Die Rückkehr der Klassengesellschaft im Osten und die AfD
Janis Ehling. „Der Ossi“ ist wieder von Interesse seit er AfD wählt – anders lässt die vermehrte Berichterstattung nicht erklären. In vielen Reportagen scheint der Osten statt Angela Merkel lieber Männer des Schlages Viktor Orban zu mögen.
Und tatsächlich politisch scheint Ostdeutschland eher zu Polen und Ungarn als zu Restdeutschland zu gehören.
Statt nur die Eigenheiten des Ostens zu ergründen, ist es spannender die politisch östliche Seite der Neuen Bundesländer mit Osteuropa zu vergleichen. Was dabei nirgends auftaucht, ist die Entstehung neuer Klassengesellschaften aus dem real existierenden Sozialismus.
Geteilte Stadt – München, oder?
Vor 1990 waren die Menschen in Ostdeutschland ziemlich ähnlich. Wer besonders angeben wollte, hatte richtige Jeans aus dem Westen. Selbst wer etwas mehr Geld hatte, konnte sich davon auch nicht viel mehr kaufen – die Auswahl war beschränkt. Von der relativen Gleichheit ist wenig geblieben. Heute liegen 9 der 10 sozial ungleichsten Städte in Ostdeutschland.[1] Nirgendwo sonst in Deutschland konzentrieren sich Einkommensschwache so stark in abgehängten Stadtteilen. Und nirgendwo sonst schicken die Besserverdienenden ihre Kinder so viel auf Privatschulen wie im Osten.[2] Wer an ungleiche Städte denkt, denkt an München, aber nicht Erfurt, Halle oder Potsdam.
Ausländer? Gibt’s nicht!
Gerade in Ostdeutschland leben einkommensschwache MigrantInnen besonders stark abgeschottet in abgehängten Stadtteilen. Gerade nach 2015 kommt der wichtige Kontakt zwischen Einheimischen und Zugezogen nicht zustande.[3] Vor allem die neuen Bundesländer knüpfen damit an eine unrühmliche Tradition der DDR an. Der schmähliche Umgang mit GastarbeiterInnen war gesamtdeutsch, aber vor allem DDR wurden GastarbeiterInnen möglichst getrennt von der einheimischen Bevölkerung untergebracht. In Thüringen war das wahlentscheidende Thema für die AfD-Wähler die Zuwanderung. Am stärksten wurde die AfD aber in Landkreisen mit der höchsten Abwanderung gewählt. Das mutet absurd an (und ist es auch), aber wer MigrantInnen persönlich kennt, wählt eben weniger rechts. Statt diese Fakten zur Kenntnis zu nehmen, wird medial lieber versucht die ostdeutsche Seele zu erkunden.
Der Wessi war’s – Klassenhass ohne Klassenfeind?
Vor ein paar Jahren war das mediale Feindbild im Osten noch nicht die AfD, sondern DIE LINKE. Zu jeder Wahl wurden teils alte Stasigeschichten von LINKEN-Mitgliedern aus der Mottenkiste geholt. Die Wut der Ostdeutschen richtete sich gegen „die Wessis“. Die Stimmen der Wut gingen zuverlässig an die LINKE. Es mag einige überraschen, aber auch das war eine Klassenwahl. In allen osteuropäischen Ländern wurde die Industrie mit der Marktöffnung 1990 fast komplett zerstört. Fast alle großen Unternehmen in Osteuropa wurden aufgekauft, übernommen oder zerschlagen um die Konkurrenz auszuschalten. Fast alle ostdeutschen Betriebe wurden von Westdeutschen übernommen.[4] In Osteuropa brauchten die westeuropäischen Eliten abhängige und willfährige Politiker, die ihre Politik umsetzten und wenn sie dafür eine antiwestliche Rhetorik nutzen. In Ostdeutschland war das nicht nötig. So gut wie alle Unternehmen bekamen Chefs aus dem Westen. Selbst im Öffentlichen Dienst sind die leitenden Funktionen nach 2000 bis heute mit über 80% von Westdeutschen besetzt. Anfangs bekamen die Westbeamten dafür noch eine Buschzulage, ein Extragehalt für den „ostdeutschen Busch“ (wenig zufällig ein Begriff aus der Kolonialzeit).[5]
Der „typische Wessi“ war für die meisten der Chef und nicht selten waren das windige Abenteurer oder Leute, die im Westen keine Chance gehabt hätten. Ausnahmslos jede Ostfamilie kennt eine Geschichte über so einen „Westchef.“ Die ostdeutsche Klassengesellschaft kannte als Feindbild nur den Westchef – der meist auch nur von Dienstag bis Donnerstag da war. Wer seine Wut darüber ausdrücken wollte, wählte PDS oder später LINKE. Heute ärgert man „die da oben“ gerne mit der AfD. Aber das ist nicht alles.
Ellenbogen statt Demokratie
Parteien, Gewerkschaften und die Zivilgesellschaft sind eher schwach in Ostdeutschland wie in Osteuropa. Es gab große Kämpfe gegen die tausenden Betriebsschließungen und Entlassungen Anfang der 90er. Doch fast alle Kämpfe gingen verloren. Auch zusammen kämpfen bringt nichts, war die verbreitete Erfahrung. Jeder war in der neuen Gesellschaft auf sich alleine gestellt. Da Solidarität vermeintlich in die Sackgasse führt, wird jeder – der etwas einfach so bekommt – ob HartzIVler oder Asylbewerberin herabgesetzt. Die Ellenbogen regieren. Jeder muss für sich sehen wie er weiter kommt. Für Schwäche oder Neuankömmlinge ist kein Platz.
Und politisch? Die wirtschaftliche Situation ist schlecht und damit haben die Neuen Bundesländer kaum Steuereinnahmen. Fast ein Viertel der Bevölkerung ist abgewandert. Von der Kommune bis zur Länderebene konnten die gewählten Parteien häufig nur bestimmen, wo noch gespart werden darf. Demokratie war kein Ort der Gestaltung oder des Fortschritts, sondern meist nur die demokratische Legitimation für den weiteren Abriss. Politik und besonders Parteipolitik gilt als verpönt. Vor 1990 durfte man nicht über Politik reden, nach 1990 wollten es die meisten nicht. Stattdessen hört man oft Klagen über mangelnde Anerkennung und den Verfall, obwohl es für viele auch materiell bergauf ging.
Die AfD ist der Ausdruck dieser neuen Ellenbogenmentalität nach 1990. Wenig überraschend waren fast alle Abgeordneten der AfD im Osten Selbstständige oder Kleinunternehmer und kennen diese (sehr männliche) Mentalität sehr gut. Die versagte Anerkennung als Ostdeutsche sucht die AfD allerdings im Deutschsein. Die Revolte der AfDler ist konformistisch – mit der nationalen Ellenbogengesellschaft des Marktes. Wer über den Aufstieg des Rechtspopulismus sprechen will, darf über die Entstehung der Klassengesellschaften im Osten nicht schweigen!
Quelle: diefreiheitsliebe.de… vom 12. November 2019
[1] Das zeigte kürzlich eine Studie des WZB: https://www.wzb.eu/de/pressemitteilung/zuwanderung-vor-allem-in-arme-stadtviertel
[2] Darüber berichtete u.a. der MDR: https://www.mdr.de/nachrichten/vermischtes/privatschulen-in-ostdeutschland-102.html
[3] https://www.wzb.eu/de/pressemitteilung/zuwanderung-vor-allem-in-arme-stadtviertel
[4] Das kann man beim Katapult Magazin in tollen Schaubildern nachschauen: https://mobile.katapult-magazin.de/index.php?mpage=a&l=0&artID=976
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Buschzulage
Tags: Arbeitswelt, Deutschland, Neoliberalismus, Neue Rechte, Stalinismus
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