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Wie die Linke um das Jacobin-Magazin Sanders falsch verstanden hat

Eingereicht on 29. April 2020 – 11:14

Daniel Taylor. Die Jacobin-Herausgeber sagten, Sanders‘ Kampagne sei der Weg zu einer militanten Massenbewegung und zu einem Bruch mit dem Zweiparteiensystem. Jetzt, da Sanders besiegt ist, argumentieren sie dafür, innerhalb der Demokraten zu bleiben. Was gilt nun?

«Aus Gründen der Medienberichterstattung muss man innerhalb der Demokratischen Partei kandidieren»: So rechtfertigte Bernie Sanders pragmatisch seine Teilnahme an den demokratischen Präsidentschaftsvorwahlen 2016, ein Ansatz, den Donna Brazile, ein nationales Leitungsmitglied der Demokraten, als «extreme Schande» bezeichnete. Im Februar dieses Jahres, als er gegen neoliberale Kandidaten wie Joe Biden und Pete Buttigieg kandidierte, verkündete ein Spendenaufruf an seine Anhänger: «Die Wahl bei dieser Wahl ist einfach: Demokratie oder Oligarchie. Werden Milliardäre wieder einmal die Präsidentschaft kaufen? Oder werden die Werktätigen endlich aufstehen, zurückschlagen und sie für uns zurückerobern?»

Einige Monate später sagte Sanders zu Joe Biden – einem Mann, der vorschlug, sein Veto gegen die von Sanders unterzeichnete Medicare-for-all-Politik einzulegen – «Wir brauchen dich im Weissen Haus … Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dafür zu sorgen, dass dies geschieht, Joe». Nach den Massstäben, die er in seiner eigenen Kampagne festgelegt hat, setzt sich Sanders nun mit Begeisterung für einen Vertreter der Oligarchie gegen die Demokratie ein und macht sich dafür stark.

Bernie Sanders‘ Kampagne beruhte immer auf einem Widerspruch. Sie appellierte an das linke Gespür, dass die Demokraten – insbesondere wie sie in Hillary Clinton verkörpert sind – ebenso Teil des Problems sind wie die Republikaner. Gleichzeitig versuchte Sanders tatsächlich, seine Nominierung der Demokraten für die Präsidentschaft zu gewinnen: Das beruhte auf der Überzeugung, dass es unmöglich ist, Veränderungen ausserhalb des Zwei-Parteien-Rahmens der USA zu erreichen; das heisst, die politischen Handlungsmöglichkeiten auf den Rahmen zweier rechtskapitalistischer Parteien zu beschränken.

Nun, da Sanders vollständig geschlagen ist, müssen seine Anhänger zu einer neuen kämpferischen Perspektive finden, wenn sie nicht in Apathie oder in den politischen Mainstream zurückfallen wollen. Sanders‘ Kampagnen könnten ein frühes Stadium in der Herausbildung von etwas wirklich Wichtigem widerspiegeln: den Kampf gegen die US-amerikanische Kapitalistenklasse, der jenseits von Wahlen und ausserhalb der Grenzen der Demokratischen Partei stattfindet. Es ist verständlich, dass so viele Menschen hofften, es mit den Mächtigen aufnehmen zu können, ohne die Regeln der US-Politik zu brechen, und es ist verständlich, dass sie diesen Weg ernsthaft versuchten. Nun hat sich gezeigt, dass dieser Weg blockiert ist. Die einzige Hoffnung ist, dass diese Sanders-Anhänger wirksamere Methoden ergreifen – und zum Aufbau von unabhängigen politischen Organisationen übergehen und den Kampf jenseits des Wahlzirkus’ aufnehmen.

Wir sollten den Moment nutzen, um Bilanz über diejenigen strategischen Ansätze der Linken zu ziehen, die sich immer wieder einen leichten Weg zur Macht vorgaukeln; sie konzentrierten sich dabei dermassen intensiv auf die Präsidentschaftswahlen, dass sie sich im Nachhinein dann gegen jede Kritik an dieser Orientierung immunisieren.

Wie diese Perspektive aussieht, können wir an den Publikationen von Dustin Guastella sehen, einem Mitglied der Demokratischen Sozialisten Amerikas und häufigen Mitarbeiter bei der Zeitschrift Jacobin. Im Jahre 2016 argumentierte Guastella gegenüber denjenigen, die davor warnten, dass die Sanders-Kampagne seine Anhänger irreführen würde, da  die Perspektive einer Reform der Demokratischen Partei zum Scheitern verurteilt sei:  «Wir sehen Sanders nicht als eine Strategie zur Neuausrichtung der Demokratischen Partei». Nachdem Sanders die Kandidatur 2020 in Nevada gewonnen hatte, gab Guastella bekannt, dass diese Neuausrichtung nun tatsächlich abgeschlossen sei: «Es ist so weit, Establishment-Demokraten –  es ist jetzt seine Partei!».

Nach der zweiten Niederlage von Sanders‘ in einem Wahlkampf explodierte das Internet mit einem ungeheuer positiven Phänomen: Erklärungen von Sanders-Anhängern, dass sie niemals für Biden stimmen würden, und sie mit den Demokraten abgeschlossen hätten. Zu diesem Zeitpunkt startete Guastella eine erbitterte Polemik gegen alle, die einen Austritt aus der Demokratischen Partei erwogen, und rechtfertigte gleichzeitig Sanders‘ Mitarbeit in deren Kern. «Wir müssen Kongresskandidaten aufstellen», erklärte Guastella, «um mit dem Aufbau eines wirklichen Blocks von Gesetzgebern zu beginnen … [Dies] erfordert die Zurückweisung der Phantasterei, dass jetzt die Zeit für den Aufbau einer dritten Partei gekommen sei, oder in der wir uns alle in militante Protestaktivitäten stürzen sollen». In einem weiteren Artikel erklärte er: «Die Wähler sind klüger als die Befürworter von Drittparteien», und sie würden sich lieber nicht an einen Kandidaten binden, der keine Chance hat, zu gewinnen … Jegliches Gerede über ihren ‚DemExit‘, das zu einem konsequenten ‚Bruch‘ mit der Demokratischen Partei führt, ist reine Phantasterei».

«Wir wissen, dass Bernie Sanders kein Interesse an Drittparteien hat», bemerkte Guastella zustimmend. Stattdessen empfahl Guastella Sanders, mit Gewerkschaftsfunktionären zusammenzuspannen, um eine «permanente landesweite Druckkampagne» für eine gute Politik zu starten – kaum der radikale Bruch mit der Politik des Establishments, der uns versprochen wurde.

Dies fasst ziemlich genau die Entwicklung der Strömung zusammen, die mit den Herausgebern von Jacobin und der «Bread and Roses»-Fraktion in den Demokratischen Sozialisten Amerikas verbunden ist. Noch 2016 war es Leugnung; Leugnung, dass irgendein Interesse bestünde, sich langfristig im Rahmen der Wahlpolitik der Demokratischen Partei zu bewegen. Von 2018 bis 2019 war es Wahn. Diese Phase war von halluzinatorischen Behauptungen geprägt, dass Sanders‘ Präsidentschaftskampagne in Wirklichkeit eine quasi-revolutionäre Bewegung sei, die die Strukturen des Kapitalismus selbst aufzulösen drohe. Jetzt, im Jahr 2020: pure Verteidigung der Demokraten.

Bhaskar Sunkaras Sozialistisches Manifest 2019 schlug vor, dass, da Sanders ein «klassenkämpferischer» Kandidat sei, sein Sieg im Jahr 2020 das Signal für eine relativ schnelle revolutionäre Transformation des US-Kapitalismus sein könnte. Nach Sanders‘ Niederlage griff Connor Kilpatrick zu diesem wahrhaft deprimierenden Aufruf, am Programm festzuhalten: «Ich würde sagen, dass wir höchstens zwanzig oder dreissig Jahre vor uns haben, bis ein anständiges sozialdemokratisches Projekt das amerikanische Leben wirklich in die Hand nimmt». Und das ist noch das Beste, was wir uns erhoffen können. Den Kapitalismus herauszufordern? Vergesst es.

Diese politische Strömung brüstete sich damit, dass sie es waren, die in Sanders das aktuell revolutionärste Potential sahen. Warum versuchen sie gerade jetzt, der sozialistischen Bewegung inmitten der seit Jahrzehnten grössten Krise des Kapitalismus alle radikale Hoffnung zu nehmen? Wie kann man mit der Behauptung beginnen, dass Sanders‘ Kampagne gut war, gerade weil sie eine angeblich einzigartige Kraft besass, Streiks anzuregen, eine Abspaltung von den Demokraten herbeizuführen und die sozialistische Transformation Amerikas einzuleiten – und am Ende jeden Versuch anprangern, sich von den Demokraten abzuspalten, um sich auf den unabhängigen Klassenkampf zu konzentrieren?

«Parteien sind kein Selbstzweck», schreibt Guastella, «sondern Mittel, die uns helfen, zwei Dinge zu tun: 1) Kandidaten zu wählen, und 2) Gesetze zu erlassen». Letztlich ist dies, so oft man sich auch auf die 99 Prozent gegen die Oligarchie berufen mag, eine durch und durch elitäre Herangehensweise an den gesellschaftlichen und politischen Wandel: Sie beschränkt sich auf die politischen Organisationen, die nur existieren, um eine kleine Schicht von Berufspolitikern zu unterstützen. Wirkliche Veränderungen werden von gewählten Kandidaten und Abgeordneten herbeigeführt: Das kollektive politische Leben, verkörpert durch Parteien, erlaubt es den einfachen Menschen, sich nur auf einer passiven unterstützenden Ebene zu beteiligen, indem sie sich für die Menschen einsetzen, die wirklich wichtig sind. In dieser Weltsicht sind selbst kollektive Aktionen, wie Demonstrationen und Streiks, nur in dem Masse hilfreich, wie sie Wahlmehrheiten aufbauen.

Dieser Ansatz hat die sozialistische Bewegung seit über einem Jahrhundert vergiftet. Indem sie die sozialistische Politik den Strukturen der bürgerlichen Politik unterordnete, hat sie antikapitalistische Organisationen und Bewegungen zu Verwaltern des kapitalistischen Staates gemacht. Dieser Prozess hört nie auf: Jede Generation, die für Gleichheit kämpft, wird von ihr angelockt, da sich die kapitalistische Wahlpolitik als einzige scheinbar realistische Möglichkeit anbietet, die Welt zu verändern – und so eine Bewegung nach der anderen einfängt. Die einzige Alternative besteht darin, die sozialistische Politik auf die Theorie von Marx zu gründen, dass die Arbeiterklasse durch revolutionäre Aktionen ihre eigenen Strukturen aufbauen kann, um die Gesellschaft von unten her neu zu organisieren.

In einem Artikel über die Perspektiven der Labour-Partei von Jeremy Corbyn warnte Richard Seymour vor der Wahrscheinlichkeit einer «Syrizafikation», einem Prozess, in dem die radikale Linke von den Institutionen, die sie zu regieren versucht, schnell zerkaut und verdaut wird und in der Tat zu einem Instrument des neoliberalen Zentrums wird, das sie mit ihrer Wahl hätte verdrängen sollen». Die Rede ist von Syriza, der neuen griechischen politischen Partei, die auf einer Plattform des Kampfes gegen die Austeritätspolitik in die Regierung gewählt wurde, nur um dann die härtesten Angriffe  zu führen, die dieses Land bisher erlebt hat. Aber Syriza ging weiter als Sanders: Sanders hat nicht nur nie eine Regierung gebildet, er hat auch nie eine neue Partei gegründet – oder auch nur versucht, eine zu bilden.

US-Apologeten für ihre Arbeit innerhalb der Demokraten verweisen oft auf die einzigartigen Zwänge des Zwei-Parteien-Wahlsystems. Es trifft zu, dass die Vorherrschaft von zwei kapitalistischen Parteien die US-Linken noch stärker belastet. Dadurch aber wird der Bruch mit den Demokraten nur noch dringender; ein solcher erfordert politischen Mut. Wenn man glaubt, dass Parteien nur existieren, um Kandidaten zu wählen und Gesetze zu erlassen, ist es viel schwieriger, mit den Demokraten zu brechen: Keine dritte Partei wird in den USA wahrscheinlich genügend Sitze gewinnen um Gesetze zu erlassen. Linke müssen man zunächst daran glauben, dass Parteien und politische Organisationen anderen Zwecken dienen können – die Unterdrückten zu organisieren, um gegen ihre Unterdrücker zu kämpfen, das Bewusstsein der Menschen zu schärfen, um sie zum Kampf zu inspirieren, die offiziellen Machtstrukturen zu zerschlagen, anstatt sie nur zu dominieren.

Im Zusammenhang mit einem Wahlkampf zwischen zwei senilen Rechtsextremen wie Biden und Trump können die Stimmen für eine dritte Partei ein wichtiges Signal dafür sein, dass die Menschen eine Alternative wollen. Wenn man glaubt, dass politische Parteien existieren, um die Unterdrückten zum Kampf für ihre eigenen Rechte zu inspirieren, können solche Signale eine Rolle spielen. Wenn man glaubt, dass Parteien existieren, um Gesetze zu erlassen, sind solche Signale irrelevant.

Dasselbe gilt für den unabhängigen Klassenkampf und die Massenmobilisierung: Sie müssen als Selbstzweck und nicht nur als Requisit für Wahlkandidaten gesehen werden, wenn sie sich nicht in Nichts auflösen sollen, sobald ein Kandidat die Nominierung verliert. Eine Wahlbesessenheit, kombiniert mit der schrecklichen politischen Landschaft in den Vereinigten Staaten, hat die Strategen um das Jacobin Magazin der Sanders-Kampagne dazu veranlasst, gegen jede offene Herausforderung einer der ältesten und reaktionärsten Parteien des Weltkapitalismus zu argumentieren.

Einige von Sanders‘ Anhängern haben ein viel besseres Verständnis davon, was auf dem Spiel steht als die Strategen bei Jacobin – daher die Popularität des #DemExit-Hashtags, gegen den Jacobin eine Kampagne führen musste. (Seit Sanders‘ Niederlage sinnieren die Moderatoren des Podcasts des Chapo Trap House über die Irrelevanz von Wahlen, die Bedeutung des Klassenkampfes am Ort der Produktion und die Absurdität einer langfristigen Bindung an die Demokraten, die auf der illusorischen Vorstellung beruht, Sanders habe «die Schlacht der Ideen gewonnen»). Eine sozialistische Strömung, die für die Notwendigkeit einer unabhängigen antikapitalistischen Organisation mit Mut und Klarheit argumentieren könnte, würde zweifellos ein Publikum finden, auch wenn diese Kampagne viel Geduld und Überzeugungsarbeit erfordern würde. Sanders wird nicht der letzte Kandidat sein, der auf der Grundlage einer inspirierenden, aber fehlerhaften Vision des Sozialismus eine breite Anhängerschaft gewinnt. Sozialisten haben die Pflicht, ihren Anhängern dabei zu helfen, zu verstehen, dass sie selbst die Macht haben, den Kapitalismus zu überwinden, anstatt dafür einzutreten, innerhalb der Grenzen der Strukturen der offiziellen kapitalistischen Politik zu bleiben.

Quelle: redflag.au… vom 29. April 2020; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch

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