Arbeiter*innen verteilen Lebensmittelpakete an Leidtragende der Krise
Mateo Falcone. Seit Beginn der Ausgangsbeschränkungen lebt die Bevölkerung in den nördlichen Bezirken Marseilles in zunehmendem Elend. Die Mitarbeiter*innen der McDonald‘s-Filiale in Saint-Barthélemy, einem proletarisch geprägten Stadtteil Marseilles, verteilen von der Filiale aus Lebensmittelpakete an die Betroffenen. Das Management von McDonald’s France wehrt sich gegen die Aktion – und belebt gleichzeitig das Geschäft auf Kosten der Gesundheit seiner Angestellten.
Seit dem Ausbruch der Corona-Krise haben sich die Verhältnisse in den ohnehin äußerst prekären Stadtteilen Marseilles verschlimmert. Die nördlichen Bezirke (3, 13, 14, 15, 16) hatten bereits eine Arbeitslosenquote von 25,5% (zum Vergleich: der nationale Durchschnitt beträgt 8,5%). 39% der Bevölkerung lebte schon vor Corona unterhalb der Armutsgrenze.
Durch die Einführung der Ausgangssperre und die mit ihr verbundenen Entlassungen und Lohnausfälle hat sich diese Situation verschlechtert. Mittlerweile kann ein immer größer werdender Teil der dortigen Bevölkerung ihre Grundbedürfnisse, wie etwa Lebensmittel, nicht mehr decken. Nair Abdallah, Mitglied des Kollektivs „Maison Blanche”, berichtet: „Zu Beginn haben wir uns an die Ausgangsbeschränkung gehalten, aber nach 4, 5 Tagen haben wir entschieden, in die Nachbarschaft zurückzukehren. Da haben die ersten Familien beklagt, dass es bei ihnen nichts mehr zu essen gibt. Eine Mutter hat zum Beispiel erzählt, dass sie mit ihren drei Kindern seit über drei Tagen nur noch Zwiebelsuppe isst.“
Viele Verbände und Kollektive haben daher die Verteilung von Lebensmittelpaketen für die am stärksten Benachteiligten organisiert. Doch täglich bitten mehr um Hilfe: Das Kollektiv „Maison Blanche“ hat letzte Woche 50 Pakete verteilt, diese Woche fast 400. Sogar die sozialen Dienste anderer Stadtteile haben begonnen, die Menschen zu diesen Kollektiven zu schicken, da sie dank ihren Mobilisierungen den Bedarf an Lebensmittelpaketen vorerst decken konnten.
Angesichts dieses Zustroms beschlossen die Mitarbeiter*innen von McDonald‘s Saint-Barthélemy, die Infrastruktur ihrer Filiale im Kampf gegen die Krise zu nutzen. Unterstützt werden sie dabei von einer Vielzahl von Kollektiven und Verbänden, insbesondere dem Syndikat der Arbeiter*innenviertel von Marseille.
Von Händler*innen, Anwohner*innen oder den Tafeln gelieferte Lebensmittel werden im Kühlraum aufbewahrt. Lebensmittelpakete werden in der Filiale vorbereitet, verpackt und von dort aus verteilt. Die Pakete werden in Erdgeschossen von Wohnhäusern oder vor den Wohnungen abgestellt – alles unter Beachtung der hygienischen Schutzmaßnahmen: Masken und Handschuhe werden genutzt, die Produkte desinfiziert. Kamel Guémari, Mitglied der Gewerkschaft Force Ouvrière und Akteur im Kampf gegen das McDonald‘s‑Management, fragt: „Wenn wir in diesem Ausnahmezustand unsere Nachbarn nicht unterstützen, wer dann?“
Der McDonald‘s‑Konzern lehnt die Aktion ab, verurteilt sie sogar. Ralph Blindauer, Anwalt der Angestellten der Filiale Saint-Barthélemy, sagte im Gespräch mit der Zeitung La Marseillaise: “Wir hätten es gerne mit Zustimmung von McDonald’s France getan, aber sie lehnen es ab. Als Gründe werden Haftungsfragen genannt”. Er fügte hinzu: “Sie haben keinen Funken Menschlichkeit, deshalb haben die Arbeiter*innen beschlossen, sie zu ignorieren.”
Das McDonald‘s‑Management positioniert sich als Hindernis im Kampf gegen die Corona-Krise. Es lehnt ab, den am stärksten unter ihr leidenden Menschen zu helfen. Die Arbeiter*innen der Filiale können sich auf niemanden außer sich selbst verlassen, wenn sie die Einwohner*innen Marseilles in dieser dramatischen Situation unterstützen wollen.
In der Tat ist der Konzern nicht für menschenfreundliche Entscheidungen bekannt. Vor einer Woche wurde verkündet, dass die Drive-In-Restaurants wieder öffnen und die Lieferungen wieder stattfinden sollen – auf Kosten der Gesundheit der Beschäftigten.
Zwar heißt es, die Arbeit solle auf freiwilliger Basis aufgenommen werden. Massamba Dramá, Gewerkschafter der SUD Hôtellerie-Restauration Paris, führt jedoch aus, dass “Mitarbeiter*innen, die sich weigern zur Arbeit zu gehen, zu Feind*innen des Managements deklariert werden und Repressalien riskieren”.
Überhaupt ist das Unternehmen bekannt für die Unterdrückung “aufmüpfiger” Mitarbeiter*innen. Im vergangenen Jahr enthüllte Marsactu, eine Tageszeitung aus Marseille, dass McDonald’s 25.000 Euro für falsche Zeugenaussagen gegen Kamel Guémari gezahlt hat – um eine Grundlage für seine Entlassung zu schaffen.
Was die Wiederaufnahme des Tagesgeschäfts im Eilmarsch angeht, erklärt Massamba Dramé: “Die Küchen sind sehr klein. Es wird schwierig, einen Mindestabstand zueinander einzuhalten. Außerdem gibt es die Frage nach den Masken: Sollten sie nicht lieber dem Pflegepersonal überlassen werden, da diese sie dringender benötigen?”
Zudem betont der Gewerkschafter, dass das Liefergeschäft von McDonald’s nicht zur Grundversorgung zählt. Der Verkauf von Burgern, der die Taschen des Konzerns füllt, ist keine gesellschaftlich essenzielle Aufgabe – im Gegensatz zur Verantwortung des Gaststättensektors, den Ärmsten zu helfen. Was die Arbeiter*innen aus Saint-Barthelemy tun, ist ein Beitrag zur Bewältigung der medizinischen und wirtschaftlichen Krise.
Die Marseiller McDonald’s‑Arbeiter*innen haben ihre Produktionsmittel in die eigenen Hände genommen, um sie in den Dienst der Krisenbekämpfung zu stellen – während der Staat mit seiner katastrophalen Bewältigungsstrategie die Krise verschlimmert und die Konzerne auf Kosten tausender Arbeiter*innen die Geschäfte öffnen und die nicht-essenzielle Produktion wiederaufnehmen wollen.
Die Beschäftigten sind in der besten Position, um die Verteilung aller Güter neu zu organisieren – nicht zum Nutzen der Bourgeoisie, sondern zum Kampf gegen die Krise.
Dieser Artikel erschien zuerst am 9. April bei Révolution Permanente.
Quelle: klassegegenklasse.org… vom 15. April 2020
Tags: Arbeiterbewegung, Arbeitskämpfe, Arbeitswelt, Covid-19, Frankreich, Gewerkschaften, Widerstand
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