedstaaten verfassungsmäßig der Zentralgewalt untersteht, ist die «Wählbarkeit» der Parlamentarier an die Haushaltsposten gebunden, die die nationale Exekutive im Austausch für die Unterstützung ihrer Maßnahmen gewähren kann. Ein ständiger Verwaltungssrat, der über die Finanzierung von Wahlkämpfen für Politiker und Parteien, die die Interessen des Großkapitals wahrnehmen, geschmiert wird. Es ist der so genannte «Physiologismus», die besondere Form der «Lobby» zwischen öffentlichen und privaten Interessen in Brasilien.

Dieses System, das in den 90er Jahren zugunsten des großen in- und ausländischen Kapitals (darunter die großen Medien wie Rede Globo) aufgebaut wurde, führte zu einem riesigen Korruptionsskandal, dem so genannten «Banestado-Fall», in Bezug auf die Staatsbank von Paraná, durch den mindestens 520 Milliarden Dollar illegal mit den «Einrichtungen» zur Geldwäsche an der Dreifachgrenze umgangen wurden. Das Gerichtsverfahren wurde von Richter Sergio Moro geleitet, der den Fall abschloss, ohne die Beweise zu untersuchen, an denen einige der wichtigsten nationalen Führer der PSDB von Fernando Henrique Cardoso beteiligt waren. Derselbe Moro, der Jahre später mit Hilfe des Globo-Netzwerks zum «Volkshelden» des «Kampfes gegen die Korruption» wurde.

Als Lula 2003 an die Macht kam, wurde eine Parlamentarische Untersuchungskommission (CPI) beauftragt, den «Banestado-Fall» zu untersuchen. Die PT nutzte jedoch den Einfluss der Exekutive, um die Untersuchung abzuschließen, und erhielt dafür von den an den Verhandlungen beteiligten Parteien politische Unterstützung für ihre Reformen. Dies gipfelte in der Integration einiger dieser wichtigen Begünstigten in eine Koalitionsregierung und besiegelte damit die Integration der PT in das gleiche System, dem sie später selbst zum Opfer fallen würde. Angesichts des ersten Korruptionsskandals der PT im Jahr 2005, des so genannten «mensalão» (Bestechungsgelder  versuchten die PSDB selbst und der mächtige Industriellenverband von São Paulo, die Sache runterzuspielen und nicht die verschiedenen Akteure des Regimes «verantwortlich» zu machen, um kein Klima der Amtsenthebung zu schaffen. So gab es unzählige Korruptionsskandale, die in nichts endeten. Erst mit Beginn der Weltwirtschaftskrise und ihren ersten Auswirkungen in Brasilien wurde der Prozess «mensalão» wiederholt, um die Untersuchungen des Lava Jato auf die PT zu konzentrieren: Warum konzentrierten sich die Angriffe auf die PT, die in ihren Regierungen beispiellose Gewinne für das große Kapital und die Passivität der Gewerkschaften garantierte?

Während sich Brasilien im vollen Wirtschaftswachstum befand und das internationale Finanzkapital große Gewinne erzielte, sowie das einheimische Kapital, das von Staatsbanken wie BNDES und dem Petrobras-Konglomerat bevorzugt wurde, waren alle mit diesem «Vorgehen» der PT  zufrieden, bis zu dem Zeitpunkt, an dem das Land von der gesamten imperialistischen Presse als «Vorzeige»-Aufsteiger der BRICS gepriesen wurde. Mit der großen Weltrezession nach 2008 wurden jedoch die Justiz und der «Kampf gegen die Korruption» vom imperialistischen Kapital genutzt, um das Kräfteverhältnis zu seinen Gunsten zu ändern. In diesem Zusammenhang wurde die PT als bevorzugtes Ziel gewählt, um den Ambitionen der großen brasilianischen Bauunternehmen, Erdölfirmen und Kühlanlagenhersteller, die als internationale Konkurrenten aufgestiegen waren, einen «Dämpfer zu versetzen» und dem imperialistischen Kapital die gigantische Quelle des Reichtums zu erschließen, die sich auf die in Pre-Salt-Formationen schlummernden Erdölreserven und das gesamte riesige Konglomerat der von Petrobras geleiteten Ölgewinnung und -raffination konzentriert. Hinzu kommt die Notwendigkeit, die Basis der PT zu zwingen, eine Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen und den Rückgang der Sozial- und Arbeitsrechte zu akzeptieren, um die kapitalistischen Profite aufrechtzuerhalten und die für die fromme Zahlung der Staatsschulden notwendige steuerliche Anpassung zu sichern.

Proto-faschistische Trends an der Basis des Bolsonarismus

Auf diese Weise führte die Ablehnung der «politischen Kaste», die aus den Protesten 2013 hervorging, zusammen mit dem von Lava Jato und Rede Globo unterstützten «Kampf gegen die Korruption» das feindliche Klima gegen die PT-Regierung. Diese beiden Tendenzen (die im Juni 2013 entstandene «Anti-Kaste»-Stimmung und die Lava-Jato-Fans) gewannen durch das Reiten auf den sich verschlechternden Lebensbedingungen, hervorgegangen aus dem Rückgang des BIP um 7% zwischen 2015 und 2016, eine gesellschaftliche Basis und ebneten den Weg für die massiven Mobilisierungen, die das Kräfteverhältnis für die Anklage gegen Dilma Rousseff herstellten.

In diesen Märschen gegen Dilma war der Bolsonarismus noch eine kleine Minderheit. Ziel des institutionellen Putsches war es, die in der PSDB und DEM verankerte traditionelle Rechte mit der Unterstützung der Bonzen der MDB an die Macht zu bringen. Der Aufstieg des Bolsonarismus als starke Massenströmung erfolgte in dem Maße, wie die Parteien der traditionellen Rechten, insbesondere die PSDB – verbunden mit dem Scheitern der gesamten Regierungslinie Temer und der Korruption des politischen Systems – ihre Fähigkeit verloren, die von Lava Jato angeregte anti-PT Stimmung zu kanalisieren, so dass dieser freie Raum von einer populistischen Figur gefüllt werden musste, die es schaffte, das Bild eines «Außenseiters» zu verkaufen. Angesichts des Fehlens einer radikalen linken Lösung für die Fäulnis eines so abgenutzten und in Frage gestellten politischen Systems tritt Bolsonaro auf mit seinen rechtsradikalen Vorschlägen und appelliert an die eiserne Faust, um auf die tiefe Krise sozialer Gewalt zu reagieren, in der das Land aufgrund der Wirtschaftskrise gesunken ist, insbesondere in Staaten wie Rio de Janeiro.

Mit dem Auftritt von Bolsonaro wird der faschistischste Kern, der aus dem Innersten seiner ursprünglichen sozialen Basis kommt, gestärkt und geht in die Offensive: die Militär- und Zivilpolizei sowie die Streitkräfte. Nach den neuesten Daten gibt es 425.000 staatliche Militärpolizisten, 118.000 zivile Polizisten, 13.000 Bundespolizisten, 327.000 Angehörige der Armee, Marine und Luftfahrt. Mit seinen Rentnern und Familienmitgliedern ist es ein reaktionärer sozialer «Kern» mit nicht weniger als 3 Millionen Menschen. Die Ausrichtung dieses sozialen Kerns, der von Bolsonaro als «Opfer» der Menschenrechte idealisiert wurde, um eine starke Hand nahezulegen, ist untrennbar mit den ultrarechten politischen Angriffen verbunden, die in den letzten Wochen im ganzen Land eskaliert sind.

Die letzte faschistische Komponente der bolsonarischen Basis betrat in den letzten zwei Wochen des Wahlkampfes das Feld: die evangelischen Kirchen mit einem geschätzten Einfluss auf etwa ein Drittel der Bevölkerung. Dir sind zu einem entscheidenden Faktor für die ideologische Gestaltung der Polarisierung geworden. Mit ihren sozialen Netzwerken (insbesondere WhatsApp) verbreiten sie «Fake News», in denen die PT-Anhänger als Perverse erscheinen, die auf religiösen Werten rumtrampeln und als «Kommunisten», die einen vermeintlichen «roten Terror» aufzwingen werden. Nichts könnte unfairer gegenüber einer PT sein, die in ihren 13 Regierungsjahren die Verweigerung des Rechts auf Abtreibung garantierte und die Beziehungen des Staates zu den Kirchen ölte; gleichzeitig garantierte sie dem nicht sehr kommunistischen internationalen Finanzkapital historische Rekordgewinne.

Ausgehend von diesen Erklärungen der Entstehung und der Entwicklung des Bolsonaro-Phänomens können wir genauer auf die Ausgangsfrage nach der darin vorhandenen proto-faschistischen Komponente antworten. Ein Phänomen, das bis vor kurzem noch eine kleine radikale Minderheit innerhalb des politisch-sozialen Blocks darstellte, der den institutionellen Staatsstreich vollführte, wobei die abgewirtschafteten traditionellen rechten Parteien, die mit der Regierung Temer verbunden waren, fast 20 % der Stimmen erreichten, die sie bis zum Beginn der Wahlen halten konnten. Nachdem er sich als bevorzugter Kandidat der PT-feindlichen Wählerschaft konsolidiert hatte, stieg die Übernahme des Wähleranteils aus der versunkenen PSDB mit Hilfe der Judikative, des Globo-Netzwerks und des Militärs, die die Wahlen gegen Lula und den PT offen manipulierten, auf bis zu 35% der Stimmen. Er fügte viel Demagogie hinzu, wobei die erhaltene Stichwunde sein Image nur begünstigte: diese erlaubte ihm, sich als Opfer zu positionieren und öffentliche Debatten zu vermeiden. Er konnte den letzten Abschnitt der ersten Runde erreichen, abgesehen von den konservativsten lulistischen Wählern, die Paulo Guedes‘ ultraneoliberales Programm ignorieren. Er erreichte so in der ersten Runde 46% der Stimmen. Heute gilt er als der große Favorit, wobei die 58% der Wahlabsichten die PT-feindlichen Stimmen der Mittel- und Mitte-Rechts-Kandidaten umfassen, die zuerst gezögert haben. Natürlich umfasst diese Wählermehrheit nicht nur bürgerliche und kleinbürgerliche Sektoren der Mittelschicht, die ihre ursprüngliche soziale Basis charakterisierten, sondern auch Sektoren der Arbeiterklasse.

Wenn auf der einen Seite die proto-faschistischen Tendenzen, die in der sozialen Basis von Bolsonaro vorhanden sind, eine Minderheit und ein wenig organisierter Teil sind, der kaum 20% seiner «ursprünglichen» Stimmen übersteigt, so stellen sie heute den aktivsten und dynamischsten Pol im politischen Parallelogramm der sozialen Kräfte dar, indem sie das Regime, das aus den Wahlen hervorgehen wird, verglichen mit der erste Phase des institutionellen Putsches unter Temer zu einem qualitativ überlegenen Grad von Autoritarismus und Angriffen drängen.

Die Tendenzen zum Bonapartismus und eine etwaige Regierung Bolsonaro

Die Kategorie, mit der Trotzki die ersten Regierungen nach dem Riss von 1929 charakterisierte, die zwar von der Entwicklung faschistischer Tendenzen durchkreuzt wurden, aber immer noch mit mehr oder weniger «demokratischen» Masken bedeckt waren, ist nützlich, um zu analysieren, was eine mögliche Bolschonaro-Regierung werden könnte. Trotzki definierte den «Bonapartismus» allgemeiner als eine Regierungsform, die darauf abzielt, sich über die Kampflager zu erheben, indem sie sich direkter auf die Streitkräfte auf Kosten des Parlaments stützt, um kapitalistisches Eigentum zu aufrechtzuerhalten und Ordnung durchzusetzen. Im Falle einer Bolsonaro-Regierung in Brasilien scheint es jedoch noch nicht notwendig zu sein, auf das Parlament zu verzichten, mit der Möglichkeit, mit Unterstützung der Streitkräfte auf eine Zunahme des Autoritarismus über die Justiz zurückzugreifen; für eine solche Regierung, die eher einer Inkubationszeit des Bonapartismus entspricht, ist Trotzkis Kategorie des «Prä-Bonapartismus» hilfreich.

Die proto-faschistischen Tendenzen der bolsonarischen Basis sind sehr stark ausgeprägt, da die Wirtschaftskrise in Brasilien (und auch in der Welt) noch viel geringer ist als die Depression, die die 1930er Jahre prägte, und nicht in unmittelbare Kriegstendenzen wie die, die damals Europa prägten, eingebettet ist. Aber auch wegen der Politik der PT, die ihre eigene soziale Basis demoralisiert [2]. Erstens durch die Umsetzung harter Abbaumassnahmen während der zweiten Amtszeit der Regierung Dilma, und dann, einmal in der Opposition, die alle Unzufriedenheit der Massen mit der Staatsstreichregierung von Temer auf das Wahlthemat lenken. Die PT schaffte es, die enorme Energie, die von der Arbeiterklasse in den beiden Generalstreiks entfaltet wurde, um die Rentenreform im ersten Halbjahr 2017 zu stoppen, umzulenken um zu verhindern, dass diese Energie sich der Arbeitsreform widersetzen würde, die später dann genehmigt werden konnte. Diese Politik ist in erster Linie dafür verantwortlich, das Gewicht der Arbeiterklasse im nationalen Machtgleichgewicht ausgelöscht wurde.

Trotzki sagte, dass der Bonapartismus den Faschismus nutzte, um an die Macht zu kommen, aber nur in dem Maße, wie es gerecht und notwendig war, um die Arbeiterbewegung zu besiegen. In diesem Rahmen müssen wir die jüngsten Bewegungen einheimischer und ausländischer «Machtfaktoren» verstehen, die die faschisierendsten Tendenzen des Bolsonarismus «disziplinieren» wollen. La Rede Globo, «erschafft» die Illusion eines «Wunderlandes», stellt seine Seifenoperas und Wochenschauen in eine permanente Kampagne für ein vermeintliches Brasilien feministischer, antirassistischer und antihomophober «Kämpfe», mit angeblich so verwurzelten «Institutionen der Zivilgesellschaft», dass eine Bolsonaro-Regierung sie nicht zurückdrängen könnte. Die unterschwellige Botschaft lautet: «Hab keine Angst, du kannst für Bolsonaro stimmen, der ist ganz in Ordnung».

Der Präsident des Bundesgerichtshofs versucht zusammen mit dem Oberkommando des Militärs, Intellektuellen, Juristen und Journalisten der wichtigsten Universitäten und der großen Medien, Bolsonaro unter Druck zu setzen, um auf die Verfassung zu schwören und die allzu Putsch-gesteuerten Anwandlungen des Vizepräsidentschaftskandidaten General Hamilton Mourão zu rügen. Mit den Worten des Kommandeurs der Armee, General Villas Boas, zwei Tage nach der ersten Wende der Wahlen:

In einer konsolidierten Demokratie wie der unseren gibt es keine Putsche, auch wenn das brasilianische Volk nicht zulassen wird, dass die Verfassung nicht respektiert und die Institutionen angegriffen werden. Das heutige Brasilien verfügt über solide Institutionen, die es nicht zulassen, dass seine Entwicklung über die Grenzen demokratischer Regeln hinausgeht.

Hinzu kommt der Diskurs, der von einigen der wichtigsten Organe der imperialistischen Presse – vielleicht im Rahmen des Wahlkampfes der Demokratischen Partei der USA für die Halbzeitwahlen im November – verbreitet wird, in dem Bolsonaro wegen seiner autoritären Züge kritisiert wird. Die Vergleiche, die diese Medien von Trump mit Bolsonaro anstellen und ihn als eine Art «Trump der Tropen» definieren, verhehlen die Tatsache, dass die bonapartistischen Züge des amerikanischen Präsidenten im Dienste einer protektionistischen Politik des Imperialismus stehen, während die des Bolsonarismus einer liberalen Politik der wirtschaftlichen Öffnung dienen, um die Interessen des nördlichen Meisters zu fördern.

Diese Arbeit der «Eindämmung» des Bolonarismus reagiert auf ein Verhältnis sozialer Kräfte, in dem die Arbeiterklasse überwiegend passiv ist und die Angriffe, Anpassungen und Privatisierungen, die der institutionelle Putsch mit dem Ziel der Umsetzung durchführte, ohne Widerstand durchgehen liess. Wir stehen vor einem Regime – das jetzt durch die Wahlen legitimiert ist –, das die grundlegendsten Rechte der Rechtsverteidigung angreift und das allgemeine Wahlrecht mit Füßen tritt und die Bevölkerung daran hindert, diejenigen zu wählen, die sie will. Und das zielt darauf ab, ein noch weiter rechts stehendes Machtgleichgewicht durchzusetzen, den Lebensstandard der Massen qualitativ zu verschlechtern, strategische Ressourcen in größerem Umfang zu privatisieren, die sozialen Rechte zurückzustufen und die Unterordnung des Landes unter den Imperialismus zu verschärfen. Wenn diese Veränderung im Machtverhältnis weiterhin mit überwiegend demokratischen Mitteln, ohne den Rückgriff auf physische Gewalt, umgesetzt werden kann, so liegt es im besten Interesse des Kapitals; dieses zieht es vor, mit mehr oder weniger demokratischen Masken zu herrschen, was für die Täuschung schon immer wirksamer war.

Gerade weil der dynamische Pol im Verhältnis der sozialen Kräfte heute der Staatsstreich und insbesondere sein rechtsextremer Kern ist, der gegen ein stillgelegtes Proletariat vorgeht, das an seiner Spitze Führungen hat, die seine Positionen kampflos aufgeben – es ist offensichtlich, dass die wahlparlamentarische Strategie und das Vertrauen in die Justizmacht der PT in jeder Hinsicht verloren gegangen sind, ohne einen ernsthaften Kampf zu führen –, gibt es keinen «Gleichstand» unter den sozialen Kräften, auf die ein Schiedsrichter (Bonaparte) aufgebaut werden könnte, der auf dem Militärapparat ruht, um den Streit zugunsten des Kapitals entscheiden zu können.

Mit anderen Worten, zumindest vorerst würden in Brasilien weder die Notwendigkeit noch die Bedingungen für ein bonapartistisches Regime stricto sensu vorhanden sein. Die von Bolsonaro entfesselten rechtsextremen Kräfte scheinen jedoch in dem sehr wahrscheinlichen Fall, dass er die Wahlen gewinnt, auf eine Art juristisch-militärischer prä-bonapartistischer Regierung zu setzen, die qualitativ autoritärer und reaktionärer ist als die der Temer-Regierung.

Die Widersprüche einer Regierung Bolsonaro

Eine eventuelle Regierung von Bolsonaro stünde grossen Probleme gegenüber, die bereits in den Wahlen selbst zum Ausdruck kommen und zugunsten von Haddad ausschlagen könnten.

Was ihre eigene soziale Basis betrifft, so hat sie zwei zentrale Widersprüche: 1) Sie wird sich mit der Verdunstung all ihrer «Anti-System»- und «Anti-Korruptions»-Demagogie auseinandersetzen müssen, und zwar in dem Maße, wie sie ein parlamentarisches Bündnis mit einer Bande von Mafiosi bilden muss, die die Regierung Temer gestützt hat und mit dem Kongress das Verhandlungsschema festlegen, der der PT feindlich gegenüberstand. 2) Ein wichtiger Teil ihrer Wahlmehrheit ist sich nicht bewusst, dass ihre Regierung in Bezug auf die Angriffe und die Zerstörung auf die Rechte und auf die Lebensbedingungen viel schlechter sein wird als die von Temer. Dieser Widerspruch wird sich mit der demagogischen Eskalation während der Wahlkampagne – um die PT-Wähler einzunehmen, die er in der ersten Runde gewonnen hat – nur verschärfen; dabei wird versprochen, dass er dem Hilfsprogramm Bolsa Familia [eine sehr bescheidene Hilfsmassnahme zur Grundversorgung; Anm. Redaktion] einen Bonus geben wird und dass er keine Steuern für die Ärmsten erheben wird. 3) Das Hin-und-Her von Bolsonaro, wo er zu Beginn sagt, dass er alle öffentlichen Unternehmen privatisieren wird, um dann einzugestehen, dass er seine «strategischen Kerne» beibehalten würde, sind ein Vorgeschmack auf die Konflikte, die zwischen Paulo Guedes‘ ultraneoliberalem Programm und den strategischen Interessen der Militärsektoren und der brasilianischen Bourgeoisie bestehen werden.

In Bezug auf die Wähler von Haddad sind die nationalen Streiks, die die Rentenreform von Temer gestoppt haben, ein Beweis dafür, dass die Arbeiterklasse noch nicht strategisch geschlagen ist. Schon das Votum für die PT, trotz Lulas Verbot und all der antidemokratischen Brutalitäten des Regimes, ihn zu isolieren, ist ein Ausdruck des Kräftegleichgewichts der Sektoren, die sich dem Staatsstreich widersetzen, wenn auch sehr verzerrt. So gelang es Lula, rund 40% der Stimmen zu vereinen und sich in der ersten Runde trotz seiner Aussperrung vom Wahlprozess als möglichen Gewinner darzustellen, wenn er sich präsentieren könnte; es gelang so einen guten Teil seiner Stimmen auf Haddad zu übertragen, in der Nähe des Prozentsatzes, den die Meinungsforscher als direkte Unterstützung für die PT als Partei angaben. Addiert man die Anti-Staatsstreich-Stimmen, die Haddad mitgeführt hat, um seine 42 %ige Wahlabsicht zu vereinen, so würde dies bedeuten, dass Bolsonaro etwa 8 % der traditionell lulistischen Stimmen gewonnen hätte, die immer über die PT-Stimmen hinausgingen.

Trotz aller Unterstützung durch das Finanzkapital und die Großbourgeoisie ist es unwahrscheinlich, dass die Wirtschaft so schnell wachsen wird, dass sich dies auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Massen auswirken wird.

In diesem Rahmen ist eine mögliche Bolsonaro-Regierung bereits schwach geboren und wird wahrscheinlich von mehreren Formen des Klassenkampfes durchzogen werden. Als Ergebnis dieser Angriffe könnten die bonapartistischen Tendenzen, die heute überwiegend durch die Justiz zum Ausdruck kommen, – mit oder ohne Rückgriff auf die Figur des Bolsonaro – zu einem Regime führen, das direkter vom Militärapparat unterstützt wird. Das zeigt der Bericht, der am 11. Oktober in der britischen Wochenzeitung The Economist veröffentlicht wurde:

Die meisten leitenden Beamten sind gemässigt und wollen keine verfassungswidrigen Maßnahmen ergreifen und werden sich Bolsonaro nicht unterordnen, so Verteidigungsspezialist Alfredo Valladão. Wenn er gewinnt, kann sein Widerstand gegen die volle zivile Kontrolle zum Hindernis für ihn werden. Die Armee würde sich laut Valladão nur dann zur Intervention gezwungen sehen, wenn die Konflikte in Brasilien in große politische Gewalt münden würden (Hervorhebung hinzugefügt).

Programm und Strategie zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Putsch

Wir unterstützen die Linie der Revolutionären Arbeiterbewegung (MRT) Brasiliens, der Schwesterorganisation der argentinischen PTS, und begleiten die Arbeiter und Jugendlichen, die kritisch für Haddad stimmen, um Bolsonaro bei den Wahlen zu besiegen. Wir müssen jedoch den gerechten Hass auf den Autoritarismus und das ultraneoliberale Programm von Bolsonaro in eine große Millionenbewegung auf den Straßen verwandeln, um alles zu bekämpfen, wofür er steht.

Im Gegensatz zu dieser Perspektive begann die PT ihren Wahlkampf mit Wahlpropaganda, die dem Hass auf den Autoritarismus Bolsonaros entgegenwirkt und eine Politik vorschlägt, die darauf abzielt, vermeintliche «Verbündete» der traditionellen neoliberalen und putschistischen Parteien anzuziehen, die bei den Wahlen besiegt wurden. Diese Politik geht in die entgegengesetzte Richtung, indem sie die tatsächlichen Bedürfnisse der 25 Millionen Arbeitslosen und Unterbeschäftigten und anderer Millionen Menschen mit Füssen tritt, indem sie deren Lebensbedingungen verschlechtert und deren Rechte beseitigt hat, seit sich der Staatsstreich im Land verankert.

Um dem Vormarsch des Staatsstreichs und der extremen Rechten ernsthaft entgegentreten zu können, müssen wir kämpfen, um alle reaktionären Reformen der Regierung Temer zu stoppen; wir müssen eine starke Bewegung für die Aussetzung der Staatsschulden aufbauen, um Mittel für öffentliche Arbeiten, Gesundheit und Bildung bereitzustellen und verlangen, dass die Gewerkschaften, Studenten- und die Volksorganisationen Basisausschüsse vorantreiben, um den Widerstand zu organisieren und einen großen landesweiten Streik in Verbindung mit Mobilisierungen auf den Straßen des ganzen Landes vorzubereiten.

Es wird nicht möglich sein, den Putschismus und die extreme Rechte mit einem allgemeinen Diskurs über «Frieden und Liebe» und allgemeinen leeren Vorschlägen, ohne konkreten Inhalt zu bekämpfen. Wir können Bolsonaro nur ernsthaft mit einem Programm bekämpfen, das radikal auf die wahren Leiden und Sorgen der ausgebeuteten und unterdrückten Mehrheit des Landes reagiert. Die einzige realistische radikale Antwort ist eine, die für die Mobilisierung von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen einsteht, um den autoritären Vormarsch umzukehren und die Kapitalisten zu zwingen, für die Krise zu bezahlen.

Quelle: laizquierdadiario.com… vom 24. Oktober 2018; Übersetzung aus de Spanischen durch Redaktion maulwuerfe.ch


[1]  Ein Paradebeispiel für diesen Prozess ist der rasante Aufstieg des so genannten Free Brazil Movement (MBL), die nach 2013 Millionen von Social Media-Anhängern gewann. Die MBL war einer der Hauptorganisatoren der großen Demonstrationen für die Amtsenthebung von Dilma, und bei den Wahlen 2018 gelang es ihr, ihren wichtigsten Führer als einen der am meisten gewählten Bundesabgeordneten im Bundesstaat São Paulo wählen zu lassen.

[2] Die brasilianische PT entstand als das, was die Marxisten eine «bürgerliche Arbeiterpartei» nennen, keine bürgerliche oder kleinbürgerliche bürgerliche Partei, sondern eine reformistische Partei, die auf den Gewerkschaften basiert. Daher besteht eine organische Beziehung zu den Organisationen der Arbeiterklasse und insbesondere zur CUT. Siehe «El PT, el neoliberalismo y el régimen brasileño» (Die PT, der Neoliberalismus und das brasilianische Regime).

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