Finanzmarktkrise – Mythos und Wirklichkeit
Guenther Sandleben. Der Umgang mit der Krise ist schon eigenartig. Obwohl Krisen bereits in der Vergangenheit die Wirtschaft regelmäßig, in Zeitabständen von sieben bis elf Jahren mal mehr, mal weniger stark durchrüttelten und den Menschen regelmäßig die Botschaft brachten, dass da irgendetwas mit ihrem Wirtschaftssystem nicht stimmen kann, vergaß man sie auch diesmal wieder. Als die Krise 2006 nahte, verdrängte man sie. Ihre ersten Erscheinungsformen wurden als äußere, zufällige, rasch vorbeigehende Fehlentwicklungen verharmlost. Als sie schließlich die Ökonomie im Herbst 2008 beben ließ, brach Panik aus.
Politiker sahen das Finanzsystem nur Millimeter vor dem Abgrund. „Es gab Stimmen“, schrieb der damalige Finanzminister Peer Steinbrück, „die vom Ende des Kapitalismus sprachen.“ Endzeitstimmung lag in der Luft. Produktion und Handel brachen ein, Reichtum wurde vernichtet, Kapazitäten stillgelegt, Arbeiter entlassen oder in Kurzarbeit gezwungen, Unternehmen standen am Rand der Zahlungsunfähigkeit, Kredite platzten, renommierte Bankhäuser meldeten Konkurs an, Verunsicherung breitete sich aus, vermögende Privatleute horteten Geld oder suchten Sicherheit im Kauf von Gold. Selbst Staaten gerieten an den Rand des Bankrotts. Neoliberale und geldpolitische Grundsätze lösten sich unter dem Druck der Ereignisse in Schall und Rauch auf.
Nach gigantischen geld-, kredit-, zins- und konjunkturpolitischen Interventionen ist die Staatsverschuldung sprunghaft gewachsen, wie es in der Vergangenheit nur in Kriegszeiten der Fall war. Das Gespenst der Zahlungsunfähigkeit geht um. Es klopft bereits an den Pforten einiger Staaten. Zudem drohen Währungsverwerfungen und galoppierende Inflation. Die Krise ist längst nicht ausgestanden, auch wenn sich in einigen Ländern die Wirtschaft erholt hat.
Im ersten Kapitel zeichnen wir den Verlauf der bisherigen Wirtschaftskrise nach und untersuchen den inneren Zusammenhang von Überproduktions-, Kredit- und Bankenkrisen. Je nachdem, welche Krisenart in den Vordergrund trat und welche Kombination sie einging, lassen sich sechs Phasen unterscheiden, die wir nacheinander untersuchen werden.
Viele Beobachter – auch aus dem linken politischen Spektrum – halten die Wirtschaftskrise für eine vermeidbare Tragödie, die durch politische Eingriffe verhindert werden könnte. Wenn nur die Finanzmärkte besser reguliert worden wären, wenn die Finanzaufsicht besser funktioniert hätte, wenn die Investmentbanker weniger gierig gewesen wären, wenn der frühere US-Notenbankchef Alan Greenspan die Zinsen weniger stark gesenkt und die neoliberale Umverteilungspolitik die Kaufkraft nicht so stark reduziert hätten, wenn all das und noch anderes geschehen wäre, dann hätte die große Krise nicht stattgefunden und solche Konsequenzen zeitigen können. Und wenn endlich Politiker, Finanzaufsicht und Manager ihre Lektion gelernt haben, wird sich die Krise niemals wiederholen. Ist eine solche Zuversicht wirklich gerechtfertigt?
Die folgenden Kapitel geben darauf aus unterschiedlicher Perspektive eine Antwort. Anknüpfend an unsere empirische Analyse im ersten Kapitel wird im zweiten Kapitel die vorherrschende These untersucht, wonach die Krise in erster Linie eine Finanzmarktkrise war, die dann auf die sogenannte „Realwirtschaft“ übergesprungen sei. Um zum Ursprung der Krise zu gelangen, muss aber tiefer gegraben werden. Tatsache ist, dass Krisenzyklen eine ständige Erscheinungsweise kapitalistischer Akkumulationsprozesse bilden, also keineswegs als besondere, einmalige Vorkommnisse zu behandeln sind. Auch die jüngste Krise reiht sich in die Kette solcher Akkumulationszyklen ein.
Gerade diese wesentliche Seite der Krise wird von der aktuellen, fast nur auf die Finanzmärkte ausgerichteten Krisenliteratur ausgeblendet, so dass wir eine solche Krisenbetrachtung für ungeeignet halten, um den Ursprung und den inneren Zusammenhang der Krise zu enthüllen. Erstens lässt die Krisenliteratur die wirkliche Akkumulation als mögliche Krisenursache weitgehend außer Acht, betrachtet die „Realwirtschaft“ überwiegend als stabil, so dass die Krisenursache von vornherein jenseits der Warenproduktion angesiedelt wird. Diese Externalisierung des Krisengeschehens führt zweitens dazu, dass der Fokus der Erklärung von vornherein auf historisch einmalige Ereignisse gelegt wird, so dass dann die große Krise von 2007 bis 2010 als eine Art Verkehrsunfall beschönigt werden kann.
Völlig anders verhält es sich mit der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie. Durch das Aufdecken der Widersprüche und Gegensätze der kapitalistischen Ökonomie konnte Marx das verborgene Krisengeschehen in seiner allgemeinen Gesetzmäßigkeit aufdecken und die allgemeine Verlaufsform darstellen.
Das von Marx entdeckte allgemeine Gesetz der periodischen Krisen bildet den Gegenstand des dritten Kapitels. Eine solche allgemeine Analyse der Krise kann allerdings nicht erklären, warum die Erschütterungen diesmal besonders schwerwiegend und so weit reichend waren. Um dies herauszufinden, untersuchen wir im vierten Kapitel die längerfristigen Akkumulationstendenzen.
Das bisherige Krisenmanagement von Regierung und Notenbank scheint insofern erfolgreich gewesen zu sein, als es in vielen Ländern, vor allem in Deutschland, tatsächlich zu einer gewissen Stabilisierung und dann zu einer Erholung der Ökonomie beigetragen hat. Das Kapitel fünf wird sich mit der Kehrseite des Antikrisenprogramms beschäftigen, indem es die Frage aufwirft, wo die Risiken geblieben sind, die der Staat durch seine Interventionen aus der Wirtschaft herausgenommen hat. Handelt es sich bei der erzielten Stabilisierung um einen Pyrrhussieg, dem schon bald Staatsbankrotte, Währungsverwerfungen, Hyperinflation und weitere Wirtschaftskrisen folgen werden?
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Quelle: https://www.proletarische-plattform.org/proletarische-texte/finanzmarktkrise/ vom 10. Dezember 2019
Tags: Bücher, Marx, Neoliberalismus, Politische Ökonomie
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