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Gewerkschaften: bedingungslos für die Gesundheit der Lohnabhängigen?

Eingereicht on 11. Dezember 2020 – 17:33

Christian Zeller. Die Regierungen handeln nicht angemessen gegen die Pandemie. Das beweisen sie nun bereits fast einem Jahr. Eigentlich käme jetzt den Gewerkschaften eine wichtige Rolle in der bedingungslosen Verteidigung der Gesundheit der Lohnabhängigen zu. Leider weigern sich die Gewerkschaftsführungen diese Rolle zu übernehmen.

Es fällt auf, dass die Gewerkschaften in den deutschsprachigen Ländern sich kaum an den Auseinandersetzungen über die Bekämpfung der Corona-Pandemie beteiligen. Wenn sie sich doch äußern, dann oft in einer gegenüber den Konzernen und Regierungen unterwürfigen Attitude. Sie verteidigen die von den Unternehmen bereits getroffenen Maßnahmen zur Vermeidung von Ansteckungen aus Angst konsequentere Maßnahmen würden die Unternehmen zu vermehrten Entlassungen provozieren. Sie leiten damit das Wohl der Lohnabhängigen aus dem Wohl der Unternehmen ab. Und das Wohl der Unternehmen ist primär abhängig von den Profiten. Gewerkschaftsführungen, die so denken, machen sich eigentlich überflüssig, zumindest für die Beschäftigten.

In diesen Tagen haben sich der Schweizerische Gewerkschaftsbundes und der Verband des Pflegepersonals mit zwei sehr unterschiedlichen Stellungahmen an die Öffentlichkeit gewandt.

Der SGB kritisiert den Schweizerischen Bundesrat in einem offenen Brief:

„Sie schränken die Freiheitsrechte und das gesellschaftliche Leben der Bevölkerung stark ein, ohne den in der Arbeitswelt erlebten Realitäten und ergriffenen Massnahmen angemessen Rechnung zu tragen. Das muss korrigiert werden.“ Der SGB verlangt: „Die teilweise enormen Anstrengungen der Arbeitnehmenden und der Betriebe, wirksame Schutzkonzepte einzuführen, sollten in die gesundheitspolitischen Überlegungen miteinbezogen werden.“  Da er diese Forderung und die „gesundheitspolitischen Überlegungen“ in keiner Weise konkretisiert, bleibt übrig, dass er die unternehmerischen Schutzkonzepte mit den allgemeinen Maßnahmen aufwiegt (offener Brief an den Bundesrat vom 9.12). In der zugehörigen Presseerklärung wird das noch deutlicher: „Vor diesem Hintergrund sind weitere Einschränkungen der wirtschaftlichen, sozialen und kulturelle Aktivität ohne genügende Abfederungsmassnahmen unzumutbar.“ Diese Aussage lässt sich auf zwei Seiten hin auflösen. Entweder, in der Tat konsequente Maßnahmen bei gleichzeitiger sozialer „Abfederung“; oder eben keine weiteren Maßnahmen, da die Gewerkschaften zu schwach sind, abfedernde Maßnahmen durchzusetzen.

Zu erinnern ist, dass der Chefökonom des SGB, Daniel Lampart, das scheinbare und selbstgewählte Dilemma knapp sieben Wochen vorher bereits selber zugunsten der zweiten Variante auflöste. Am 24.10.2020 sprach er sich in einem Interview gegen einen landesweiten sogenannten Mini-Lockdown aus. „Eine solche radikale Massnahme wäre viel zu schädlich für die Wirtschaft und die Arbeitsplätze“. Mit dieser wiederholten Relativierung der Dringlichkeit konsequenter Maßnahmen zur Gewährleistung der Gesundheit der Menschen macht sich die Führung des Gewerkschaftsbundes direkt politisch mitverantwortlich für das gegenwärtige Gesundheitsdesaster, die gesundheitliche Gefährdung der Pflegenden und das Leid der Erkrankten.

Selbstverständlich ist es richtig, die Eindämmung der Virusausbreitung mit angemessenen sozialen und ökonomischen Maßnahmen zum Schutze der Menschen zu verbinden. Doch in der konkreten Situation steht der SGB mit seiner zweideutigen Stellungnahme letztlich den Unternehmen und der Gewerbewelt zur Seite, die lamentieren die relativ bescheidenen Maßnahmen zum Schutze der Menschen vor Ansteckung kämen einem ungebührlichen Aufwand gleich.

Der SGB verlangt darüber hinaus Maßnahmen für Erwerbslose und eine Erhöhung des Kurzarbeitsgeldes, allerdings ohne die fragwürdige Finanzierung der Kurzarbeit, die auf eine Subventionierung der Unternehmen hinausläuft, zu kritisieren. Er verlangt mehr Geld für das Gesundheitswesen und höhere Löhne für Beschäftigten. Das ist sinnvoll. Zugleich ist es lächerlich, wenn eine Gewerkschaft von einer Regierung, die dafür unmittelbar nicht verantwortlich ist, höhere Löhne einfordert. Schließlich ist es Aufgabe der Gewerkschaft selber, die Beschäftigten zu organisieren und bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen.

Ultimativ und bedingungslos warnt demgegenüber der Verband der Pflegefachfrauen und -männer (SBK) in einem dringenden Appell an den Bundesrat und die Kantonsregierungen, „dass das Pflegepersonal den aktuellen Zustand nicht über weitere Wochen oder Monate durchhalten kann. Er macht in seinem Warnruf darauf aufmerksam, dass viele Pflegende schon jetzt am Ende ihrer Kräfte angelangt sind und die Perspektive, dass diese Belastung bis zum Ende des Winters derart hoch ist, nicht tragbar ist. Der SBK fordert daher national einheitliche, einfache und klare Massnahmen, damit die Neuansteckungen so schnell wie möglich auf ein gut bewältigbares Mass gesenkt werden.“

Dieser Appell der Pflegenden offenbart den Zynismus der Regierung und den politischen Bankrott der Gewerkschaftsführungen. Warum kann der Schweizerische Gewerkschaftsbund diese klare und einfache Forderung des Pflegenden nach „national einheitlichen, einfachen und klaren Massnahmen, damit die Neuansteckungen so schnell wie möglich auf ein gut bewältigbares Mass gesenkt werden“ nicht einfach übernehmen?

Meines Erachtens bedeutet allerdings ein „gut bewältigbares Mass“, dass die Virusausbreitung so stark zurückgedrängt wird, dass die Ansteckungen über Contract tracing wieder einzeln und vollständig erfasst werden können. Nur so lässt sich die Pandemie unter Kontrolle halten. Das entspricht den Erkenntnissen von Forscher:innen der Helmholtz-Gemeinschaft.

Würden die Gewerkschaften bedingungslos die Gesundheit der Lohnabhängigen verteidigen, dann würden sie gemeinsam mit den Beschäftigten alle möglichen Maßnahmen entwickeln, die die Gesundheit der Menschen gewährleisten. Die Gewerkschaften würden zusammen mit den Beschäftigten in den Betrieben eigenständige Pandemieschutzpläne entwickeln und nötigenfalls zumindest versuchen diese gegen die Unternehmensleitungen durchsetzen. Die Gewerkschaften würden auch bedingungslos den Beschäftigten im Gesundheitswesen beistehen und deren Forderungen zu den Forderungen aller Gewerkschaften machen.

Die Gewerkschaften würden auch in einem breiten Bündnis mit anderen gesellschaftlichen Gruppierungen und Organisationen der Zivilgesellschaft Maßnahmen mit und für die gesamte Gesellschaft entwickeln. – demokratisch von unten. Und sie würden dazu beitragen, diese erforderlichen Maßnahmen nötigenfalls mit Streiks und Ungehorsam gegen die Regierungen durchsetzen. Die Gesundheit der Lohnabhängigen sollte das erste wirtschaftliche und ökologische Anliegen der Gewerkschaften sein.

Warum wägen die Gewerkschaften die Gesundheit ihrer Mitglieder und der Lohnabhängigen überhaupt mit der Gesundheit der Unternehmen – also derer Profite – ab? Was gilt es hier abzuwägen? Warum meinen Gewerkschaften, sie müssten auch die Interessen der „Wirtschaft“ vertreten? Eine Gewerkschaft, die nicht bedingungslos für die Gesundheit und das Wohl aller Lohnabhängigen – ungeachtet des Arbeitsvertrags, des Berufs, der Herkunft – einsteht, ist eigentlich keine Gewerkschaft mehr.

  • Stellungnahme des SGB vom 9. Dezember 2020:

https://www.uss.ch/fileadmin/redaktion/201209_Brief_BR_Stellungnahme_neue_Schutzmassnahmen.pdf

  • Stellungnahme des Verbands der Pflegefachfrauen und -männer (SBK) vom 10. Dezember 2020

https://www.sbk.ch/files/sbk/Aktuell/covid_19/Warnruf_der_Ethikkommission_des_SBK.pdf

https://www.srf.ch/news/schweiz/sgb-chefoekonom-im-interview-daniel-lampart-statt-lockdown-bei-schutzkonzepten-nachbessern

Auf dem Bild: SGB Präsident Pierre-Yves Maillard, 1. Mai 2020

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