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Elegünk van! – Wir haben genug!

Eingereicht on 13. Februar 2019 – 16:45

Marika Varga und Szabolcs Sepsi. Seit dem 8.Dezember 2018 geht eine Protestwelle durch ganz Ungarn. Die Wut gegen miese Arbeitsbedingungen und andere Missstände wächst. ­Auslöser war ein Ende November ohne Konsultation der Gewerkschaften ins Parlament eingebrachter Gesetzesvorschlag zur Flexibilisierung der Arbeitszeit. SZABOLCS SEPSI vom DGB-Projekt Faire Mobilität und MARIKA VARGA aus dem Bereich Transnationale Gewerkschaftspolitik bei der IG Metall haben die aktuelle Lage und die Vorgeschichte zusammengefasst.

Das «Sklavengesetz»

Seit dem 1.Januar 2019 können Unternehmer in Ungarn pro Jahr bis zu 400 (bislang gesetzlich 250, per Kollektivvertrag 300) Überstunden jährlich verlangen. Es kommt noch schlimmer: Die durchschnittliche Arbeitszeit muss erst im Dreijahreszeitraum erreicht werden. Die Behauptung der Regierung, die Menschen wollten Überstunden machen, um mehr Geld zu verdienen, wird so ad absurdum geführt. Gewerkschaften, Medien und Opposition nennen diese Änderung des Arbeitsgesetzbuches «Sklavengesetz».

Der eigentliche Hintergrund ist ein anderer: In Ungarn wird kräftig investiert, insbesondere von der deutschen Automobilindustrie. Audi produziert dort seit über 20 Jahren, Daimler seit 2012 – ein zweites Daimlerwerk ist im Bau und BMW hat im Sommer 2018 den Bau eines Werkes in Debrecen angekündigt, Opel betreibt ein Komponentenwerk. Entsprechend sind auch zahlreiche Zulieferer und Dienstleister vor Ort. Bereits 2017 lag ein ähnlicher Gesetzentwurf vor, der aber nach heftigen Protesten wieder zurückgezogen wurde. Nach der Parlamentswahl im April 2018 war mit einem neuen Vorstoß zu rechnen.

Ungarn ist nicht mehr nur verlängerte Werkbank. Die neuen Werke der deutschen Premiumhersteller sollen technisch auf dem neuesten Stand sein und «Maßstäbe der Digitalisierung” setzen (so ist es auf der Homepage von BMW zu lesen). Thyssenkrupp und Bosch zentralisieren Entwicklungsbereiche in Ungarn. Schon lange haben die Menschen die Nase voll, für ein Viertel oder ein Drittel des Lohns zu arbeiten, der im Westen bezahlt wird. Entsprechend werden sie auch bei ihren Tarifverhandlungen in den Betrieben immer mutiger und erzielen inzwischen in einzelnen Betrieben Lohnerhöhungen bis zu 20 Prozent.

Indes verlassen auch viele Menschen das Land oder pendeln nach Österreich, um dort in der Gastronomie oder in Landwirtschaft zu arbeiten. In Ungarn herrscht folglich ein massiver Mangel an ausgebildeten Arbeitskräften. Einige Betriebe der Automobilindustrie melden Fluktuationsraten von bis zu 50 Prozent im Jahr. Das ist auch für die Beschäftigten, die bleiben und ständig neue Leute anlernen müssen, eine zusätzliche Belastung. Die Fluktuation verlangsamt auch die dringend notwendige gewerkschaftliche Organisierung. Neu gewonnene Mitglieder verlassen das Unternehmen oft innerhalb weniger Wochen und gehen meist auch für die Gewerkschaften verloren, weil diese stark auf betrieblichen Strukturen basieren.

Labor Ungarn

Die Flexibilisierung der Arbeitszeiten ist auch vor einem weiteren Hintergrund zu sehen. Sie höhlt die Mindeststandards der EU-Arbeitszeitrichtlinie sowie erkämpfte Tarifstandards in Ländern wie Deutschland aus. Entsprechend vermuten viele Medien und die sog. öffentliche Meinung die deutschen Autobauer als Ideengeber für das neue Gesetz. Sie würden dadurch in zweierlei Hinsicht profitieren: Eventuell hilft es gegen Arbeitskräftemangel. Mit Sicherheit ist es aber ein Signal, dass Mitgliedstaaten mit eigenen Gesetzen EU-Richtlinien aushebeln und dieses Instrument der Harmonisierung von Standards somit unwirksam machen können – d.h. den Druck auf Tarifverträge, etwa in Deutschland, nochmals verschärfen.

Schon jetzt lässt sich beobachten, wie Entgeltsysteme, Schichtmodelle, neue Technologien, duale Berufsausbildung in Ungarn eingeführt, weiterentwickelt und getestet werden, ohne dass ein Betriebsrat oder eine Gewerkschaft mitreden könnten. Das sieht das ungarische Arbeitsgesetzbuch nämlich nicht vor. Jegliche Beteiligung müssen sich die Gewerkschaften auf betrieblicher Ebene Stück für Stück erkämpfen. Die ungarischen Betriebsräte sind mit den deutschen Gremien nicht zu vergleichen und haben keine ernstzunehmenden Mitbestimmungsrechte, mit denen sie auch nur eine der Maßnahmen wirksam verhindern könnten. Das Beispiel Ungarn sagt uns viel über die globalen Strategien der Unternehmen.

Fluktuation und Migration

In Ungarn hat sich viel Wut angestaut. Seit 2015 hält sich Viktor Orbán trotz mieser Zustände in Schulen und Krankenhäusern und häufiger Korruptionsskandale mit permanenter Polemik gegen Flüchtlinge über Wasser – und wurde dafür im April 2018 wiedergewählt. Inzwischen verstehen die Menschen, dass Auswanderung und Migration zwei Seiten derselben Medaille sind und dass die Probleme der Infrastruktur, des Gesundheitswesens, der Schulen, der viel zu niedrigen Löhne nicht durch Zäune an der Grenze gelöst werden.

Die Menschen machen auch die Erfahrung, dass Medienkonzentration dazu führt, dass über ihre Demonstrationen nicht berichtet wird – Aktionen in der Provinz werden totgeschwiegen. Die Infos verbreiten sich über soziale Medien und über die wenigen unabhängigen Internetportale und Sender, die meist von Budapest aus betrieben werden. Oppositionspolitikern wird der Zugang zum eigentlich öffentlich-rechtlichen TV-Sender verwehrt, damit sie ihre Forderungen nicht öffentlich vortragen können.

Die Vorgeschichte: Orbán 2.0

Viktor Orbán war schon einmal von 1998 bis 2002 Ministerpräsident und ist seit 1993 Vorsitzender der Partei Fidesz. Fidesz entstand Ende der 80er Jahre und hat sich vom «liberalen Bund junger Demokraten» zum «nationalkonservativen ungarischen Bürgerbund» entwickelt. Inzwischen sagen viele, Fidesz habe die rechtspopulistische und stärkste Oppositionspartei, Jobbik, rechts überholt.

Sofort nach ihrem überwältigenden Wahlsieg im April 2010 stellte die Orbán-Regierung die Weichen für die Neuordnung der politischen und ökonomischen Herrschaftsverhältnisse im Land. Damals hieß Ungarn noch die Republik Ungarn und die Institutionen des Rechtsstaats waren einigermaßen intakt. Es war aber absehbar, wohin die Reise geht.

Im Dezember 2010 versammelten sich mehrere tausend Menschen zu einer Großdemonstration vor dem Parlament. Es ging gegen die Entmachtung des Verfassungsgerichts, gegen das neue Mediengesetz und die neue, der Regierung unterstellte, zentrale Medienbehörde. Sie hatten Kerzen dabei, es wurden Reden gehalten. Dann ergriff ein Organisator das Mikrofon und forderte die Menschenmasse nachdrücklich auf, nun ruhig, jedoch unverzüglich den Platz zu räumen und nach Hause zu gehen. Man wolle ja schließlich zeigen, hier demonstriere die demokratische Opposition. Die, die sich an Regeln hält. Die Menschen sind dann friedlich nach Hause gegangen. Die Regierung machte weiter.

Dieses Muster kehrte in den darauffolgenden Jahren öfter wieder. Immer kleiner werdende Demonstrationen – Anlässe gab es zuhauf – fanden statt und wurden immer weniger beachtet. Eine schwache Opposition war stets bemüht, sich an alle juristischen und ästhetischen Spielregeln des Parlamentarismus zu halten. Man war einfach zu zersplittert, keiner wollte zur Zielscheibe der rechten Medien werden.

Orbán und sein engster Kreis kannten deutlich weniger Skrupel. Neue Gesetze erarbeiteten nicht mehr Ministerien, sondern private Think Tanks. Abgeordnete reichten diese ohne Ankündigung als «Eigeninitiative» ein. Die mit eiserner Hand geführte Fidesz-Fraktion winkte die Gesetzestexte durch, ohne sie zu lesen. Die Öffentlichkeit wurde im Nachhinein informiert. Überforderte Oppositionsabgeordneten klebten «So-geht-das-aber-nicht»-Sticker auf ihre Dienst-Laptops.

Sicherheitshalber: ein neues Wahlgesetz 

2014 reformierte die Regierung rechtzeitig das Wahlgesetz. Sie reduzierte die Anzahl der Parlamentsabgeordneten drastisch und erhöhte den Anteil der Direktmandate. Die Wahlkreise wurden neu zugeschnitten, damit regierungstreue Wähler möglichst überall eine knappe Mehrheit bildeten. Die Rechnung ging auf: Im April 2014 wählten etwa 27 Prozent der wahlberechtigten Bürger Fidesz, die Wahlbeteiligung lag bei 62 Prozent. Mit diesem Ergebnis gewann Fidesz 67 Prozent der Parlamentssitze.

Die Institutionen der Demokratie und die Kommunalverwaltungen wurden geschwächt. Entscheidender jedoch war die Konzentration der ökonomischen Macht in den Händen von Oligarchen, die Fidesz oder Orbán persönlich nahestehen oder von ihm abhängig sind. Loyalisten wurden mit üppigen Staatsaufträgen ausgestattet und gelangten zu sagenhaftem Reichtum. Wer sich widersetzte, musste mit Sondersteuern und Sonderkontrollen rechnen. Die reichsten Männer Ungarns pflegen ausnahmslos gute Beziehungen zu Orbán und unterstützen ihn. Einige seiner privaten Freunde, Sponsoren und Familienmitglieder sind Milliardäre geworden.

Medienoligarchie

Faktisch wurden alle Medien – die gesamte ungarische Presse, alle großen nichtstaatlichen Fernseh- und Radiosender, alle großen Tageszeitungen bis auf eine und die meisten Wochen- und Lokalzeitungen – von Oligarchen der Fidesz aufgekauft. Häufig wurden die ehemaligen Besitzer unter Druck gesetzt. Ein durchschnittlicher Bürger, der nicht in der Hauptstadt lebt und keine Onlinenachrichtenportale benutzt – die Mehrheit der ungarischen Bevölkerung also – konsumiert ausschließlich Nachrichten, die ihm die Regierungspartei aussucht und interpretiert. So kann die freie Presse ganz ohne offizielle Zensur komplett sterben, wie die New York Times kürzlich feststellte.

Die populäre Behauptung, Orbán baue in Ungarn einen autoritären Staat auf, ist falsch. Der ungarische Staat ist abgemagert und schwach, seine Kompetenzen wurden ausgelagert. Wichtige Entscheidungen treffen Personen ohne offizielle Ämter hinter verschlossenen Türen. Das Parlament hat nichts zu sagen, es ist hohl, ein Ort der Langeweile. Der einst rhetorisch brillante Orbán hält dort ab und zu lustlose, holprige Reden, die nach Zynismus und Schnaps stinken, die Opposition kontert mit Klischees.

Proteste gibt es kaum noch. Im November 2018 wurde endgültig klar, dass die von George Soros im Jahr 1991 gegründete Central European University – von der Regierung vertrieben – nach Wien umziehen muss. Zur letzten Solidaritätskundgebung, die eher wie eine bedingungslose Kapitulation wirkte, kamen etwa 40 Menschen mit Kerzen zum Unicampus. Drumherum tobte der Budapester Weihnachtsmarkt, größere Glühweinstände hatten mehr Besucher als die Demonstration.

Derweil wurden an den Hochschulen noch weitere Einschnitte vorgenommen. Gender-Studien sind nicht mehr als Masterstudiengang zugelassen und an der Akademie der Wissenschaften in Budapest wird den Forschungsinstituten das Geld gestrichen.

Morgenluft im Advent

Das Regime hatte ihr Ziel erreicht: die Zivilgesellschaft glaubte nicht mehr, etwas verändern zu können. Keiner interessierte sich mehr für Politik, wichtig war allein die eigene ökonomische Lage, der Konsum, das reine Überleben – je nachdem. Bis Anfang Dezember 2018 die Gewerkschaften zum Protest aufriefen. Am 12.Dezember 2018 sollte das Parlament die Novelle des Arbeitsgesetzes und das Gesetz über neue, politisch kontrollierte Verwaltungsgerichte durchwinken.

Und an diesem Tag hat die Opposition erstaunlicherweise zu sich gefunden und getan, was in einem Parlament, das diesen Namen längst nicht mehr verdient, ihre einzige wirkliche Möglichkeit ist: Sie hat die Sitzung boykottiert. Die Oppositionsfraktionen weigerten sich, die vorgeschriebenen Protokollführer bereitzustellen. Die Abgeordneten blockierten die Wege und hinderten die Fidesz-Abgeordneten daran, Platz zu nehmen. Schließlich holten sie Trillerpfeifen raus und sorgten dafür, dass die Sitzung im Chaos versank. Die Abstimmung fand trotzdem statt, ob die so verabschiedeten Gesetze überhaupt Gültigkeit besitzen, ist umstritten. Viel wichtiger ist jedoch, dass im ungarischen Parlament am 12.Dezember 2018 nach acht Jahren die erste wirkliche Auseinandersetzung stattfand – mit ungewissem Ausgang.

Vor dem Parlament versammelten sich wieder Tausende. Die Menge ging nach den Reden einfach nicht nach Hause. Sie entfernte die Zäune, die den Kossuth-Platz vor dem Parlament – der sog. «Hauptplatz der Nation» – abriegeln, drängte ohne Gewalt auf den Platz und stand vor dem Parlamentsgebäude. Am nächsten Tag marschierten die Demonstrierenden zum Hauptgebäude des ungarischen Staatsfernsehens und forderten, ihr Anliegen vortragen zu dürfen. Denn die Ereignisse wurden von den Fernsehsendern kaum beachtet oder nebenbei als vereinzelte «Randale» von «bezahlten Agenten von Soros» abgetan.

Deutsche Unternehmer lieben Orbán

Es ist kein Zufall, dass sich die seit Jahren ersten ernstzunehmenden, landesweiten Proteste hauptsächlich gegen die Flexiblisierung der Arbeitszeit richten. Die Lage der Beschäftigten in Ungarn ist desolat und hat sich unter Orbán schrittweise verschlechtert.

Der Mindestlohn liegt bei umgerechnet 440 Euro brutto im Monat und zählt damit zu den niedrigsten in der EU. Die Regelungen zur Arbeitszeit und Bereitschaftsdiensten wurde schon einmal gelockert, die Lohnsteuerprogression abgeschafft, die Stellung der Gewerkschaften geschwächt. Arbeitslosengeld bekommt man maximal 90 Tage, danach gibt es eine «Sozialhilfe» von umgerechnet 70 Euro pro Monat. Zudem müssen Arbeitslose «öffentlich geförderte Arbeiten» in der Gemeinde verrichten, die deutlich unter dem Mindestlohn bezahlt werden. Wenn sie diese ablehnen oder aber die Kommune nicht genug Arbeitsplätze zur Verfügung hat, wird die Sozialhilfe ersatzlos gestrichen.

Der Bevölkerung sind die Arbeitsbedingungen schon länger nicht mehr egal. Der wütende Brief einer ehemaligen Produktionsmitarbeiterin eines multinationalen Konzerns, die 15 Jahre lang bei einer Sechstagewoche Zwölfstundenschichten leistete und nach einem Herzinfarkt ihren Job verlor, wurde im Internet tausendfach geteilt. «Was wisst ihr, was freiwillige Überstunden bedeuten?», schrieb sie, «das wissen nur die, die keine Zeit für die Familie oder sich selbst hatten, die nie ausschlafen konnten, die an der Abiturfeier des eigenen Kindes nicht teilnehmen konnten, weil der Konzern keinen Urlaub genehmigt hat! … Im August atmeten wir auf, bis dahin war das maximale gesetzliche Überstundenkontingent ausgeschöpft, jetzt müssen die uns in Ruhe lassen…»

Warum wird in Ungarn investiert? 

Dass internationale Konzerne in Mittel- und Osteuropa zu sehr schlechten Bedingungen arbeiten lassen, ist keine Neuigkeit. Die Opposition wirft der Regierung vor, dass vor allem Unternehmen aus Deutschland auf die Arbeitsgesetzreform Einfluss genommen hätten. Der ungarische Außenminister Péter Szijjártó sagte bei einem Besuch in Düsseldorf, man habe sich mit den in Ungarn investierenden NRW-Unternehmen über die Gesetzesvorschläge ausgetauscht und diese hätten «sehr positiv» reagiert.

Ähnlich positionierte sich die Deutsch-Ungarische Industrie- und Handelskammer. Die in Ungarn agierenden deutschen Unternehmen seien sehr zufrieden mit der Orbán-Regierung, gab deren Geschäftsführer kürzlich bekannt. Und Jan Mainka, Chefredakteur der deutschsprachigen Budapester Zeitung, erklärte gegenüber der Wirtschaftswoche, wenn deutsche Unternehmensführer in Ungarn wählen könnten, würden 90 Prozent von ihnen Orbán wählen.

Investoren wird in Ungarn der rote Teppich ausgerollt. Mit BMW will nun der dritte deutsche Premiumhersteller ein Werk in Ungarn bauen und eine Milliarde Euro investieren. Das Gelände im Wert von etwa 140 Millionen Euro bekommt der Konzern von der Stadt Debrecen gespendet – dafür hat diese einen Kredit aufgenommen und das Gebäude eines Museums für zeitgenössische Kunst als Bürgschaft hinterlegt. Zudem erhält der Konzern einen direkten staatlichen Zuschuss von etwa 60 Millionen Euro für die Baukosten und weitere Infrastrukturprojekte, die einen Wert von etwa 400 Millionen Euro haben. Außerdem darf BMW eine ermäßigte Körperschaftsteuer von nur 5 Prozent zahlen. Der normale Satz für Großunternehmen wurde erst 2017 von 19 auf 9 Prozent reduziert, schon das war der niedrigste Wert in der EU.

Andere Konzerne konnten ähnlich vorteilhafte Deals herausschlagen. Die Orbán-Regierung hat in den letzten acht Jahren etwa eine Milliarde Euro Direktsubventionen an Großunternehmen gezahlt – doppelt so viel wie die Vorgängerregierung in den acht Jahren zuvor. Rund die Hälfte der Subventionen ging an deutsche Firmen. Einige würden sogar mehr Geld vom Staat erhalten, als sie überhaupt an Steuern einzahlen. Deutsche Konzerne und Mittelständler – vor allem Daimler, BMW, Continental, Bosch, Thyssenkrupp, Schaeffler und Siemens – haben jüngst kräftig in Ungarn investiert und politische Fragen dabei ausgeblendet, das stellte auch Die Zeit fest.

Die Werte Europas

Ungarn steht wegen der Verletzung der Rechtsstaatsprinzipien seit Jahren in der Kritik. Ein Ausschluss der Fidesz aus der EVP-Fraktion scheitert jedoch regelmäßig an der CDU/CSU.

Im September 2018 stellte das Europäische Parlament fest, dass die ungarische Regierung regelmäßig gegen die Grundwerte der EU verstößt.  Die ins Gespräch gebrachte Aktivierung von Artikel 7 des EU-Vertrags hätte jedoch dramatische Folgen für Orbáns Regime. Denn die Oligarchen müssen bei Laune gehalten werden, am besten mit üppig bezahlten Infrastrukturprojekten. Aus dem EU-Geld finanzieren die Oligarchen das teure Medienkonglomerat, die Think Tanks, Propagandafeldzüge gegen die EU, gegen Soros oder Flüchtlinge sowie eine ganze Armee von Lakaien – Ideologen, Journalisten, ehemalige Politiker. Jährlich 3–4 Milliarden Euro erhält Ungarn aus dem EU-Haushalt.

Im Januar 2018 stellte das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung fest, dass die Firma von Orbáns Schwiegersohn unter illegalen Bedingungen Aufträge für den Ausbau der öffentlichen Straßenbeleuchtung erhalten hat. Die EU hat die Projekte mit 37 Millionen Euro bezuschusst, das Geld muss möglicherweise zurückgezahlt werden. Die ungarische Staatsanwaltschaft stellte jedoch ihre Ermittlungen ein. Solche Fälle häufen sich.

Von dem Geld profitieren die Projekte deutscher Konzerne genauso wie die der ungarischen Oligarchen. Ungarische Oppositionspolitiker behaupten, die Industrielobby würde die Politik in Deutschland beeinflussen, um eine härtere Linie gegen Orbán abzuwenden. Die Konzerne dürfen auf die ungarische Regierung als verlängerten Arm der Konzernlobby zählen. Außenminister Szijjártó sicherte bei einem Besuch in München Vertretern von BMW und Audi zu, die Klimaziele der EU für 2030 im Europäischen Rat blockieren zu wollen. Diese seien schädlich für die bayrische Autoindustrie und schließlich seien in dieser Frage die bayrischen und ungarischen Interessen «maximal identisch».

Wie weiter?

Landesweiter Streik im März

Im Zuge der aktuellen Proteste taucht in den Medien häufig die Forderung nach einem Generalstreik auf. Es scheint, als ob Opposition, Gewerkschaften und zivile Organisationen in seltener Eintracht daran arbeiten würden, das Regime Orbán zu stürzen, das noch im April 2018 gestärkt aus den Wahlen hervorging.

Die ungarische Gewerkschaftslandschaft ist geprägt von Vielfalt und hält sich seit Jahren weitgehend aus «der Politik» raus. Es gibt fünf Dachverbände, und in vielen Betrieben lehnen es die Betriebsgewerkschaften ab, sich einem der Verbände anzuschließen.

Dieser Pluralismus stellt eine enorme Herausforderung dar. Ein Dachverband (namens «Arbeiterräte») findet zwar die Gesetzesänderung nicht gut, wird aber von der Orbán-Regierung alimentiert und hält daher die Füße still. Der Verband Liga weiß noch nicht so recht, ob er vielleicht auch mal wieder Mittel von der Regierung braucht. Liga gehörte bis etwa 2017 zu Orbáns Lieblingen, bis deren Vorsitzender über einen größeren Korruptionsskandal stolperte. Die meisten unabhängigen Betriebsgewerkschaften sind in Betrieben der Provinz entstanden, d.h. ihre Mitglieder haben vermutlich mehrheitlich Fidesz gewählt oder gar nicht. Auch hier ist noch nicht bei allen klar, ob sie sich weiter an den Protesten beteiligen.

Klar Position gegen die neue Flexibilisierung der Arbeitszeit beziehen die Verbände MASZSZ (Ungarischer Gewerkschaftsverband) und SZEF (öffentlicher Dienst). Sie und ÉSZT (Verband der Intellektuellen) gehen alle aus den Gewerkschaften vor der Wende hervor. Sie haben zwar die meisten Mitglieder, sind aber auch nicht wirklich stark. In Ungarn gelten betriebliche Organisationsgrade von 25–30 Prozent als hoch.

Wahr ist aber auch: Die Menschen beklagen die enorme Lohnlücke zwischen westeuropäischen und ungarischen Standorten und empfinden sie als zutiefst ungerecht. Das Thema wird auch von Gewerkschaften in anderen Transformationsländern aufgegriffen. Dabei setzen sie allerdings stärker auf Forderungen an die nationale oder europäische Politik als darauf, aus eigener Kraft höhere Löhne zu erkämpfen. Hier tut sich nun was: Gewerkschaften konzentrieren sich stärker auf Mitgliedergewinnung und -beteiligung.

Chance für gewerkschaft­lichen Aufbruch

Ein wirklicher Generalstreik scheint dennoch eher unwahrscheinlich. Die Gewerkschaften trauen sich noch nicht, die Grenzen der Legalität auszutesten, und fürchten Schadensersatzforderungen. Eine Chance steckt aber in der Neuregelung der Arbeitszeit. Sie kann in den Betrieben nur durch schriftliche Vereinbarungen auf freiwilliger Basis umgesetzt werden. Dafür sind die in den Betrieben repräsentativen [1] Gewerkschaften bzw. die rechtlich sehr schwachen Betriebsräte zuständig. Ersatzweise können Unternehmer auch freiwillige einzelvertragliche Änderungen mit den Beschäftigten vornehmen – auch wenn es Gewerkschaften und Kollektivverträge gibt.

Einzelne Unternehmer behaupten derzeit, das Gesetz nicht anwenden zu wollen. Dies könnte allerdings eine Beruhigungstaktik sein. Spätestens wenn im Sommer die Mehrarbeitskontingente aufgebraucht sind, wird das Thema neu auf den Tisch kommen. Gewerkschaften sind also gut beraten, jetzt in den Betrieben dran zu bleiben. Ziel ist, in den Betrieben schnell Regelungen zu vereinbaren, die den Arbeitszeitrahmen von drei Jahren verhindern und einzelvertragliche Regelungen ausschließen. Und hier haben Gewerkschaften ein Streikrecht, weil es um Kollektivverträge geht.

Derzeit gilt es, eine umfassende gewerkschaftliche Bildungs-, Informations- und vor allem Organisierungskampagne in Gang zu setzen. Dabei können starke Gewerkschaften aus anderen Ländern gute Unterstützung leisten. Die IG Metall und wichtige Spitzenfunktionäre aus Unternehmen mit Standorten in Ungarn haben am 6.Dezember 2018 eine Solidaritätserklärung verfasst.

Die IG Metall betreibt mit der Metallgewerkschaft Vasas außerdem seit Anfang 2016 ein gemeinsames Bildungs- und Beratungsprojekt. In dem Projekt werden die Vasas-Grundorganisationen in den Betrieben darin unterstützt, bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen und sich mit ihren deutschen Kolleginnen und Kollegen enger zu vernetzen. Seit Januar 2019 beteiligt sich Vasas außerdem am europäischen Gewerkschaftsnetzwerk «Fair Posting» und eröffnet eine Beratungsstelle in Ungarn für Beschäftigte, die nach Deutschland entsandt werden sollen.

Für den 19.Januar 2019 hatten v.a. die Gewerkschaften, aber auch Oppositionsparteien zum gemeinsamen landesweiten Aktionstag aufgerufen. Weil die Regierung Orbán sich weigert, mit den Gewerkschaften über die Rücknahme des «Sklavengesetzes», höhere Mindestlöhne, Wiederherstellung des Streikrechts von vor 2012 und Verbesserungen im Rentensystem zu verhandeln, sollte das Land ab 15 Uhr stillstehen.

Zumindest Verkehrsbehinderungen sind in Budapest und etwa sechzig anderen Städten in Ungarn gelungen. Es gab zahlreiche Demonstrationen, Straßenblockaden auf einer Spur und Kundgebungen in Innenstädten. Unterdessen hatten die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes bereits am 18.Januar einen landesweiten Streik am 14.März ausgerufen. Dies könnte ein geschickt gewähltes Datum sein, weil am Freitag, dem 15.März des Aufstands der Ungarn gegen die habsburgischen Machthaber gedacht wird – ein langes Wochenende also.

Quelle: Soz Nr. 02/2019… vom 1. Februar 2019


[1] Repräsentativ sind Gewerkschaften, die 10 Prozent der Belegschaft eines Betriebs organisiert haben. Gibt es davon mehrere, müssen sie Tarifverträge gemeinsam verhandeln und unterzeichnen.

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