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Die Märzkämpfe in Berlin 1919

Eingereicht on 20. März 2019 – 9:48

Die militärische Operation gegen die Berliner Arbeiter war langfristig und sorgfältig vorbereitet worden. Schon am 31. Ja­nuar hatte der Stab des Generals von Lüttwitz einen sogenann­ten Vorbefehl erlassen, der die Aufteilung Berlins in sieben Sek­toren vorsah, in welche die bei Berlin konzentrierten Truppen von verschiedenen Seiten her einmarschieren sollten. Im Stadtzentrum sollten anfangs die Truppen der Berliner Stadtkommandantur ope­rieren: die Freikorpsbrigade Reinhard und Einheiten der „Repu­blikanischen Soldatenwehr“, da diese nach Meinung Noskes den Berlinern nicht so verhaßt waren wie die Gardedivisionen. Die ge­samte Operation sollte im Zeichen der „Verteidigung“ gegen einen Uberfall der „Spartakisten“ vonstattengehen.(103) Im Februar erhielten die Truppen zahlreiche zusätzliche Anweisungen, die den Plan zur Niederschlagung der Berliner Arbeiter konkretisierten.(104) Reserveoffiziere, Studenten und Bourgeoisiesöhne organisierten Abteilungen der „Bürgerwehr“, erhielten Waffen und absolvier­ten eine militärische Ausbildung.

Am 28. Februar verbot der Berliner Stadtkommandant Albert Klawunde Demonstationen und Versammlungen unter freiem Himmel. Am nächsten Tag wurden mehrere Abteilungen der Re­publikanischen Soldatenwehr in den Stadtbezirk Weißensee ver­legt. Im Parademarsch zog in Berlin das aus Afrika zurück­gekehrte Korps des Generals Lettow-Vorbeck ein; am Branden­burger Tor wurde ihm ein festlicher Empfang bereitet.(105)

Am 2. März wurde der Sozialdemokrat Georg Schöpflin zum Militärgouverneur von Berlin ernannte. Am selben Tage machte die Kommandantur die Einheiten der Garnison mit dem Geheim­befehl des Generals Lüttwitz über den Ablauf der militärischen Aktionen bekannt.(106) Der Berliner „Bürgerrat“ beschloß auf einer gesonderten Sitzung, im Falle eines Streiks der Arbeiter den „Ge­genstreik“ auszurufen. Wie schon die Ereignisse in Wilhelms­haven, Halle, Leipzig und anderen Städten gezeigt hatten, war der Gegenstreik“ eine der barbarischsten Kampfmethoden der Bour­geoisie: Die Ärzte mußten den Arbeitern medizinische Hilfe, die Apotheken die Ausgabe von Medikamenten, die Lebensmittel­geschäfte den Verkauf von Nahrungsmitteln, die Postämter die Auszahlung von Renten verweigern usw.(107)

Am 3. März veröffentlichte „Die Rote Fahne“ einen Aufruf der Zentrale der KPD, der Berliner Bezirksleitung der KPD, der kommunistischen Fraktion der Vollversammlung der Arbeiter- ­und Soldatenräte Groß-Berlins und der kommunistischen Ver­trauensleute der Berliner Großbetriebe. Darin wurden die Ar­beiter aufgerufen, das Werk der Revolution zu vollenden, und es wurde die Losung verkündet: „Nieder mit Ebert-Scheidemann-Noske, den Mördern, den Verrätern! Nieder mit der National­versammlung! Alle Macht den Arbeiterräten!“

Unter dieser gesamtpolitischen Orientierung wurden die Arbei­ter aufgefordert, vor allem fünf konkrete Teilforderungen durch­zusetzen:

1) sofortige Wahl von Betriebsräten in allen Betrieben, die zu­sammen mit den Arbeiterräten die Kontrolle über die Produk­tion ausüben und schließlich die Betriebsleitung übernehmen sollten;

2) Beseitigung der Willkürherrschaft der Soldateska, Wiederher­stellung des vollen Vereins- und Versammlungsrechts, Über­tragung der Polizeigewalt auf die Arbeiterräte;

3)Auflösung der weißgardistischen Freikorps, Entwaffnung der Offiziere, der Studenten und der Bourgeoisie, Bildung einer Roten Garde;

4)Befreiung aller politischen Gefangenen, Einsetzung eines Re­volutionstribunals zur Aburteilung der Hohenzollern und der anderen Hauptschuldigen am Kriege, aber auch der Verräter an der Revolution, der Ebert, Scheidemann, Noske, und der Mörder Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs;

5) sofortiger Friedensschluß mit Sowjetrußland und Wiederauf­nahme der diplomatischen Beziehungen.(108)

Die Berliner Bezirksleitung der SPD versuchte, die Arbeiter von Aktionen zurückzuhalten und Desorganisation und Spaltung in deren Reihen hineinzutragen. Sie teilte im „Vorwärts“ mit, sie habe eine Kommission zu Verhandlungen mit der Regierung nach Weimar entsandt, so daß ein Streik überhaupt nicht notwendig sei.(109) Die einflußreichste Arbeiterpartei der Hauptstadt, die USPD, nahm keine eindeutige Position ein. Ihr am Vortage in Berlin eröffneter außerordentlicher Parteitag lehnte den Vor­schlag ab, den Berliner Streik auf ganz Deutschland auszudehnen und einen Ausschuß zu seiner Führung zu bilden; er beschränkte sich auf die Bekundung „wärmster Sympathie“ und auf die allge­meine Erklärung, daß der politische Massenstreik des Proletariats „momentan das beste Mittel“ sei, um „Protest gegen das konter­revolutionäre Verhalten der pseudosozialistischen Regierung zu erheben“(110).

Am Morgen des 3. März schloß sich ein Großbetrieb nach dem anderen dem Streik an. Die größte Aktivität zeigten die Metall­arbeiter.

In Betriebsversammlungen nahmen die Arbeiter Resolutionen über die Niederlegung der Arbeit an, formulierten Forderungen und wählten Delegationen, denen in der Regel Kommunisten, USPD-Mitglieder und Sozialdemokraten angehörten. Die Dele­gationen wurden zum Gewerkschaftshaus entsandt, wo um 10.30 Uhr eine Vollversammlung der Berliner Arbeiter- und Sol­datenräte eröffnet wurde. Diese befaßte sich aber in den ersten anderthalb Stunden mit Fragen des Zeitpunktes und der Prozedur der Einberufung des Rätekongresses, ehe Richard Müller mittags mitteilte, daß Resolutionen eingegangen und Arbeiterdelegatio­nen eingetroffen seien.

Die Delegierten der Siemens-Dynamo-Werke, der AEG-Turbinenwerke, der Firma Loeb-Charlottenburg, der Firma Stock-Marienfelde, der Staatswerkstätten Spandau, der Schwartzkopff-AG Wildau und Berlin, der Firmen Knorr-Bremse und Siemens-Halske, der Gießereien, der Eisenbahnwerkstätten u. a. m. infor­mierten die Versammlung über ihren einmütig gefaßten Streikbeschluß; viele schlugen die Annahme der fünf Forderungen vor, welche „Die Rote Fahne“ am Morgen veröffentlicht hatte. Die Resolution der Arbeiter der Siemenswerke verlangte außerdem, daß die Vollversammlung „unverzüglich die Bewegung in ihre Hand nimmt, um so eine proletarische Einheitsfront (Hervorheb. v. Verf.) zu verwirklichen und der gesamten Arbeiterschaft zu einem Erfolge zu verhelfen.“(111)

Richard Müller schickte die Delegationen erst einmal aus dem Saal, ehe er die Diskussion eröffnete. Obwohl die Rätevollver­sammlung sich der vollendeten Tatsache gegenübersah, daß der Generalstreik bereits begonnen hatte, sprach sich der Redner der DDP gegen einen Streik aus. Er fand dabei die Unterstützung des Sozialdemokraten Otto Frank, der erklärte, die SPD werde sich der Stimme enthalten; Frank forderte stattdessen die Durchfüh­rung einer geheimen Urabstimmung in den Betrieben. Dennoch wurde mit etwa 400 gegen 120 Stimmen bei 200 Stimmenthaltun­gen der Generalstreik beschlossen.(112)

Richard Müller bemühte sich nicht wenig, die in den Resolutio­nen der Arbeiter und im Aufruf der KPD aufgestellten Forderun­gen abzuschwächen. So schlug er vor, die Forderung „Alle Macht den Räten“ durch die nach „Anerkennung der A.- u. S.-Räte“ zu ersetzen. Der Kommunist Herfurth warnte davor, daß solche Halb­heit „aufs Glatteis führen“ werde: Die Mehrheit der Betriebe habe sich für die Übergabe der vollen wirtschaftlichen und poli­tischen Macht an die Räte ausgesprochen, und unter „Anerken­nung“ könnte man auch „Verankerung in der Verfassung“ verste­hen.(113) Da sich an der Abstimmung auch die Gegner des Streiks beteiligten, konnte Müller seine Formulierung mühelos durch­bringen. Statt von einer Roten Garde war nunmehr von der „Bil­dung einer revolutionären Arbeiterwehr“ die Rede; zugleich mußte aber die Forderung der Soldaten nach sofortiger Verwirklichung der „Hamburger Punkte“ angenommen werden. Die For­derung, ein Tribunal über die Ebert-Scheidemann-Noske zu hal­ten, wurde abgelehnt, die von der Versammlung angenommene Forderung, über die Kriegsverbrecher und die Mörder Karl Lieb­knechts und Rosa Luxemburgs Gericht zu halten, wurde im ver­öffentlichten Beschluß einfach ausgelassen. Weiterhin wurden wirtschaftliche Forderungen beschlossen, die den Richtlinien des Vollzugsrates vom Januar 1919 entsprachen, welche aber von der Regierung abgelehnt worden waren.(114)

Richard Müller empfahl, die Leitung des Streiks dem Volzugsrat zu übertragen, obgleich die Hälfte von dessen Mitgliedern Streikgegner waren. Den Vorschlag, ein Streikkomitee aus der Mitte der Versammlung heraus zu wählen, bezeichnete er als „Mißtrauensvotum“ gegen ihn persönlich. Daraufhin lehnten die Kommunisten eine Beteiligung am Komitee ab und erklärten, sie würden eine eigene Streikleitung bilden, seien aber im Interesse der „Einheit der Aktion“ bereit, Beobachter zwischen den beiden Streikleitungen auszutauschen. Als die Vertreter der DDP aus dem Vollzugsrat austraten, beschlossen die Vertreter der SPD und der USPD, in die Streikleitung zusätzlich je zehn Mitglieder ihrer Parteien zu kooptieren.(115)

Die Kommunisten hatten allen Grund, den Sozialdemokrate nicht zu trauen, da diese ihre ablehnende Haltung zu dem begonnenen Streik nicht verhehlten und noch am Vortage in direkt Verhandlungen mit derselben Regierung eingetreten waren, gegen die sich der Streik richtete. Jedoch das von der KPD geschaffene eigene Streikzentrum vermochte den Generalstreik nicht allein zu leiten, und breite Kreise des Berliner Proletariats verstände diese Position der Partei auch nicht. Die Situation komplizierte sich noch dadurch, daß am Abend des 3. März Soldaten der Brigade Reinhard in die Redaktion und in die Druckerei der „Roten Fahne“ eindrangen und dort ein Pogrom verübten, so daß die Zeitung vorübergehend nicht mehr erscheinen konnte.(116)

Am 4. März wurden infolge des Streiks auch keine Zeitungen der USPD herausgegeben; nur das „Mitteilungsblatt des Vollzugs­rats der A.- u. S.-Räte“, dessen Redakteure Ernst Däumig und Erwin Barth der USPD angehörten, erschien als Organ der Streikleitung. Aber schon nach der Ausgabe der ersten Nummer erklärte Noske das Blatt für überflüssig und befahl die Zerschla­gung der Druckplatten.(117) Dafür erschienen vorerst alle bürgerlichen Zeitungen und der „Vorwärts“ weiter, da der Streikaufruf nicht voll befolgt wurde. Im „Vorwärts“ war denn auch direkt die Rede davon, daß der Generalstreik gegen den Willen der So­zialdemokraten ausgerufen worden sei, und es wurde zu seiner Sabotage aufgefordert. Demgegenüber prangerten die Kommu­nisten in einem Flugblatt dieses Streikbrechertum an und forder­ten die Fortsetzung des Streiks. Die Vollversammlung der Ber­liner Arbeiter- und Soldatenräte nahm den Antrag, das Erschei­nen der revolutionären Presse – der Organe von KPD und USPD – zu gewährleisten und die konterrevolutionäre zu verbieten, je­doch nicht an. Mit geringer Stimmenmehrheit (289 gegen 284 Stimmen) wurde vielmehr beschlossen, eine Delegation nach Wei­mar zu schicken, um der Regierung die Forderungen der Strei­kenden zu übergeben.(118)

Während sich die Führer des Streiks unschlüssig verhielten, schickte sich die Regierung an, ihre früher ausgearbeitete Dispo­sition zu realisieren. Obwohl der Streik friedlich und ruhig be­gonnen hatte, verhängte die preußische Regierung schon am 3. März den Belagerungszustand über Berlin und übertrug Noske die Vollzugsgewalt. Dieser verbot für Berlin und Umgebung so­fort alle Versammlungen und Demonstrationen und ließ den Be­fehl mit der Unterschrift aller Mitglieder der preußischen Regie­rung in den Straßen anschlagen. Kriegsgerichte wurden eingesetzt und in der gesamten Stadt die Patrouillen bewaffneter Abteilun­gen der Kommandantur verstärkt. Das rief die Empörung der Arbeiter hervor, und es wurden Zwischenfälle provoziert. Das Generalkommando Lüttwitz erhielt den Befehl zum Einmarsch der ihm unterstellten Regierungstruppen in Berlin.(119)

So wurde die Lage immer gespannter. Bereits am 3. März kam es im Stadtzentrum zu Scharmützeln. Auf dem Alexanderplatz und in den Hauptstraßen sammelten sich Volksmassen an. Als die Republikanische Soldatenwehr den Platz von Menschen zu säubern versuchte, kam einer der Soldaten ums Leben. An den Uberfällen auf Polizeireviere waren möglicherweise Provokateure beteiligt.(120) Nachts ereigneten sich Raubüberfälle auf große Kauf­häuser. Am 4. März nahm die Zahl der Menschen auf den Plät­zen und in den Straßen noch mehr zu, die Zwischenfälle in der Gegend Alexanderplatz – Polizeipräsidium häuften sich. In einem Telefonat eines Hauptmanns der Regierungstruppen, Marx, hieß es, daß zwischen Spree und Alexanderplatz Kämpfe stattfänden, „die ziemlich blutigen Charakter annehmen“.(121) In einem Bericht aus dem Polizeipräsidium war die Rede von einer infolge des „Sturms der Spartakisten“ „kritischen“ Lage.(122)

In Wirklichkeit konnte von irgendwelchen Aktionen der „Spar­takisten“ überhaupt keine Rede sein. Im Gegenteil, die Führung der KPD warnte die Arbeiter mehrmals: „. . . laßt euch nicht zu militärischen Putschen verleiten . . .“; „Laßt euch nicht in unnütze Schießereien ein, auf die der Noske nur lauert, um neues Blut zu vergießen. Bleibt in den Betrieben beieinander, damit ihr ak­tionsfähig seid in jedem Augenblicke!“(123) Auf der Sitzung des Vollzugsrates am Abend des 3. März wiesen die USPD-Mitglieder Paul Wegmann, Paul Neumann, Heinrich Malzahn, Wendt und sogar Richard Müller entschieden eine Verantwortung der Kommunisten für die Unruhen zurück. Jaeschke (USPD) wies darauf hin, daß die Freiwilligenverbände nur einen Vorwand suchten, um die Arbeiter zu überfallen: „Die Noskegarde ist uns zuvorgekommen . . . Die Mehrheitssozialisten sollten danach se­hen, was von rechts kommt und nicht danach, was von links kommt.“(124) Die Vollversammlung der Berliner Arbeiter- und Sol­datenräte vom 4. März wandte sich auf Antrag der Kommunisten „mit aller Entschiedenheit gegen die Verhängung des Belage­rungszustandes“, da er sich „in der Hauptsache gegen die Arbei­ter“ richte, und forderte seine unverzügliche Aufhebung.(125)

Am Morgen des 4. März erreichten starke Kräfte der Garde-Kavallerie-Schützen-Division Berlin und umgaben das bereits von Truppen der Kommandantur besetzte Regierungsviertel mit einem zweiten Ring. Nach ihnen rückten in die Stadt die 31. Schützen­division, das Freikorps des Generals von Hülsen und andere Ein­heiten ein, so daß an der „Operation“ über 40’000 Soldaten teil­nahmen, nicht gerechnet die Einheiten der Kommandantur.(126) Mittags setzten Einheiten der Brigade Reinhard, die das Polizeipräsidium besetzt hielten, auf dem Alexanderplatz Panzerautos gegen Arbeiter ein und beschossen unbewaffnete De­monstranten aus Maschinengewehren. Zu Zusammenstößen zwi­schen Truppen und Arbeitern kam es auch am Bülowplatz. Am selben Tag entwaffneten Truppen von Hülsens ein „unzuverläs­siges“ Pionierbataillon und trieben Arbeiter auseinander, die sich am Rathaus angesammelt hatten.(127)

Wie der Vorsitzende der kommunistischen Fraktion in der Voll­versammlung der Arbeiter- und Soldatenräte, Herfurth, am 5. März mitteilte, waren am Vortage 13 Menschen getötet, 28 schwer und 9 leicht verletzt worden. „Ich stelle fest“, fuhr er fort, „daß allein die Regierungstruppen Unruhe und Verbrechen in die Bevölkerung hineinbringen.“ Die KPD betrachte nicht die Er­oberung der politischen Macht und den Sturz der Regierung Ebert-Scheidemann als Ziel des Streiks; der Weg zum Sozialis­mus führe nur über den Ausbau des Rätesystems, die Partei lehne „jede Putschtaktik ab“. Herfurth protestierte gegen die fortge­setzten Verhaftungen von Kommunisten. Der Kommunist Bergs entlarvte Provokateure der Kommandantur, die in die Organisa­tion geschickt worden waren, um sie zu bewaffneten Aktionen zu verleiten.(128)

Auf der Berliner Rätevollversammlung trat die wachsende Un­zufriedenheit der Teilnehmer über die Haltung der SPD-Führung deutlich zutage. Einige Redner wiesen die Lügenmeldungen der bürgerlichen Presse und des „Vorwärts“ zurück, daß sich die 26’000 Eisenbahner nicht am Streik beteiligten. Der Sozialdemo­krat Klibur beschuldigte die Führer seiner Fraktion direkt des Verrats, da sie zum passiven Widerstand gegen den Streik auf­gerufen hätten, und erklärte seinen Austritt aus der SPD. Die SPD-Fraktion sah sich zu der Versicherung gezwungen, sie habe nicht die Absicht, den Streik zu sabotieren, und mußte sich von den Meldungen des „Vorwärts“ distanzieren.(129) Von dem festen Willen breitester Schichten der Arbeiterklasse, den Streik fortzu­führen, zeugte auch der Wunsch der Führer der Berliner Gewerk­schaftskommission und der Organisation der Syndikalisten, in die Streikleitung aufgenommen zu werden. Richard Müller ließ zwar nicht davon ab, Gegensätze zu verwischen und zur „Toleranz“ aufzurufen, mußte aber zugeben, daß die Arbeiter über die militärischen Maßnahmen der Regierung tief empört waren und for­derten, daß der Streik auf den Verkehr und die Versorgung mit Elektrizität, Gas und Wasser ausgedehnt werde.(130)

Am 5. März kam es auf dem Alexanderplatz und in den an­grenzenden Straßen des Zentrums wiederum zu großen Menschen­ansammlungen. Gegen sie wurden Verbände der Berliner Garni­son eingesetzt. Zuerst versuchten 800 Matrosen der Volksmarine­division und zwei Panzerautos, den Alexanderplatz von Men­schen zu räumen, doch alsbald wurden sie selbst aus dem Ge­bäude des Polizeipräsidiums beschossen, in das in der Nacht das Freikorps Lützow verlegt worden war, da – nach offizieller Ver­sion – jemand aus den Garnisonstruppen erklärt haben sollte, sie selbst wollten sich nicht an dem Angriff auf die „Ruhestörer“ be­teiligen.(131) Bald folgten weitere Zusammenstöße der Matrosen mit den Gardetruppen.

Damals wie auch später wurde der unmittelbare Ausbruch der Auseinandersetzungen häufig auf ein „Mißverständnis“ zurück­geführt. Doch die Tatsache, daß die Zwischenfälle schnell in er­bitterte bewaffnete Kämpfe hinüberwuchsen, war weder für die eine noch für die andere Seite eine Überraschung(132), sahen doch die Noskeschergen in der Entwaffnung der „unzuverlässigen“ Garnisonstruppen – der Republikanischen Soldatenwehr und der nach den Januarkämpfen in sie eingegliederten Reste der Volks­marinedivision – eine ihrer ersten Aufgaben. Obwohl die Garni­sonseinheiten zuerst gegen die Arbeiter vorgingen, vereinte die Solidarität die revolutionären Arbeiter mit den gegen die Reak­tion auftretenden Soldaten und Matrosen spontan im Kampf ge­gen die provozierenden weißen Gardetruppen. In der bürgerlichen Presse sprach man daraufhin sogleich von einem „Spartakusauf­stand“, und die Berichte der Kommandantur, des Polizeipräsidi­ums und des Stabes Lüttwitz malten die oft übertriebenen Mel­dungen über die Kämpfe zwischen „Spartakisten“ und Regierungs­truppen in grellen Farben aus.(133)

Unterstützt von Arbeitern, versuchten die Matrosen am Mittag des 5. März, das Gebäude des Polizeipräsidums im Sturm zu neh­men, wurden aber abgewehrt. Arbeiter begannen auf dem Straus­berger Platz, in der Neuen Friedrichstraße und in anderen Magi­stralen im Zentrum Barrikaden zu errichten. Nach einigen Zeug­nissen wurden hier 78 Menschen getötet, darunter Frauen und Kinder.(134) In der Nacht zum 6. März gingen die Schießereien wei­ter. Am folgenden Morgen wurde die Garde-Kavallerie-Schützen-Division gegen die Matrosen und Arbeiter in Marsch gesetzt; von drei Seiten entfaltete sie ihren Angriff. Drei Flugzeuge klärten die Maschinengewehr- und Artillerieziele auf und warfen mehrere Bomben. Am Alexanderplatz wurden von den Regierungstruppen auch leichte und schwere Artillerie und zwei Zentner schwere Minen eingesetzt, die Trichter mit einem Durchmesser von sechs bis sieben Metern rissen.

Nach dem Artilleriebeschuß und der Sprengung der Tore dran­gen die Nosketruppen in den Marstall ein, wo erbitterte Nah­kämpfe zwischen ihnen und den Matrosen und Arbeitern entbrann­ten. Die Kasernen der Volksmarinedivision wurden kampflos be­setzt und jene Einheiten der Republikanischen Soldatenwehr, die sich auf die Arbeiter zu schießen weigerten, entwaffnet. Die Mari­nebrigade Roden besetzte das Gymnasium in der Elisabethstraße. Noch am nächsten Tag kam es im Zentrum zu einzelnen Schar­mützeln; die Regierungstruppen führten Hausdurchsuchungen durch, nahmen „Verdächtige“ fest und erschossen sie auf der Stelle.(135) Der amerikanische Agent Thomas Johnson prahlte später mit der Rolle, die die amerikanische Militärmission bei der Ab­rechnung mit den Arbeitern gespielt hatte. Die Soldaten Noskes hätten den Aufruhr am Alexanderplatz dank den Informationen unterdrücken können, die sie vom amerikanischen Stab aus dem Hotel Adlon erhielten. Dabei seien zahlreiche „Rote“, die sich in den Kellern versteckt hätten, erbarmungslos erschossen worden.(136)

Währenddessen breitete sich der Streik weiter aus. Viele Klein­betriebe schlössen sich ihm an, im Transportwesen ruhte die Arbeit völlig, und es erschienen keine Zeitungen mehr. Mehr als eine Million Werktätige streikte. Die Vollversammlung der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte am Mittag des 6. März verlief beson­ders stürmisch. Der Unabhängige Sozialdemokrat Fischer prote­stierte gegen die Entwaffnung der Republikanischen Soldatenwehr und der Matrosen: „Sollen sich unsere Brüder, die allein für Ruhe und Ordnung bisher gesorgt haben, von einer jungen Soldateska hinschlachten lassen? … Warum geht man gegen unsere Soldaten­wehr vor? Aus ganz guten Gründen: Solange wir noch diese Macht hier haben, sind wir noch nicht vogelfrei. Sobald man uns diese Waffe genommen hat, verlassen Sie sich darauf, tagen wir hier keine 5 Minuten mehr.“(137)

Die kommunistischen Vertreter schlugen der Versammlung die Annahme des folgenden Antrages vor: Der Arbeiter- und Solda­tenrat von Groß-Berlin „übernimmt die oberste Kommandogewalt über den gesamten Truppenkörper von Groß-Berlin. Die Kommandobefugnisse der Freiwilligen-Verbände sind aufzuheben.“(138) In seiner Begründung hob Herfurth hervor, daß andernfalls in zwei bis drei Tagen die nicht zu den Freiwilligenverbänden gehören­den Truppen entwaffnet oder im Kampf aufgerieben würden und damit auch das Schicksal der Räte entschieden wäre. Man dürfte sich nicht scheuen, den Regierungstruppen den Fehdehandschuh hinzuwerfen, sonst würde man die Truppenverbände, die noch auf dem Boden der revolutionären Errungenschaften stehen, derartig vor den Kopf stoßen, daß sie „für uns als Sicherheit des Lebens und des persönlichen Rechtes in wenigen Tagen überhaupt nicht mehr in Frage kommen“. Die kämpfenden revolutionären Truppen forderten, ihre Vertreter sollten zum Ausdruck bringen, daß die arbeitende Bevölkerung hinter ihnen stünde, und daß sie ihnen in ihrem Kampfe gegen die freiwilligen Verbände ihre volle Sym­pathie erwiese und dieses Blutvergießen brandmarke. Die Kom­munisten schlugen außerdem vor, den Belagerungszustand, den Einsatz von Waffen, Panzerautos und Tanks gegen wehrlose Strei­kende und die Unterdrückung der revolutionären Presse anzupran­gern. Die Räteversammlung müsse die Verhandlungen mit einem Gegner, „der ihr die Pistole auf die Brust setzt“, sofort ab­brechen.(139)

Der USPD-Vertreter Seliger betonte: „Der Gewalt kann nur Gewalt entgegengesetzt werden. Wenn Noske nicht aufhört, uns mit seinen Truppen mit Gewalt entgegenzutreten, müssen wir die letzten Mittel in Erwägung ziehen.“(140) Aus der Rede des Mitglieds der Militärkommission Hugo Albrecht ging, so ausweichend sie auch war, klar hervor, daß Noske und sein Adjutant Major Erich von Gilsa nicht gesonnen waren, den Angriff der Lüttwitzschen Truppen zu stoppen. Das USPD-Mitglied Neumann teilte mit, die SPD-Fraktion habe bereits am Vortage beschlossen, dem Ver­langen der Regierung nachzukommen und aus der Streikleitung auszutreten; er schlug vor, daß die Vollversammlung darauf mit der Verstärkung des Generalstreiks antworte. In diesem Sinne brachte die USPD-Fraktion den Antrag ein, die Gas-, Wasser-und Elektrizitätswerke völlig stillzulegen. Richard Müller ver­suchte auch diesmal auf jede erdenkliche Weise, eine Ausdehnung des Streiks zu verhindern, und fiel damit seiner eigenen Fraktion in den Rücken. Der Vorschlag zur Bildung einer revolutionären Roten Garde wurde auf sein Drängen mit dem formalen Argument abgelehnt, er sei bereits früher eingebracht worden und erübrige sich deshalb – obwohl tatsächlich nichts zu seiner Realisierung unternommen worden war. Den Vorschlag, demzufolge der Voll­zugsrat die Kommandogewalt übernehmen sollte, bezeichnete er als „erübrigt“: „Man kann nämlich die Kommandogewalt nicht übernehmen, wenn man nicht die Truppen in der Hand hat.“ Mit dem gleichen Kommentar wurde auch die Entschließung für den Abbruch der Verhandlungen mit der Regierung verworfen. Doch selbst mit routinierter Demagogie vermochte er nicht die Annahme der Resolution zu hintertreiben, die die Einstellung der Gas-, Wasser- und Elektrizitätsversorgung vorsah – die erdrückende Mehrheit der Vollversammlung stimmte dafür. Diesen Beschluß nahmen die Sozialdemokraten sofort zum Anlaß, um offen ihre weitere Beteiligung am Streik aufzukündigen und aus der Streik­leitung auszutreten. Auf Kommando verließen die meisten von ihnen den Sitzungssaal. Daraufhin erklärte auch Müller, er lege die Streikleitung nieder.(141) Damit war der Streikausschuß ge­sprengt.

In der Sitzung des Vollzugsrates am Abend des 6. März er­reichte die Verwirrung der Führer ihren Höhepunkt. Zur Unter­stützung der Sozialdemokraten nahmen an dieser Sitzung Ver­treter des Zentralrats teil, und vonseiten der USPD war Ernst Däumig erschienen. Eigentlich hatten die Sozialdemokraten die Hauptsache – den Abbruch des Streiks – erreicht und wollten nur noch „das Gesicht wahren“. Däumig hingegen rief dazu auf, „die Dinge in die Hand zu nehmen“, und suchte einen Kompromiß.(142) Doch ein Streikausschuß existierte nicht mehr, und der Vollzugs­rat ging unter Leitung Richard Müllers daran, die Ergebnisse der Verhandlungen mit der Regierung in Weimar zu erörtern.

Die Regierung hatte nicht mit der Delegation des Berliner Ar­beiter- und Soldatenrats, sondern mit einer Kommission der rechten Sozialdemokraten Berlins Abmachungen zur Beendigung des Streiks getroffen. Darin war die Rede davon, daß die „Ge­setzgebungsmaschine des Reiches auf die gesetzliche Regelung der Arbeiterratsfrage“ von nun an „eingestellt“ sei. Wie boshafter Spott hörten sich die Worte „Versammlungs- und Pressefreiheit“ in einem Augenblick an, wo die Regierungstruppen auf wehrlose Demonstranten schössen und Noske nach dem Befehl, alle Redak­teure der „Roten Fahne“ zu verhaften, alsbald auch das Verbot der USPD-Zeitungen „Die Freiheit“ und „Republik“ aussprach. Die „Zugeständnisse“ der Regierung liefen auf das Versprechen hinaus, daß „die Arbeiterräte … als wirtschaftliche Interessen­vertretung grundsätzlich anerkannt und in der Verfassung ver­ankert“, ein neues Arbeitsrecht ausgearbeitet und sofort die Ge­setzgebung zur „Sozialisierung“ begonnen werden würde. Die Re­gierung sicherte außerdem zu, die Kriegsgerichte aufzuheben und die Lebensmittelversorgung zu verbessern.(143)

Auf der Vollversammlung der Berliner Arbeiter- und Soldaten­räte am 7. März räumte ein Teilnehmer an den Verhandlungen in Weimar, das USPD-Mitglied Malzahn, ein, daß die Konzes­sionen der Regierung nur „ein Angst- und Notprodukt aus den augenblicklichen politischen Verhältnissen heraus“ seien. Es be­durfte der Redekunst Ernst Däumigs, daß im Ergebnis der mehr­stündigen Versammlung die von ihm eingebrachte Resolution über den Abbruch des Streiks „unter großer Erregung“ der Versamm­lungsteilnehmer angenommen wurde, und zwar unter den Bedingun­gen: keine Vergeltungsmaßnahmen gegen die Streikteilnehmer, Freilassung der Verhafteten, Räumung aller militärisch besetzten Betriebe, Entfernung der Freiwilligenverbände aus Berlin sowie Aufhebung des Belagerungszustandes und der außerordentlichen Kriegsgerichte.(144)

Aber das war erst der Anfang des abschüssigen Weges, auf den man sich begeben hatte. Ein paar Stunden später erklärte Richard Müller in der Sitzung des Vollzugsrates, daß die beiden letzten Bedingungen (Entfernung der Freikorps sowie Aufhebung des Belagerungszustandes und der Kriegsgerichte) – um deren Erfül­lung der bewaffnete Kampf doch überhaupt gegangen war – nicht unbedingt aufrechtzuerhalten seien.(145) Die Verhandlungen mit Noske brachten überhaupt nichts ein. Die SPD-Fraktion rief in einem in der Stadt verteilten Aufruf auf rotem Papier und in Flugblättern zur Einstellung des Streiks auf, ebenso der Gewerk­schaftsausschuß in einem gelb gehaltenen Aufruf. Obwohl die für die Einstellung des Streiks gestellten Bedingungen von Noske nicht akzeptiert worden waren, sprach sich am 8. März die Mehr­heit der Teilnehmer der Vollversammlung der Arbeiter- und Sol­datenräte für den Vorschlag der USPD-Fraktion zum Abbruch des Generalstreiks aus; eine starke Minderheit stimmte für die Fortsetzung des Streiks bis zum Abzug der Freikorps. Die Kom­munisten hatten allen Grund zu der Feststellung, daß die Ursache für das Scheitern des Streiks „der schändliche Verrat der S.P.D. und die Feigheit und Kompromißsucht der Führer der U.S.P.D.“ waren.(146)

Dennoch dauerten die den Arbeitern aufgezwungenen Kämpfe an. Sie verlagerten sich an den Stadtrand, wo sich die Arbeiter in aller Eile bewaffneten, Kampfgruppen bildeten, Barrikaden errichteten und versuchten, die aus dem Zentrum unter Einsatz von schweren Haubitzen, Granatwerfern, Tanks und Flugzeugen vordringenden weißgardistischen Söldnerbanden aufzuhalten.(147) Besonders standhaften Widerstand leisteten die Arbeiter der Span­dauer Waffenfabriken, der Fabrik Riebe in Weißensee, von AEG in Hennigsdorf und der Daimler-Werke in Marienfelde.(148) Um die „Moral“ der gegen die Arbeiter eingesetzten Soldaten zu he­ben, gab man ihnen pro Kampftag zusätzlich zwei Mark Sold und erhöhte die Rationen. Den Familien gefallener oder vermißter Soldaten zahlte die Garde-Kavallerie-Schützen-Division jeweils 1.000 Mark, den Schwerverwundeten jeweils 800 Mark.

Die bürgerliche und sozialdemokratische Presse verbreitete die wüstesten Erfindungen über die angeblich von Spartakusanhängern errichteten Stellungen und „Festungen“, vor allem aber über die „Bestialitäten der Spartakisten“. So meldete am 9. März die „Ber­liner Zeitung am Mittag“ unter Bezugnahme auf eine offizielle Mitteilung der Militärorgane den „bestialischen Mord“ an 67 Polizisten in Berlin-Lichtenberg durch „Spartakisten“; am nächsten Tag wurde unter Berufung auf „Augenzeugen“ schon über 150 „Opfer des Terrors“ berichtet. Einige Tage später mußten der „Vorwärts“ und andere Zeitungen gezwungenermaßen eingestehen, daß diese Meldung von Anfang bis Ende erfunden war. Da war das ihren Autoren gestellte Ziel aber schon erreicht: Gestützt auf diese Meldung, erließ Noske am Abend des 9. März den Befehl, jeden an Ort und Stelle zu erschießen, der „mit den Waffen in der Hand gegen Regierungstruppen kämpfend“ angetroffen wird. Als er ei­nige Tage darauf über diesen von ihm „schweren Herzens“ unter­zeichneten Befehl in der Nationalversammlung sprach, erscholl, wie das Protokoll vermerkt, „stürmischer Beifall bei den Mehr­heitsparteien und rechts“.(149)

In Ausführung dieses Befehls erließ der Kommandierende Ge­neral der Garde-Kavallerie-Schützen-Division von Hoffmann am 10. März seinerseits den Befehl Nr. 20950. Versehen mit der oben­genannten uneingeschränkten Weisung, wurde darin vorgeschrie­ben: Alle Bewohner der Häuser, aus denen auf die Truppen ge­schossen worden war, sollten auf die Straße gebracht werden, in ihrer Abwesenheit waren die Wohnungen zu durchsuchen und „verdächtige Personen“, bei denen tatsächlich Waffen gefunden wurden, zu erschießen.(150)

Die Umsetzung dieses Befehls in die Wirklichkeit ließ in den blutigen Abrechnungen mit den Arbeitern und Matrosen nicht lange auf sich warten. Am 11. März fanden sich etwa 300 Matro­sen der Volksmarinedivision in einem Haus in der Französischen Straße ein, um die ihnen zustehende Löhnung zu empfangen. Hier hatte man ihnen eine Falle gestellt: Die wehrlosen Matrosen wur­den von Soldaten gefangengenommen, und auf Befehl des Leut­nants Mario wurden 29 von ihnen auf dem Hof erschossen.(151) Die weißgardistischen Banditen ermordeten in diesen Tagen in Lich­tenberg 11, in Köpenick 37 Arbeiter und verübten darüber hinaus viele andere blutige Verbrechen.

Die KPD erlitt einen neuen schweren Verlust: Am 10. März erschoß im Moabiter Gefängnis der Kriminalkommissar Tamschick den am Vortage verhafteten Leo Jogiches, einen der Gründer und Führer der Partei, „beim Fluchtversuch“.

Am 12. März wurde auf der Vollversammlung der Berliner Räte über die Fortsetzung der Verhandlungen mit den Offizieren des Stabes von Noske diskutiert. In seinem Bericht über die Ge­spräche mit den Majoren von Hammerstein und von Gilsa teilte Malzahn (USPD) mit, diese hätten auf Beschwerden über die Aus­schreitungen der Regierungstruppen geantwortet: „Dieses Mal werden wir ganze Arbeit machen, wir werden sie alle niederschla­gen, und es soll uns ganz gleichgültig sein, wenn auch Unschuldige darunter leiden.“ Major Hammerstein hätte zu verstehen gegeben, daß er, „selbst wenn es ruhig wäre, weiter die revolutionären radikalen Elemente niederwerfen lassen wollte. Man gewann den Eindruck, als wenn man Pogrome veranstalten wollte.“ An dieser Stelle erscholl aus dem Saal der Zuruf „Tut man stündlich“. Die Offiziere wären daran interessiert, daß die Truppen noch länger in der Hauptstadt blieben, um damit die Notwendigkeit einer zahlenmäßig größeren Armee zu beweisen.(152)

Paul Wegmann (USPD) informierte darüber, daß die Kom­mission des Vollzugsrates die Verlogenheit der Nachrichten über die Erschießung von Polizisten in Lichtenberg habe feststellen können. Arbeiter – in der Mehrzahl Sozialdemokraten, nicht „Spartakisten“ – setzten hier den Widerstand fort und forderten den Abzug der Regierungstruppen, die in barbarischer Weise Wohnungen beschossen und Gewalttaten gegen die friedliche Be­völkerung verübten. Als sich Oberbürgermeister Ziethen mit der Bitte um Waffenstillstand an Noske gewandt und Ruhe und Ord­nung garantiert hatte, wenn die Beschießung aufhörte und die Truppen sich zurückzögen, erklärte dieser dem Überbringer: „Es gibt überhaupt keine Bedingungen, nur eine bedingungslose Über­gabe.“ Und im Stab Lüttwitz, im Hotel Eden, wurde zur Antwortgegeben: „Wir haben am 9. November beide Augen zugedrückt, jetzt gibt es kein Pardon mehr . . „(153)

Der Vorsitzende der kommunistischen Fraktion der Rätevoll­versammlung, Herfurth, unterstrich, daß Noske die Verantwor­tung für die Mordtaten trage und die Lügenmeldungen im „Hotel Eden“ fabriziert würden, um sowohl einen Vorwand für das zü­gellose Vorgehen der Soldateska zu schaffen als auch es abzu­schirmen. Die an den Kämpfen beteiligten revolutionären Arbei­ter gehörten verschiedenen Parteien an, in Lichtenberg wären mit ihnen auch „Bürgerliche und Demokraten“ solidarisch. Kaum hatte der Redner erwähnt, daß die Provokateure im Hotel Eden die Lage benutzen wollten, „um die Arbeiterschaft von Berlin derartig niederzuknüppeln, daß man sie für Monate hinaus unfä­hig macht“, drangen auch schon Noskegarden in den Saal ein und besetzten alle Ausgänge. Mehrere Stunden lang terrorisierten sie die Vollversammlung; erst als eine zu Noske entsandte Abord­nung das „Mißverständnis“ aufgeklärt hatte, verließen sie den Saal.(154)

Die konterrevolutionären Truppeneinheiten setzten in diesen Stunden den konzentrischen Angriff auf den Bezirk Lichtenberg fort. Von drei Seiten rückten die Freikorps Roeder, Hülsen, Erhardt und andere reaktionäre Einheiten heran. Die Brigade Rein­hard drang durch den Norden Berlins vor, um Lichtenberg vom Stadtzentrum abzuschneiden.(155) Der Widerstand der heroischen Verteidiger wurde schließlich gebrochen, und die blutige Abrech­nung mit den Arbeitern begann.

Ein englischer „Beobachter“, Major A. Bertie, schrieb in sei­nem Bericht über die Ereignisse, daß die Regierungstruppen 15’000 Bajonette in den Gardeeinheiten und 6’000 in der Brigade Reinhard zählten. Sie hätten die Taktik verfolgt, den Bezirk von drei Seiten anzugreifen, wobei sie Artillerie und Granatwerfer zur Beschießung der Gebäude, aber auch Tanks und Flugzeuge zur Aufklärung einsetzten, sowie zur Befestigung der eroberten Positionen Stacheldraht verwendeten. Der angegriffene Bezirk sei am nächsten Tag vom Gegner gesäubert gewesen. Wie diese „Säuberung“ aussah, läßt die Bemerkung des Majors erkennen, daß er gehört habe, die Verluste der Arbeiter betrügen etwa 1’000 Tote; diese seien in der Hauptsache deshalb erschossen worden, weil sie entgegen den Befehlen Waffen besaßen. Außerdem sei „der von der Artillerie und den Granatwerfern angerichtete Scha­den bedeutend“, aber, wie er meine, „durchaus nicht unbedingt notwendig“ gewesen.(156)

Das Auftreten der Regierungstruppen, das alle bisherigen Blut­taten der Konterrevolution an Grausamkeit übertraf, war augen­scheinlich von dem Wunsch diktiert, den revolutionären Arbeitern „eine Lektion zu erteilen“. Nach Noskes Worten, die von der of­fiziellen Militärgeschichtsschreibung bestätigt wurden, fielen in den Märzkämpfen nicht weniger als 1’200 „Aufrührer“. Die Ver­luste der Regierungstruppen beliefen sich auf 75 Tote (darunter 6 Offiziere), 38 Vermißte und 150 Verwundete.(157) Mehrere Tau­send Menschen wurden ins Gefängnis geworfen. Der vom Ber­liner Vollzugsrat zur Aufklärung des Schicksals der Verhafteten entsandte USPD-Vertreter Malzahn berichtete: „Die Zustände sind furchtbar. Es handelt sich um ca. 1’600 Gefangene.“ Von vielen sei über den ihnen vorgeworfenen Tatbestand kein Proto­koll aufgenommen worden, die Zellen wären überfüllt; das Es­sen schilderte er mit den Worten: „. . . wenn man das einem Schwein vorsetzt, schlackert es ein paarmal mit der Schnauze her­um und geht dann ab.“(158)

Oberst Reinhard erinnerte sich später daran, daß sich im Moa­biter Gefängnis eine unerhört große Zahl Gefangener befand – 4.500 Menschen; in manchen Einzelzellen hätten bis zu sieben Mann gesessen, die sich wegen der Enge kaum bewegen konnten. Erst als ihm auch das Gefängnis des Moabiter Kriminalgerichts und das von Plötzensee zur Verfügung standen, hätte er weitere Gefangene aufnehmen können. Nicht wenige Inhaftierte wurden von den Wachmannschaften erschossen.(159) Der am 14. März von der USPD-Fraktion in der Preußischen Landesversammlung ein­gebrachte Antrag auf Aufhebung des Belagerungszustandes in Berlin fand keine Mehrheit.(160)

Die Hauptursache für die schwere, sich auf das ganze Land auswirkende Niederlage der Berliner Arbeiter lag darin, daß die Einheit der Arbeiterklasse und eine zielstrebige revolutionäre Führung fehlten. Die SPD-Führer sabotierten den Streik von Anfang an, und ihre Mitgliedschaft in der zentralen Streikleitung half ihnen sogar noch, den Kampf zu desorganisieren. Durch die Schwankungen der USPD-Führer – wie ihr Widerstand gegen solidarische Aktionen von Arbeitern, der Republikanischen Sicherheitswehr und den Matrosen, der Verzicht auf die Formie­rung einer Roten Garde, die Beteiligung an den Verhandlungen mit den Vertretern der Regierung, darunter Noske – war ihre Ka­pitulation vor der rohen Gewalt vorausbestimmt.

Die Kommunistische Partei Deutschlands ist zu Beginn des Generalstreiks erstmals selbständig als echter Repräsentant der revolutionären Forderungen der Arbeitermassen aufgetreten. Aber um Führer und Organisator des Kampfes zu sein, reichten weder ihre Kräfte noch ihre Erfahrungen aus. Die Losung „Nieder mit der Regierung Ebert-Scheidemann-Noske!“ vertrug sich schlecht mit der Erklärung, das Ziel des Streiks sei nicht der Sturz der Regierung und die Eroberung der politischen Macht. Der Aus­tritt der Kommunisten aus dem Streikkomitee erschwerte es, die in ihrer politischen Haltung heterogenen Teilnehmer des Kampfes zusammenzuschließen, und störte mehr die einheitliche Aktion, als daß er half, den zersetzenden Einfluß der opportunistischen Füh­rer zu überwinden.

Anmerkungen

101) ML, ZPA, Vollzugsrat, Nr. 11/7, Bl. 31, 34, 40.

102) Paris Peace Conference, Bd. 12, S. 45 f.

103) Siehe Darstellungen, Bd. 6, S. 81 f.; A. Fischer, Die Revolutionskommandantur Berlin, Berlin 1922, S. 78, 81.

104 Siehe die in der Roten Fahne v. 13. April 1919 veröffentlichten Doku­mente sowie ebenfalls K. Fischer, Die Berliner Abwehrkämpfe 1918/ 1919, Berlin 1956, S. 39 f.

105) Der Attache der französischen Militärmission in Berlin, Ambrois Got, berichtete, ein französischer General habe angeordnet, daß seine Offi­ziere sich an diesem Tage nicht in Uniform auf den Straßen zeigen soll­ten, um nicht chauvinistische Stimmungen unter den Deutschen zu wecken. Die Amerikaner hingegen hätten sich entschlossen, vom Balkon des Hotels Adlon aus den deutschen Kolonialtruppen, die den Engländern so viel Mühe bereitet hatten, Achtung zu erweisen. „Als das Ehrengeleit vorüberzog, habe das Pfeifen alle bewogen, die Köpfe zu heben – es waren die Amerikaner in Uniform, die auf diese Weise ihr unpassendes Entzücken zum Ausdruck gebracht hätten“ (A. Got, L’Allemagne apres la débacle, Strasbourg 1920, S. 199).

106) Siehe A. Fischer, S. 81 f.

107) Die Freiheit v. 3. März 1919 (Abendausgabe).

108) Die Rote Fahne v. 3. März 1919; Dokumente und Materialien, R. II, Bd. 3, S. 282 ff.

109) Vorwärts v. 3. März 1919 (Morgenausgabe).

110) Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Protokoll über die Verhandlungen des außerordentlichen Parteitages vom 2. bis 6. März 1919 in Berlin (im Folgenden zitiert: USPD-Parteitag), Berlin (1919), S. 33, 269.

111) ML, ZPA, Protokolle der Vollversammlungen der Arbeiter- und Soldatenräte, Nr. 11/13, Bl. 26 ff., 61 f.

112) Ebenda, Bl. 42.

113) Ebenda, Bl. 45 f.

114) Ebenda, Bl. 47 ff.; siehe ebenfalls ebenda, Vollzugsrat, Nr. 11/7, Bl.

50 f.; Dokumente und Materialien, R. II, Bd. 3, S. 289 f.

115) IML, ZPA, Protokolle der Vollversammlungen der Arbeiter- und Soldatenräte, Nr. 11/13, Bl. 51 ff.

116) Ebenda, Bl. 67 (Sitzung vom 4. März 1919).

117) Ebenda, Bl. 86.

118) Ebenda, Bl. 63 f., 67 ff., 70 f., 77.

119) Darstellungen, Bd. 6, S. 83.

120) Davon sprach in einer Sitzung des Preußischen Landtags der USPD-Führer Adolph Hoffmann (siehe Verfassunggebende Preußische Landesversammlung. Die Berliner Putsche. Standrecht und Belagerungszustand. Stenographische Berichte, 14., 15., 17. und 19. März [im Folgenden zi­tiert: Berliner Putsche], Berlin 1919, S. 37 f.).

121) 1ML, ZPA, Reichsamt des Innern, Nr. 9/16, Bl. 154.

122) Ebenda, Bl. 517.

123) Die Rote Fahne v. 4. März 1919; Dokumente und Materialien, R. II, Bd. 3, S. 289, 292.

124) 1ML, ZPA, Vollzugsrat, Nr. 11/7, Bl. 66 ff.

125) Ebenda, Protokolle der Vollversammlungen der Arbeiter- und Soldatenräte, Nr. 11/13, Bl. 83.

126) Darstellungen, Bd. 6, S. 80 f.

127) Ebenda, S. 83; 1ML, ZPA, Reichsamt des Innern, Nr. 9/16, Bl. 531.

128) IML, ZPA, Protokolle der Vollversammlungen der Arbeiter- und Soldatenräte, Nr. 11/13, Bl. 103 ff., 110.

129) Ebenda, Bl. 94 f., 99, 106.

130) Ebenda, Bl. 89 ff., 106 f., 111; ebenda, Vollzugsrat, Nr. 11/7, Bl. 99, 102.

131) Ebenda, Reichsamt des Innern, Nr. 9/16, Bl. 517.

132) Siehe dazu: …. Moskau 1960; ….Frunse 1957; …. der kyrillische Text konnte nicht OCR konvertiert werden

133) IML, ZPA, Reichsamt des Innern, Nr. 9/16, Bl. 517, 523 f., 525, 533 f.

134) Ebenda, Protokolle der Vollversammlungen der Arbeiter- und Soldatenräte, Nr. 11/13, Bl. 123.

135) R. Müller, S. 173 f.; A. Fischer, S. 85; Darstellungen, Bd. 6, S. 83 ff.; R. Lindau, Revolutionäre Kämpfe 1918-1919. Aufsätze und Chronik, Berlin 1960, S. 136.

136) Vgl. dazu T. M. Johnson, Dunkle Wege Amerikas im Weltkrieg. Enthüllungen. Spionagegeschichten aus dem amerikanischen Geheimkrieg, Stuttgart 1930.

137) IML, ZPA, Protokolle der Vollversammlungen der Arbeiter- und Soldatenräte, Nr. 11/13, Bl. 121.

138) Ebenda, Bl. 123.

139) Ebenda, Bl. 124 f., 135 f.

140) Ebenda, Bl. 129.

141) Ebenda, Bl. 142 ff.

142) Ebenda, Vollzugsrat, Nr. 11/7, Bl. 127 ff.

143) Vorwärts v. 5. März 1919 (Abendausgabe).

144) IML, ZPA, Protokolle der Vollversammlungen der Arbeiter- und Soldatenräte, Nr. 11/13, Bl. 151, 186; Dokumente und Materialien, R. II, Bd. 3, S. 302 f.

145) IML, ZPA, Vollzugsrat, Nr. 11/7, Bl. 121.

146) Ebenda, Protokolle der Vollversammlungen der Arbeiter- und Soldatenrate, Nr. 11/13, Bl. 193 f., 210 f.

147) Darstellungen, Bd. 6, S. 83. – Bei gutem Wetter operierten täglich im Durchschnitt 12-15 Flugzeuge {Könnemann, S. 114).

148) Darstellungen, Bd. 6, S. 83. – Hier ist die Rede von 15 000 Arbeitern, Matrosen und Soldaten mehrerer Abteilungen der Republikanischen Sicherheitswehr, aber die Zahl ist stark übertrieben,

149) Stenographische Berichte, Bd. 327, S. 742 (Sitzung v. 13. März 1919).

150) Siehe Der Syndikalist v. 22. März 1919; Stenographische Berichte, Bd. 327, S. 844 (Sitzung vom 27. März 1919, Rede Haases).

151) Über die Umstände dieses Verbrechens und die Rechtfertigung der Morde durch die Gerichte der Weimarer Republik siehe E. J. Gumbel, Vier Jahre politischer Mord, Berlin 1922, S. 17 ff.; F. K. Kaul, Der Pitaval der Weimarer Republik, Bd. 1: Justiz wird zum Verbrechen, 3. Aufl., Berlin 1962, S. 31 ff.

152) IML, ZPA, Protokolle der Vollversammlungen der Arbeiter- und Solda­tenräte, Nr. 11/13, Bl. 217 ff.

153) Ebenda, Bl. 221 ff.

154) Ebenda, Bl. 234 ff., 256.

155) W. Reinhard, 1918-19. Die Wehen der Republik, Berlin 1933, S. 103 ff.; Darstellungen, Bd. 6, S. 97 f.

156) Army. Reports by British Officers on the Economic Conditions Prevailing in Germany (Presented to Both Houses of Parliament of His Majesty) (im Folgenden zitiert: Reports) (Cmd 52, 54), London, Dz. 1918 – April 1919, S. 13 f. (Bericht von Major A. Bertie).

157) Darstellungen, Bd. 6, S. 102 f.

158) IML, ZPA, Vollzugsrat, Nr. 11/7, BL 189 f. (Sitzung v. 14. März 1919).

159) Reinhard, S. 94.

160) Berliner Putsche, S. 182 f.

Quelle: J.S. Drabkin, Die Entstehung der Weimarer Republik, Köln 1983, S.158-168

Quelle: trend.net… vom 20. März 2019

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