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Die EMS-Chemie, die Nazis und der «Schweizer Sonderfall»

Eingereicht on 5. Dezember 2020 – 12:57

Raphael Liebermann. Am 5. November 2020 wurde im Schweizer Fernsehen SRF die Doku “Ems-Chemie – Dunkle Helfer nach dem Zweiten Weltkrieg” ausgestrahlt und ist seitdem online verfügbar. Der Dokumentarfilm, in dem sich Gespräche mit Zeitzeug*innen und Historiker*innen abwechseln, ist aus mehreren Gründen empfehlenswert. Die Doku wirft Licht auf die dunklen Flecken der Entstehungsgeschichte des grössten Konzerns Graubündens, der «Ems-Chemie», ehemals Hovag. Die unvorteilhaften Aspekte der Firmengeschichte waren von der Eigentümerfamilie Blocher in ihrer vorangegangenen Eigendarstellung eifrig ignoriert worden.

Aufgrund der vielen historischen Verbindungen des Konzerns sowohl zur schweizerischen als auch zur internationalen Politik hört die historische Aufarbeitung nicht an den Werkstoren auf. Am Beispiel der Geschichte der Ems-Chemie lässt sich nicht nur viel über die Geschichte der Schweiz während und nach dem Zweiten Weltkrieg lernen, sondern auch über den Umgang der Medien mit Rechten.

Kooperation zwischen Nazis und der Schweiz

Obwohl ich es allen sehr ans Herz legen würde, die Doku selber zu schauen, möchte ich hier einen kurzen Überblick geben. 1936 gründete der Agraringenieur Werner Oswald die «Holzverzuckerungs-AG» (Hovag). Ein grosses Werksgelände entstand jedoch erst mit der finanziellen Unterstützung des Bundesrats ab 1940. Die Hovag sollte im Auftrag des Staates im grossindustriellen Massstab Ethanol (ein Benzinersatz) aus Holz herstellen, um die Treibstoffversorgung der Schweizerischen Armee im bereits wütenden Weltkrieg zu sichern. Dieses Unterfangen gelang mit der Unterstützung des SP-Nationalrats Robert Grimm und einer Abnahmeverpflichtung des Bundesrates, welche die Nachfrage garantierte. Diese Subventionen waren nötig, da sich die Fertigung von Treibstoff aus Holz im armen, bäuerlich geprägten Graubünden im Vergleich mit herkömmlichem Benzin nicht rechnete. Der Aufbau des Chemiewerks ist also nur im Kontext des Aufbaus der schweizerischen Kriegswirtschaft und der wirtschaftlichen Entwicklungspolitik des Bundesrates zu verstehen. Die Hovag war aber trotz der Subventionen zu keinem Zeitpunkt in der Lage, die Nachfrage des Landes zu decken. Ganz ähnlich wie es der Schweiz auch mit dem Plan Wahlen und der «Anbauschlacht» nie gelang, die Lebensmittelversorgung allein durch die heimische Produktion zu gewährleisten, um sich gegen allfällige Embargos während des Zweiten Weltkriegs zu wappnen. Für den Mythos der autonomen wehrhaften und dadurch eben neutralen Schweiz war dies jedoch von zentraler Bedeutung.

Der SP-Nationalrat Robert Grimm war mit der Treibstoffversorgung während dem Krieg betraut worden. Seine rechte Hand der Anwalt Ernst Imfeld unterhielt beste Verbindungen in das Umfeld des NS-Wirtschaftsministers, Herrmann Göring. Die Kooperation mit dem NS-Staat sicherte die Benzinzufuhr der Schweiz während dem Krieg. Nach dem Krieg revanchierte sich der Schweizer Staat dafür, indem er den einstigen SS-Hauptsturmführer Ernst Rudolf Fischer, der bis 1939 Direktor des Chemie-Trusts I.G.-Farben (Interessengemeinschaft Farbenindustrie AG; heute BASF, Bayer etc.) war, aufnahm und so vor den Nachfolgeprozessen zu den Nürnberger Prozessen bewahrte. Damals musste sich die I.G.-Farben nämlich für Plünderungen in den von der NS-Diktatur besetzten Gebieten, systematische Zwangsarbeit bis zum Tod und die Erfindung des berüchtigten Zyklon B verantworten.

Im beiderseitigen Interesse vermittelte Ernst Rudolf Fischer belastete Chemiker an die Hovag, u.a. Johann Giesen. Dieser hatte nach dem Zweiten Weltkrieg als Zeuge in den Nürnberger Prozessen noch versucht, den SS-Offizier und Chef der Buna-Werke[1] Heinrich Bütefisch durch seine Aussagen zu entlasten. Johann Giesen war also überzeugter Nazi, der keinen Befehl brauchte, um sich schützend vor die Täter der Vernichtungspolitik zu stellen. Er selbst war vor Kriegsende zum Produktionsleiter im I.G.-Farbenwerk Auschwitz-Monowitz aufgestiegen. Damit hatte er an der «Vernichtung durch Arbeit» (Bezeichnung von Joseph Goebbels) teilgehabt und den Vernichtungskrieg der Wehrmacht mit Treibstofflieferungen unterstützt. Johann Giesen und die chemischen Syntheseverfahren der I.G.-Farben sollten die Hovag auch in die Nachkriegszeit retten. Denn nach dem Krieg liefen die Abnahmeverträge zwischen der Hovag und dem Schweizer Staat aus, sodass ein geregelter Umbau der Hovag erfolgen musste. Für diesen Umbau war das Wissen von Johann Giesen, welches er sich während der Arbeit im I.G.-Farben Werk bei Auschwitz angeeignet hatte, zentral. Das wichtigste war wohl die Nylon-Synthese, dessen Produkt unter dem Markennamen Grilon[2] als modernes Schweizer Erzeugnis beworben wurde.

Mit dem Übergang zur Marktwirtschaft war Werbung wichtiger geworden. Obwohl hier eine gewisse Kontinuität von den Durchhalteparolen der Kriegszeit zur Werbung auf dem freien Markt auffällt. Ein schönes Beispiel hierfür ist der von Werner Oswald in Auftrag gegebene Film Ems-Chemie aus dem Jahr 1955, aus dem einige Ausschnitte in der Doku gezeigt werden. Dieses Propagandawerk kolportiert, wie der Unternehmer Oswald die Bergbauern aus der Armut befreit und aus Schweizer Holz ein schweizerisches Produkt der Moderne schafft. Für die Verstrickungen mit dem NS-Staat blieb in Oswalds «Werbefilm» dabei kein Platz.

Aufarbeitung oder Neutralität

Da die Schweiz vom Krieg nicht durch Kampfhandlungen oder Besatzung betroffen war, kam es hier zu keinem Bruch. Vielmehr herrschten dieselben politischen Funktionäre bis in die Nachkriegszeit hinein. Deren Herrschaft war nach dem Krieg eher noch gefestigt worden, sodass es beispielsweise bis in die 1950er Jahre dauerte, bis der Bundesrat seine Notstandsvollmachten abtrat. Die schweizerische Politik und ihre Durchhalteideologie muss einiges an Legitimität besessen haben, angesichts einer verschonten Schweiz inmitten eines zerstörten Europas. Und diese Ideologie des Erfolgsmodells der neutralen Schweiz schrieb sich nun im Kalten Krieg fort. Das Militär war auch hier von zentraler Bedeutung. Dessen Wehrhaftigkeit wurde als Garant für das gesamte schweizerische Gesellschaftsmodell dargestellt. Das Militär war auch ein Stabilisator der patriarchalen Ordnung, da nur die Wehrhaftigkeit des Mannes auch zur politischen Repräsentation berechtigte.[3]

Durch die sowjetische Bedrohung, welche die Kriegspropaganda suggerierte, wurde die Schweiz zu einer monolithischen Gesellschaft zusammengeschweisst, in der Klassenkonflikte undenkbar waren. Die Ideologie der wehrhaften und autonomen, aber neutralen Schweiz lebte fort und passte sich der neuen geopolitischen Lage an, indem nach dem Zweiten Weltkrieges die faschistische Bedrohung durch die kommunistische ersetzt wurde. Diese Kontinuität führt dazu, dass über vierzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Bundesrat noch verlautbaren konnte: «Die Schweiz hat keine Armee, die Schweiz ist eine Armee.» Und in diese Geschichte der Selbstbehauptung fügt sich die imaginierte Heldengeschichte des Werner Oswalds ein, der Kraft seiner Begabung und seines Willens («Er war beseelt.», Originalton Christoph Blocher) quasi als bürgerlicher Übermensch den Hovag-Konzern erschuf und zu dessen heutiger Grösse führte. Genau diese Geschichte versucht die Familie Blocher als ihre eigene fortzuschreiben[4]. Aufgrund der persönlichen und wirtschaftlichen Voreingenommenheit der Familie Blocher ist es wenig verwunderlich, dass sie sich nicht um eine kritische Aufarbeitung der Geschichte der Ems-Chemie bemüht, sondern diese eher zu verhindern sucht.

Die Reaktion der Sozialdemokratie gibt da hingegen mehr zu denken auf. «Ems-Chemie» bietet den Zuschauer*innen einen Einblick in die problematische Position der Sozialdemokratie. Als Rebekka Wyler, die zur Zeit der Produktion der Doku Co-Generalsekretärin der SP war, auf die kritische Rolle des damaligen SP-Nationalrats Robert Grimm angesprochen wird, stellt sie sein Handeln als pragmatisch und von den Sachzwängen bestimmt dar. Für Wyler steht weiter ausser Frage, dass Grimm aus der im Nachhinein schlaueren Sicht falsch gehandelt habe. Allerdings sei schwierig zu rekonstruieren, was Grimm selbst damals wirklich gewusst habe. Des Weiteren würde mit einer öffentlichen Erklärung der Partei zu ihrer eigenen Schuld und Vergangenheit im Kampf um Aufarbeitung schlussendlich auch nichts gewonnen. Der einzige inhaltliche Unterschied zur Darstellung Blochers ist also, dass Wyler zumindest eine Aufarbeitung fordert, um die Sache abzuschliessen. Aber hier wird es interessant, da Wyler die historische Aufarbeitung eher als Feigenblatt und nicht als ernstgemeinten Handlungsauftrag an ihre Partei versteht. Denn wenn es nach Wyler geht, bleibt das Selbstbild der neutralen unabhängigen Schweiz als der weltweit aussergewöhnliche Einzelfall unangetastet. Dies ist paradox, da Wyler zwar die damals zwingende wirtschaftliche Notwendigkeit der Handelskontakte mit den faschistischen Achsenmächten hervorhebt, aber dabei nicht sieht, in welchem Widerspruch dies zur Geschichtsfigur der neutralen Schweiz steht. Überbrückt wird der Widerspruch durch die Darstellung von Robert Grimm als verantwortungsbewusstem realpolitischen Staatsmann, der mithalf die Schweiz sicher durch den Sturm zu steuern.

Die Forderung nach historischer Aufarbeitung an sich ist durchaus zu begrüssen, allerdings liegt der Vorstellung von Aufarbeitung, wie sie die SP hier vertritt, ein grundlegendes Missverständnis des Begriffs zugrunde. Denn Aufarbeitung bedeutet nicht den Abschluss eines Sachverhalts, sondern den Beginn einer politischen Auseinandersetzung. Anstatt es mit der Anerkennung bisher unbeleuchteter brauner Flecken im Geschichtsbild bewenden zulassen, würde eine erfolgreich aufarbeitende Politik die Schlüsse aus der Vergangenheit als Handlungsanleitung verstehen. Sie würde endlich einen konsequenten Kampf gegen rechts führen. Sie würde endlich die Opfer des totalen Terrors entschädigen. Sie würde in Solidarität mit den Opfern des gegenwärtigen rechten Terrors – sei es auf der Strasse, im Internet oder in den menschenverachtenden Flüchtlingslagern – den Kampf gegen rechts aufnehmen.

Rechtsradikaler Geschichtsrevisionismus und bürgerliche Ideologie

Was in der Doku sehr gut herausgearbeitet wird, ist der Streit um die Deutungshoheit über die Vergangenheit. Offensichtlich wird dies an der Person Christoph Blochers. Blocher ist Kapitalist, er bereichert sich an der Arbeit anderer Menschen. Als Kapitalist, gerade als «self-made» Millionär, hängt er einer bestimmten Ideologie, d.h. einem bestimmten Weltbild an. Und dieses Weltbild prägt auch, wie er die Vergangenheit seines Konzerns sieht. Diese Sicht der Dinge vertritt er auch vor laufender Kamera. Wenn es Christoph Blocher aber gelingen soll sein Weltbild vom historisch unbelasteten freien Unternehmer auf die realen Geschehnisse zu projizieren, muss er Geschichtsrevisionismus betreiben.

Blocher sieht sich als Teil des mit hochgekrempelten Ärmeln anpackenden schweizerischen Unternehmertums, und damit sieht er auch seinen Reichtum als Produkt seiner eigenen Arbeit. Und er macht politischen Einfluss geltend, um seinen Reichtum und dessen Grundlage in Form freier unternehmerischer Tätigkeit – also der Ausbeutung der Arbeit anderer – notfalls mit der Waffe in der Hand zu bewahren. Blocher sieht seinen Lebenslauf als direkte Fortsetzung des imaginierten Werdegangs Werner Oswalds, als das widerständige unternehmerische Individuum, dass seine Freiheit gegen den Staat durchsetzt. Der darin enthaltene Überlegenheitsgedanke ist dabei zutiefst undemokratisch. Er geht von einer Chancengleichheit aus, wie es sie auch in der Schweiz weder gab noch gibt, und suggeriert somit, dass es ganz an einem selbst läge, ob man es schafft wie Blocher Reichtum anzuhäufen. Folglich präsentiert sich der «self-made» Unternehmer Blocher verdientermassen als über dem Rest der Gesellschaft stehend. Blocher steht letzten Endes für ein Weltbild, das im Kalten Krieg – die Zeit, in der Blocher aufwuchs und Reichtum anhäufte – gefestigt wurde. Ein Weltbild, das damals die Schweiz hinter einem Antikommunismus vereinte und als absolutes Gegenteil zur Sowjetunion konstituierte. Und ein Weltbild, das heute die persönlichen Freiheiten untrennbar mit dem Schutz des Privatbesitzes verknüpft, sodass sie als identisch erscheinen und im gegenwärtig vorherrschenden Weltbild nur noch in einem Atemzug verwendet werden. Das kapitalistische Weltbild von Christoph Blocher ist eng mit der herrschenden Ideologie der Schweiz verknüpft.

Dieses ideologische Selbstbild des unabhängigen Unternehmers wird in der Doku mit der staatlichen finanziellen Unterstützung der Hovag kontrastiert. In Christoph Blochers Weltbild geht also offensichtlich einiges vergessen. Vergessen geht die Arbeit aller, die diesen Konzern tatsächlich physisch aufgebaut und über Jahrzehnte am Laufen gehalten haben. Sie werden mit dem Konsumversprechen «Made in Switzerland» ersetzt. Und der Klassengegensatz geht auf in einem aussergewöhnlichen Volk, in dem es angeblich jede*r zu Wohlstand bringen kann. Vergessen geht der Ursprung des Konzerns als unrentabler Betrieb im Auftrag des Staates, der nicht in der Lage war die Nachfrage der Schweiz zu befriedigen. Und dass der Betrieb eingegangen wäre, hätten die Seilschaften der Schweizer Politik zur NS-Wirtschaftselite nicht einige Kriegsverbrecher in die Schweiz geholt und damit Strumpfhosen made in Ems erst möglich gemacht. Vergessen wird damit auch die NS-Vergangenheit zentraler Angestellter der Hovag. All das hat im Weltbild von Christoph Blocher keinen Platz.

Als Blocher mit der historisch aufgearbeiteten Vergangenheit konfrontiert wird, die er eigentlich ausgeblendet hat, stockt er einen Moment. Danach verliert er sich in einer Reihe von Rechtfertigungen. Wie die meisten seiner Generation und seiner Klasse fängt er damit an, dass er von nichts wusste, nur um sich dann von den charakterlich unsympathischen Nazis in Oswalds Konzern zu distanzieren. Darauf folgt eine Tirade an Relativierungen, die in dem nichtssagenden Lebkuchenherzspruch kulminieren, dass das Leben nun einmal so sei. In der Wirtschaft sei nun mal kein Platz, um sich der ideologischen Lauterkeit anderer zu vergewissern. Der Firmen-Chef muss das Unternehmen am Laufen halten und der Chemie-Angestellte arbeiten. Also müsse man sich derweil auch auf Leute aus bestimmten Zusammenhängen einlassen. Ebenso sei es bis heute gängige Praxis, dass nach dem Fall von Schurkenstaaten und im Wiederaufbau zerstörter Gebiete die Expert*innen ehemaliger Schurkenstaaten nicht auf ihre ideologische bzw. moralische Verträglichkeit mit dem neuen System geprüft, sondern in die neue Wirtschaft integriert werden. Dabei verliert Blocher allerdings kein Wort zur einzigartigen historischen Bedeutung der NS-Verbrechen. Dieses Mass an Verharmlosung der Verbrechen des NS-Staates steht Alexander Gaulands «Vogelschiss» in Nichts nach.[5]

Aber das Weltbild Christoph Blochers wäre nicht so gefährlich, wenn es nicht so einflussreich wäre. Es ist aber einflussreich, da ein grosser Teil der ärmeren und leidenden Menschen der herrschenden Ordnung paradoxerweise zustimmt. Hierzu möchte ich die Aufmerksamkeit auf eine Person lenken, die diese Paradoxie geradezu darstellt: Marcel Capaul. Capaul war die rechte Hand Werner Oswalds und verkörpert das Sinnbild des autoritären Charakters. Marcel Capaul ist in derselben Zeit aufgewachsen wie Christoph Blocher, sie teilen auf gewisse Weise die gleiche Sozialisation. Aus den O-Tönen Capauls lässt sich ableiten, dass er genau wie Blocher den wirtschaftlichen Erfolg Werner Oswalds als eine direkte Konsequenz seines überlegenen Charakters auffasst. Marcel Capaul ist bestimmt nicht arm, aber in seinem hierarchischen Weltbild steht er auch nicht auf derselben Ebene wie Werner Oswald. Er befindet sich also in einer gespannten Situation: zum einen ist er sich seiner gesellschaftlich (nach seinem Weltbild) Minderwertigkeit bewusst, auf der anderen Seite bezieht er aus der Nähe zum bürgerlichen Übermenschen Oswald ein Selbstwertgefühl, das es ihm erlaubt auf Menschengruppen, die weniger haben als er, selbstgerecht herabzuschauen. Seine Konformität mit der bürgerlichen Ideologie zeigt sich in einer Szene der Doku wunderbar, wo er dem Kamerateam im Hobbykeller seines Vaters stolz ein mit Klebband aufgehängtes DIN-A4 Blatt präsentiert, das ihn neben der grinsenden Konzern-Chefin Magdalena Martullo Blocher zeigt. Freudestrahlend erzählt er, wie wichtig seine Erfahrung für die Millionärin gewesen seien, sodass er sogar eine Rede anlässlich der Jubiläumsfeier der Ems-Chemie halten durfte.

Da es in der Natur der Sache liegt, dass sich der wachsende Teil des Reichtums in den Händen weniger sammelt, steht die Geisteshaltung Marcel Capauls stellvertretend für den eines grösseren Teils der Schweizer Bevölkerung. Nämlich für jenen Teil, der grundlos glaubt, aufgrund individueller Leistung und Stärke mehr zu haben und mehr zu verdienen als der Rest. Diese entsolidarisierende Haltung fügt sich nahtlos in die bürgerliche Ideologie ein. Dieser autoritäre Charakter verachtet und bestraft die ökonomisch Schwächeren und jene, die das Wertesystem des Kapitalismus ablehnen. Darum ist er eine zentrale Stütze des Kapitalismus.

Zusammenfassend lässt sich diagnostizieren, dass sich der schweizerische Rechtsradikalismus dem weitverbreiteten Bild der neutralen Schweiz bedient und es mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit verknüpft. So wird die Abstiegs- und Verlustangst der «Normalbevölkerung» genährt und auf die Fremden und Unterlegenen gerichtet. Hierbei greift der Rechtsradikalismus auf bestehende latente Ressentiments zurück und radikalisiert sich. Abwechselnd werden sie tagesaktuell gegen Immigrant*innen, Muslim*innen, Arbeitslose, Feminist*innen, den Klimastreik, etc. gerichtet. Aktualität gewinnt das Problem durch die gegenwärtige Krise, die viele Existenzen zerstört und in noch mehr Menschen Angst hervorruft. Dieses Klima der Unsicherheit führt dazu, dass die Propaganda der Rechten bei mehr Menschen ankommt, da es mit ihrer Angst Widerhall findet. Diesen Rückhalt, den die Rechtsradikalen dadurch erfahren, werden sie nutzen, um ihre Macht inner- wie ausserparlamentarisch auszuweiten.

Wie man mit Rechten redet

Es ist erschreckend, dass es nach Jahrzehnten der politischen Dominanz der SVP immer noch einen hilflosen Journalismus gibt, der keine Strategie im Umgang mit dem Rechtsradikalismus hat. Die O-Töne Blochers werden zwar mit detaillierten historischen Forschungsergebnissen als falsch entlarvt, trotzdem bekommt er viel Zeit zur Selbstdarstellung als gemütlich jovialer alter Mann.

Wie in diesem Artikel eingangs festgestellt wurde, ist die Auseinandersetzung um die Interpretation der Geschichte eine politische Auseinandersetzung. Und wenn ein falsch verstandener sachlicher Journalismus ein rechtsradikales Programm als eine gleichberechtigte Meinung unter vielen unkommentiert hinstellt, leistet er damit eben jenem rechtsradikalen Projekt Vorschub.

Die Propaganda ist das zentrale Werkzeug des Rechtsradikalismus, die wichtiger ist als der Inhalt selbst. Die Propaganda dient dem Appell an die individuelle Angst, die sie selber weiter schürt. Den Verängstigten wird die rechtsradikale Bewegung als heimeliger Ausweg angeboten. Und so werden Rechtsradikale die medialen Plattformen, die man ihnen bietet, immer zur Propaganda nutzen. Die Aufgabe des Kommentars ist es, der Propaganda ihren unverdächtigen heimeligen Charakter zu nehmen und sie so als das zu entlarven, was sie ist: eine Lüge. Eine Lüge zur Unterdrückung der Lohnabhängigen, eine Lüge zur sexistischen Unterdrückung der Frauen durch patriarchale Gewalt, eine Lüge zur homo-, queer- und transphoben Aussonderung von LGBTQI+-Personen, eine Lüge um antisemitische und rassistische Vernichtungsfantasien als normal und vernünftig erscheinen zu lassen. Die Aufgabe des journalistischen Kommentars ist es, dass dies am Ende des Interviews mit einem Rechtsradikalen wie Christoph Blocher offensichtlich wird.

Doch genau diesen kontextualisierenden Kommentar bleiben die Macher*innen der Doku ihren Zuschauer*innen letztlich schuldig. Zwar ist es gute journalistische Praxis, den Betroffenen einer Recherche die Möglichkeit einer eigenen Stellungnahme zu geben. Und die historische Forschung kann von den Perspektiven von Zeitzeug*innen profitieren, da sie es vermögen einen direkten Bezug der Geschichte zur Gegenwart herzustellen. Und eine polarisierende Figur, wie Christoph Blocher, als Zeitzeugen zu gewinnen, trägt zudem zur Verbreitung der Doku bei.

Aber hier ist der Fehler schon passiert. Denn es wird vorausgesetzt, dass alle Zeitzeug*innen durch ihre (unhinterfragte) Ansicht bereits einen Beitrag zum Erkenntnisgewinn beim Publikum leisten. Rechtsradikale werden die mediale Aufmerksamkeit aber immer zur Verbreitung ihrer Propaganda nutzen. Denn sie sind eben nicht an der kritischen Aufarbeitung der Vergangenheit interessiert. Vielmehr versuchen sie die Konsequenzen, die sich aus der Aufarbeitung ergeben müssten – z.B. dass die Ems-Chemie mit ihrem Firmengewinn die Opfer rechten Terrors unterstützten sollte –, zu verhindern. Das Ziel Blochers ist es, die Ergebnisse der kritischen Forschung zu untergraben. Es ist einfach nicht möglich seine Wortspende, deren einziges Ziel die Sabotage ist, als gleichwertigen Beitrag in die Dokumentation zu integrieren, ohne dass ihr problematische Charakter verloren geht. Eine Möglichkeit, diesen Widerspruch zu überbrücken, wäre gewesen, den O-Ton gesondert zu kommentieren. Die Macher*innen der Doku lassen die konträren Versionen der Geschichte aber unkommentiert nebeneinanderstehen und appellieren an das kritische Publikum, aus diesen widersprüchlichen Darstellungen selbst den richtigen Sinn zu stiften. Diese liberale Hoffnung ist aber ahistorisch, da sie ausblendet, dass die SVP die schweizerische Politik der letzten Jahrzehnte massgeblich mitbestimmt hat. Das rechtsradikale Weltbild der SVP ist mittlerweile nicht nur in weiten Teilen der hiesigen Bevölkerung salonfähig geworden, sondern gilt teilweise als normal und gleichbedeutend mit dem gesunden Menschenverstand. Und einem nicht unerheblichen Teil des Publikums, bei dem die Propaganda der SVP verfängt, eine Entschuldigung zu geben sich nicht mit der Geschichte auseinandersetzen zu müssen, indem Christoph Blocher stellvertretend für sie mit den Achseln zuckt, war ein Fehler der Macher*innen des Dokumentarfilms. Sie haben ihr eigenes Werk sabotiert, und damit das Potential ihres Films teilweise verschenkt.

Fussnoten:

[1] Die Buna-Werke waren auf Betreiben des NS-Staates gegründet worden. In den Chemiewerken stellte die I.G.-Farben eine synthetische Alternative zu Kautschuk her.

[2] Grilon ist der Markenname der Ems-Chemie für ihre Variante eines Polyamids; Polyamide sind robuste Kunststoffe, die beispielsweise im Maschinenbau, Elektronik, Automobilindustrie oder in der Textilindustrie weiterverarbeitet werden.

[3] Elisabeth Joris, 30 Jahre Abstimmung über die Abschaffung der Armee, Friedenszeitung 31-19.

[4] In dem Buch “Erfolg als Auftrag“ aus dem Jahr 2011 wird die Geschichte der Ems-Chemie stringent von Werner Oswald bis zur jetzigen Konzern-Chefin Magdalena Martullo Blocher erzählt. Die Rolle der belasteten Chemiker aus dem NS-Staat bleibt unerwähnt.

[5] Alexander Gauland (ex-Chef und heute Ehrenvorsitzender der AfD) bezeichnete 2018 die NS-Zeit als Vogelschiss der ansonsten glorreichen deutschen Geschichte.

Quelle: sozialismus.ch… vom 6. Dezember 2020

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