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Masseneinwanderungsinitiative – einfach nur Rassismus ?

Eingereicht on 2. März 2014 – 19:32

Eine falsche Politik ihrer Führung rächt sich früher oder später an der Arbeiterklasse. So wird vor allem die Bevölkerung mit einer Zunahme des Tempos der Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen und einer weiteren Stärkung der fremdenfeindlichen und unternehmerfreundlichen  politischen Kräfte die Kosten der  Abstimmung vom 9. Februar 2014 zur sogenannten Masseneinwanderungsinitiative der SVP zu tragen haben. Dies ist nichts weiter als die konkrete Bestätigung der marxistischen These vom Klassenkonflikt und der dringenden Aufgabe des Aufbaus der politischen Unabhängigkeit der Arbeiterbewegung.

Die Gewerkschaften und die SPS tragen eine grosse Schuld an diesem Debakel; sie hatten sich bedingungslos hinter die NEIN-Kampagne der Exportindustrie (economiesuisse) gestellt: «Wirtschaftswachstum dank Personenfreizügigkeit» war die von den grossen Unternehmern und dem um sie gescharten Politestablishment, darunter der SPS und der Gewerkschaften benutzte «Kampflosung», um die Standortvorteile der Schweizer Kapitalisten im internationalen Konkurrenzkampf zu stärken. Diese Unterordnung unter die Interessen des helvetischen Kapitalismus spielte seit den 1930er Jahren gerade in der Ausgestaltung der Einwanderungspolitik eine zentrale Rolle. Verhängnisvollerweise insbesondere auch im Vorfeld der Inkraftsetzung des Freizügigkeitsabkommens vom Juni 2002,  wo von den Gewerkschaften den Unternehmern nahezu zum Nulltarif die Öffnung des europäischen Arbeitsmarktes mit über 250 Millionen Lohnabhängigen, die zum grössten Teil unter schweren Angriffen ihrer Unternehmer und Regierungen leben und arbeiten, zugestanden wurde. Und nun dampft die Scheisse nur umso stärker. Sie heisst Fremdenfeindlichkeit und Rassismus.

Diese Einhelligkeit geht weiter nach der Annahme der SVP-Initiative. So wollen die SPS und die Gewerkschaften – mit einem Teil der Unternehmer – die Abstimmung wiederholen und suchen die Schuldigen für dieses Desasters bei den Fremdenfeinden, allen voran der SVP, die angeblich eine immer vorhandene rassistische Grundstimmung ausgebeutet habe (Unia Co-Präsidentin Vania Alleva in work 20.2.2014). Ja sie gehen gelegentlich bis zu einer offenen Infragestellung der direkten Demokratie. Sie starten nun eine abstrakte Kampagne gegen Rassismus, anstatt nach einer politischen Antwort für das wachsende Unbehagen bei breiten Bevölkerungsschichten zu suchen; einer Antwort, die sich deutlich unterscheidet von einem nationalistischen Bündnis mit der Exportwirtschaft und den Banken. Einer Antwort die beginnt, die politischen Realitäten zu verändern, so dass die Bevölkerung ihre Alltagsprobleme anders wahrnehmen kann als über nationalistische und fremdenfeindliche Reflexe. So dass sich allmählich ein Bewusstsein herausbildet darüber, wer und was ihr Unbehagen verursacht. Eine solche Antwort ist jedoch nur mittels  der Entwicklung von Kämpfen und einer Abwendung von der Sozialpartnerschaft und der Konkordanz Demokratie möglich.

Die SVP hatte auch diesmal leichtes Spiel, wie immer bei fremdenfeindlichen Abstimmungen der vergangenen Jahre: die offensichtlichen Probleme der seit über zwanzig Jahren andauernden Stagnation der real verfügbaren Einkommen, des um sich greifenden Lohndumpings gerade in den Randregionen, der wachsenden Fragilität der Arbeitsbedingungen und der sozialen Situation wurde von den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie politisch-praktisch nicht angesprochen. Dabei haben sie im Vorfeld der Abstimmungskampagne  im vergangenen Herbst angedroht, die NEIN-Kampagne nur unter der Bedingung «von  massiven Zugeständnissen bei den flankierenden Massnahmen» (NZZ 28. Oktober 2013) zu unterstützen. Nichts dergleichen geschah. Und die Gewerkschaften und die SP waren trotzdem nicht einmal imstande, eine eigene Kampagne zu führen. Der folgende Beitrag geht den Wurzeln des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit in der Schweiz nach (Redaktion Maulwuerfe)

Paolo Gilardi

Viele haben das Abstimmungsresultat einer rassistischen und fremdenfeindlichen Stimmung zugeschrieben. Sie ziehen daraus denn auch die politischen Schlussfolgerungen. Der Rassismus soll fortan der politische Gegner sein, der Antirassismus die Leitlinie. Nach meiner Einschätzung ist nichts verfehlter und vor allem unwirksamer angesichts der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Dringlichkeiten in dem Land mit der tiefsten Arbeitslosenrate in Europa.

Die Kampagne um die SVP-Initiative kam geschickt in einen pseudo-sozialen und ökologischen Diskurs gekleidet daher: das sich verallgemeinernde Lohndumping, die in den Himmel schiessenden Wohnungsmieten, die Überlastung der Züge und der Autobahnen. Sie konnte sich so in einer «Ideologie eines Kampfes gegen die Überfremdung» verankern, wie sie von den Schweizer Regierungen seit dem Ende des Ersten Weltkrieges in die Wege geleitet wurde.

Eine fremdenfeindliche Politik mit alten Wurzeln

Dieselbe Ideologie bewirkte den Anstieg der Fremdenfeindlichkeit in den 1970er Jahren. Damals wurde über vier Volksinitiativen abgestimmt, mit denen die ausländischen Arbeitskräfte wieder hätten nachhause geschickt werden können [Was dann auch in der Krise Mitte der 1970er Jahre mit über 270‘000 von ihnen geschah, im Einvernehmen mit den Gewerkschaften. Anm. Maulwuerfe]. Die Wurzeln sind übrigens nicht lediglich ideologisch, da es eine direkte Verbindung zwischen den Initianten von damals und jenen von heute gibt. Man darf also keine Zweifel hegen über die nationalistische und fremdenfeindliche Natur der Masseneinwanderungsinitiative.

Ihr Inhalt traf in der ländlichen Schweiz auf ein angestammtes Publikum, in Gegenden über 700 m über Meer, wie einige Analysten anmerkten, während sie in den Städten eher abgelehnt wurde. Wie anderswo in Europa sind es die Gegenden mit relativ wenigen Ausländern – oder denn nur reichen Ausländern, als Kunden von schicken Destinationen – , die sich am stärksten gegen die «Überfremdung» ausgesprochen haben.

Diese Schichten bilden den harten Kern des 9. Februar, wie bereits in den vergangenen 40 Jahren in Volksentscheiden zu Ausländer- und Asylrecht. Aber sie alleine bilden noch keine Mehrheit, und wäre dies auch nur eine von 20‘000 Stimmen.

Die abwesende Jugend

Zu diesem harten Kern kommen noch mindestens zwei weitere Phänomene hinzu. Erstens kann in einigen Segmenten der Jugend ein neues Aufleben nationalistischer Diskurse festgestellt werden, einer Identifikation mit «nationalen» Werten; andere Formen der Identifikation wie Klasse oder soziale Stellung, die seit jeher schwach bei der Jugend in diesem Land verankert sind, haben kaum mehr Bedeutung.

Dies ist das Ergebnis eines langen Prozesses der politischen und strukturellen Integration der Arbeiterbewegung, ihrer gewerkschaftlichen und politischen Organe, in den bürgerlichen Staatsapparat und deren Unterordnung unter die Interessen des helvetischen Kapitalismus, wie er durch die während acht Jahrzehnten geübte Praxis des «Arbeitsfriedens»[1] symbolisiert wird.

Obwohl dieses Aufleben des Nationalismus in der Jugend noch relativ minoritär ist, so äussert er sich insbesondere durch den Aufstieg von jungen rechten Politkadern, sei dies in der Jugendorganisation der Schweizerischen Volkspartei (SVP) – die unternehmerfreundlichste und arbeiterfeindlichste  der bürgerlichen Parteien -, oder in der Freisinnig-demokratischen Partei (FdP).

Obwohl diese Kräfte in der Schuljugend noch eher am Rande, aber doch sichtbar sind, üben sie einen bestimmenden Einfluss aus auf die Rechts-Verschiebung des Epizentrums der politischen Debatten. So hat sich im Gegensatz zu der Entwicklung von spontanen Demos an den Schulen gegen die nationale Abschottung in den 1990er Jahren – und selbst nachher noch -, nichts Derartiges ereignet. Dies war sicher nicht der entscheidende Faktor bei dieser Abstimmung, aber die sich verbreitende Ratlosigkeit in der Jugend hat wahrscheinlich eine Rolle gespielt.

Diese Ratlosigkeit war umso grösser, als – von einigen sehr seltenen, unabhängig geführten  linken Kampagnen gegen die fremdenfeindliche Initiative abgesehen -, von der Linken keinerlei Inhalt gekommen ist.

Die einzige linke Kampagne war die der Rechten

Und gerade auf dieser Ebene hat sich dann, dies der zweite Faktor, ein anderes Segment, das man vorschnell als «Arbeiter-Stimme» bezeichnet, dem traditionellen nationalistischen Kern angeschlossen. Ich gehe weiter unten auf die notwendige Vorsicht hinsichtlich des Konzepts der «Arbeiter-Stimmen» ein, aber man muss notwendigerweise anerkennen, dass der protektionistische Diskurs die breiten Volksschichten mittlerweile weitgehend beherrscht.

Im Bodensatz dieses Abstimmungsresultates findet man, darüber besteht kein Zweifel, die Verallgemeinerung der Politik des Lohndumpings. Diese kann durch eine Unternehmerschaft ungehindert praktiziert werden, die sich angesichts einer unbeschränkten Verfügbarkeit von Lohnarbeit – der industriellen Reservearmee, um einen passenden Begriff aufzunehmen – und einer vorauseilenden Kapitulation der Gewerkschaften alles erlauben kann.

Zum Beispiel übt im Tessin, einem Grenz- Kanton, der unter einer deutlichen regionalen Unterentwicklung leidet, die Ausbeutung der Grenzgänger, die nur notdürftig bezahlt werden, einen permanenten und kaum erträglichen Druck auf die breite Bevölkerung aus. Es ist gerade in diesem Kanton, wo die Figur des einstigen «polnischen Klempners» nun als «Elektriker aus der Reggio Emilia» auftritt, mit einem Lohn wie in der …… Reggio d’Emilia.

Angesichts dieser Entwicklung war die institutionelle Linke, Gewerkschaften wie Parteien, absolut unfähig, auch nur Ansätze für eine Antwort zu entwickeln. Sie hat sich in der Tat darauf beschränkt, ganz in der Tradition der Unterordnung unter die Interessen der Exportindustrie, den Diskurs der Unternehmer aufzunehmen und ihren Hundertausenden um ihre Löhne und Arbeitsplätze bangenden Lohnabhängigen die «Wichtigkeit der Immigration für unseren Wohlstand» erklärt und dass «die Öffnung gegenüber Europa das Pfand unseres Wohlstandes » sei.

In der Tat war dieser letzte Aspekt entscheidend für den helvetischen Kapitalismus; die Gefährdung der Verträge mit der EU könnte grössere Einschränkungen für seinen Marktzutritt in Europa nach sich ziehen. Abgesehen davon, dass man von den Lohnabhängigen solange Opfer eher verlangen kann, als der helvetische Kapitalismus bereit ist, ihnen einige Brosamen abzugeben, wird dies schwieriger, sobald die Konzerne Milliarden-Gewinne machen und gleichzeitig Leute entlassen und die Löhne senken.

Angesichts dieser Situation war das Schweigen der parlamentarischen und institutionellen Linken in dem Masse mehr als sträflich, als dass sie zu keinem Zeitpunkt die Tatsache verurteilt hat, dass es die Unternehmer sind, die die Leute entlassen und die Löhne senken und nicht die ausländischen Arbeitskräfte, das die Immobilienbesitzer die Mietzinse erhöhen und nicht deren ausländischen Bewohner und Bewohnerinnen. Aber solche Äusserungen hätten offensichtlich einen Einsatz für soziale Kämpfe und den Klassenkampf zur Folge, vor dem diese Linke flieht wie vor der Pest.

Schuldig in der Glückseligkeit

Derart hat die durch die sogenannte «Linke» hinterlassene  absolute Leere den Platz geschaffen für den beruhigenden Diskurs der SVP, das heisst für das Versprechen, dass mit der Wiedereinführung von Kontingenten der Migrationsfluss kontrolliert werden könnte. Es ist diese Leere, die diesem Versprechen erlaubte, in der breiten Bevölkerung Fuss zu fassen.

Dazu gehört auch, dass die schöngeistige Glückseligkeit einer «Linken», die unter dem Vorwand des «zivilisatorischen Fortschritts» 2005 bei der Abstimmung über die bilateralen Verträge mit der EU nicht für wirksame Rahmenbedingungen zu der Personenfreizügigkeit – obligatorische Ausweitung der Gesamtarbeitsverträge, einzuhaltende Minimallöhne, Einstellung von Arbeitsinspektoren – kämpfen wollte,  für die Misere mitschuldig ist. Während sie sich an diese «Werte der Öffnung» hält, ohne ihnen einen sozialen Gehalt zu verschaffen, wird ein Teil der durch die marktliberale Globalisierung gefährdetsten Sektoren sich bei den Fremdenfeinden nach einer Antwort umschauen.

Ansätze für Gegengifte

Im Gegensatz zu dem was in den vergangenen Monaten ablief, wurden in den 1970er Jahren die fremdenfeindlichen Initiativen in allen drei Landesteilen auch durch Einheitskomitees aus schweizerischen und ausländischen Arbeitern und Arbeiterinnen bekämpft. Sie führten ihre Kampagne auf einer Achse der gemeinsamen Klasseninteressen der Lohnabhängigen, welches auch immer die Farbe ihres Passes sei. Es war übrigens in den Kämpfen, wo sich diese Interessengemeinschaft ausdrücken konnte und Spuren hinterlassen hat, vor allem in der Form der Einheitsstrukturen von ausländischen und schweizerischen Lohnabhängigen.

Und dort wo diese Kampferfahrungen am weitesten gediehen waren und durch eine anhaltende politische antikapitalistische Propaganda und Agitation abgestützt wurde, erzielte die fremdenfeindliche Initiative am 9. Februar die schlechtesten Resultate; die sogenannten «Arbeiter-Stimmen» zu ihren Gunsten hatten nicht dasselbe Gewicht wie dort, wo die institutionelle Linke aus dem Alltag der Leute verschwunden ist.

Kämpfen statt stigmatisieren

Vor allem dies ist der Grund, dass nur mit dem Aufbau einer sozialen, klassenbasierten, internationalistischen Opposition die Herausbildung eines nationalistischen und fremdenfeindlichen Diskurses bekämpft werden kann. Denn die abstrakte Verurteilung des «Rassismus» führt unweigerlich zur Stigmatisierung derjenigen, die aus Verzweiflung und dem Mangel einer Alternative dem Diskurs der Fremdenfeinde Glauben schenken konnten.

Dies ist eine Aufgabe, die einen langen Atem benötigt und die wir notwendigerweise anpacken müssen.

Erschienen unter  www.gauche-anticapitaliste.ch ; Übersetzung Redaktion Maulwuerfe.

 



[1] Im Juli 1937 haben die grösste Gewerkschaft (SMUV) und der Arbeitgeberverband der Metall- und Maschinenindustrie ein Abkommen unterzeichnet, das sogenannte «Friedensabkommen». In diesem wurde der absolute Verzicht auf Streik vereinbart, um die Konkurrenzfähigkeit der schweizerischen Exportindustrie zu garantieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Politik überall verankert. Gleichzeitig beteiligte sich die sozialdemokratische Partei – ausser einer Periode in den fünfziger Jahren – konstant in einer Minderheitsposition an der Koalitionsregierung. [Die Regierungsbeteiligung auf kantonaler und lokaler Ebene datierte teilweise bereits zurück auf die Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Anm. Maulwuerfe]. Vor allem in einigen grossen Städten, wo mittlerweile auch die Grünen und die sogenannte «Linke der Linken » an Koalitionsregierungen beteiligt ist.