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Wofür blutet die Ukraine?

Eingereicht on 2. April 2022 – 11:32

Willi Eberle. Der Krieg in der Ukraine hat unglaublich schnell nicht nur die internationalen politischen Kräfteverhältnisse an den Tag treten lassen. Seit dem 24. Februar 2022 ist auch die Schwäche der Linken offensichtlich: diese schlägt sich in ihrer grossen Mehrheit implizit oder gar explizit auf die Seite des russischen Aggressors oder – viel häufiger – auf diejenige des US-Imperialismus. Nur ein Blick in die neuere Geschichte mit den Instrumenten des revolutionären Marxismus erlaubt ein Entrinnen aus diesen beiden Fallen des Lagerdenkens.

Der Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar ist in erster Linie eine Reaktion auf die in Aussicht gestellte Aufnahme der Ukraine in die Nato und die Einflussnahme des US-Imperialismus in die inneren politischen Prozesse in der Ukraine. Unverzüglich schlossen sich die Reihen innerhalb des Imperialismus und die europäischen Staaten standen stramm vor ihrem Hegemon, dem US-Imperialismus. Viele, auch «radikale», Linke ordneten sich sofort ein in einen Diskurs «Alle gegen Russland», oft aus einer Solidarität mit dem ukrainischen Volk. Doch was ist das ukrainische Volk angesichts des seit 2014 andauernden Bürgerkrieges um die russischsprachigen Gebiete im Donbas? Andere Linke solidarisieren sich reflexartig mit Russland. Wir denken, alles Lagerdenken oder Campismus, ob nun zugunsten des Imperialismus oder zugunsten von Russland, zwischen deren Fronten die Ukraine nun blutet, ist sehr problematisch. Die Ukraine wird vor allem seit ca 2018 als Speerspitze des Imperialismus in diesem schon lange bestehenden Konflikt benutzt, als «Stachel im Unterleib Russlands», wie es Scott Ritter, der ehemalige UN-Waffeninspektor, der die Lügen des angelsächsischen Imperialismus um angebliche Massenvernichtungswaffen des Irak aufdeckte, vor wenigen Wochen ausdrückte. Dabei spielte die hochgeschaukelte Dynamik des Bürgerkrieges um den russischsprachigen  Donbas eine zentrale Rolle. Wie in allen ehemaligen Sowjetrepubliken, so entlud sich auch in der Ukraine ein antirussisches Ressentiment wegen dem grossrussischen Chauvinismus der ehemaligen sowjetischen stalinistischen Bürokratie.

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion von 1991 bewahrheitete sich die Prognose Trotzkis aus den 1930er Jahren, dass dem Stalinismus nur zwei Wege offen stünden: entweder ein brutaler Rückfall in den Kapitalismus oder aber eine sozialistische Revolution. Um letzteres zu verhindern, dafür haben die Stalinisten seit den 1930er Jahren mit aller Kraft gesorgt, gerade auch gegen Ende der 1980er Jahre angesichts der grossen Arbeiter:innenaufstände im Donbas, in Leningrad und im Ural. In den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden die ex-Sowjetrepubliken mehrheitlich im Rahmen von neoliberalen Marktreformen durch die Oligarchen und westliche Firmen geplündert. Insbesondere Russland und noch stärker die Ukraine, vor allem im Donbas, gerieten in eine Abwärtsspirale bezüglich Lebensqualität und die Arbeiter:innenklasse verarmte. Russland hat heute ein pro-Kopf Einkommen, das etwa 1/8 und die Ukraine eines, das etwa 1/20 des Wertes in der Schweiz beträgt, wobei zusätzlich berücksichtigt werden muss, dass beide Länder aufgrund ihres Clan-Kapitalismus und einer starken Vetternwirtschaft und Korruption eine noch ausgeprägtere Ungleichverteilung aufweisen als die Schweiz.

Die reaktionäre neoliberale „Schocktherapie“ und der Zusammenbruch von 1998 haben weite Teile der aufstrebenden Mittelschicht v.a. in Russland, aber auch in der Ukraine in den Ruin getrieben. Dies hat eine starke Rechtsentwicklung befeuert, da keine Arbeiter:innenbewegung der unheilvollen Abwärtsentwicklung entgegentreten konnte. Die Demokratie, von der die Mittelschicht träumte, brach mit der Bombardierung des russischen Parlaments im Oktober 1993 zusammen. Und schliesslich sah sich Russland, anstatt friedlich in die Gemeinschaft der Nationen integriert zu werden, einem unerbittlichen militärischen und wirtschaftlichen Druck seitens seiner „westlichen Partner“ ausgesetzt. Die Versprechungen, die Russland bezüglich einer Nichterweiterung der Nato gegeben wurden, erwiesen sich als wertlos. Jeder Versuch Russlands, seine unabhängigen Interessen geltend zu machen, wurde mit Wirtschaftssanktionen und militärischen Drohungen beantwortet.

In Form der Ukraine-Krise steht Russland nun den tragischen und potenziell katastrophalen Folgen der Auflösung der Sowjetunion gegenüber. Putin versucht seit etwa 15 Jahren, diese Krise durch Massnahmen zu überwinden, die durch und durch reaktionär und politisch bankrott sind. Die Kriege, die seit 2008 in Georgien, Libyen, Syrien, Ukraine, in Zentralafrika u.a.O. geführt werden, sind ebenso verroht, wie diejenigen der USA und der Nato. Es ist bezeichnend, dass Putin seine Kriegsrede vom 24. Februar damit begann, Lenin, die Oktoberrevolution und die Gründung der UdSSR anzuprangern. Ironischerweise liegt Putin mit seinem Hass auf den Marxismus und den Bolschewismus ganz auf einer Linie mit seinen Feinden in der Nato.

Die Nato und insbesondere die USA haben in den vergangenen 30 Jahren weltweit so viele Kriege geführt, dass die russische Bevölkerung und deren korrupte politische Führung durchaus Anlass haben, sich ob der Nato-Osterweiterung, insbesondere durch deren Vordringen in die Ukraine bedroht zu sehen. Die aggressive Gangart der Biden-Administration und deren Unterstützung durch viele europäische Nato-Staaten geben den Befürchtungen weitere Nahrung, dass sich die sogenannte «Ukraine-Krise» eigentlich gegen Russland richtet und die Ukraine dem US-Imperialismus als Speerspitze gegen Russland dient. Berichte über entsprechende Planspiele in US-amerikanischen Regierungsstellen um 2018/2019 und die darauffolgende Eskalation des Konfliktes um die Donbas-Region (Scott Ritter; John J. Mearsheimer) bestätigen dies. In der Nato rechnen die offiziellen Kreise mittlerweile mit der zunehmenden Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Konflikts, der schnell zur Zerstörung eines grossen Teils von Europa und Russlands führen könnte. Man erinnert sich dabei an die Planspiele in der Reagan-Administration in der ersten Hälfte der 1980er Jahre, wo offen über einen lokal begrenzten Atomkrieg gegen Russland in Europa gesprochen wurde…

In der Tat haben sich die Reihen innerhalb des Imperialismus nach dem 24. Februar sofort hinter dem Hegemon des US-Imperialismus geschlossen, wie die Fragen der Sanktionen, die Frage der Waffenlieferung, die militärische Aufrüstung und die Kriegsrhetorik und -politik gegen Russland zeigten; ja, die Erdgaspipeline Nordstream 2, ein Gemeinschaftsprojekt zwischen Deutschland und Russland, wurde von der deutschen Regierung gehorsamst auf Eis gelegt, wie dies von den USA seit Jahren erfolglos gefordert wurde.

Nach 1991 hat sich der Konflikt zwischen russisch sprechenden Regionen (v.a. Donbasregion und Krim) verschärft, nachdem 1991 das Russische als Amtssprache abgeschafft wurde. Gleichzeitig bauten sich rechte Kräfte auf, deren Wurzeln teilweise bis weit in die dreissiger Jahre zurückreichen (Rechter Sektor, UON, UNSO, Svoboda, C 14, u.a.). Stepan Bandera, der Führer der ukrainischen Nazis im Zweiten Weltkrieg, und deren Ruf Slava Ukraini, sind heute weitherum akzeptiert. Diese Strömungen und deren Ausläufer in die rechte «Mitte» waren spätestens ab dem Putsch von 2014 entscheidende politische Kräfte und sind seit dann in den staatlichen Institutionen, gerade auch in der Armee, gut vertreten. Sie stellen, z.B. mit dem Asow-Regiment eine wichtige Stütze der Armee im Krieg in der Ostukraine und nun gegen Russland. Die Regierung Selenskyi, selbst ein Produkt dieser Rechtsentwicklung, verbietet und verfolgt linke Oppositionsbewegungen, ähnlich wie Putin in Russland. Die Ukraine ist das Land der ex-Sowjetunion, in dem sich die neoliberalen Strukturanpassungen der 1990er Jahre und nach 2010 besonders verheerend ausgewirkt haben. Die Ukraine gehört heute zu den ärmsten Ländern der Welt.

Zweifelsohne ist Russland ein spezielles kapitalistisches Land, ist aber weiterhin eine Regionalmacht: es verfügt, wie die Ukraine, als ein typisch halbkoloniales Land über ein riesiges Reservoir an Bodenschätzen und grosse fruchtbare landwirtschaftliche Anbauflächen. Seine industrielle Struktur ist auf den Rüstungssektor konzentriert, daneben aber gibt es nur eine schwache industrielle Tiefenstruktur, so dass die Voraussetzungen fehlen, in der imperialistischen Strategie der Wertschöpfungsketten Fuss zu fassen. Geschweige denn, dass die Bemühungen um den Aufbau einer internationalen Einflusszone, oft mit brutalen militärischen Aktionen aber auch durch Subventionen, eher kostspielig sind – so wurden der Ukraine bis 2014 die Gaspreise um 30-Prozent verbilligt. Das heisst, es gibt kaum einen Mehrwerttransfer ab diesen Ländern nach Russland, wie dies für imperialistische Länder sonst typisch ist, ausser als Renten aus den Rohstoffverkäufen an die – oft im Westen lebenden – Oligarchen und den Staat. Russland hat unter Putin seit ca 2008 seine militärische Karte genutzt, um sich international Respekt zu verschaffen, steht traditionell aber selbst im Visier des Imperialismus wegen seiner riesigen Territorien, seinen natürlichen Reichtümern und seit ca 2008 zunehmend auch wegen den sich verstärkenden Bestrebungen, China einzukreisen. Russland ist mit der Oktoberrevolution aus dem Imperialismus ausgeschieden – seither gelang es der herrschenden Clique nicht, sich in dessen zentralen Strukturen einflussreich zu positionieren; die – vorläufig – weiterbestehende Präsenz in internationalen Institutionen ist ein Produkt der Nachkriegsordnung. Russland hat aktuell ausserhalb des Gebietes der ehemaligen Sowjetunion nur vier Militärbasen in Syrien, die USA unterhält weltweit ungefähr 1.100, einige davon mit Foltergefängnissen, z.B. in Rumänien, in Polen und im Kosovo. Schliesslich ist die militärische Stärke mit der grossen Atombewaffnung eine der «vergifteten» Perlen, die vom Stalinismus 1991 an den russischen Staat und die Oligarchie übergeben wurde. Diese militärische Stäke hat in Russland nach wie vor ein hohes Ansehen, hat die Sowjetunion doch mit über 30 Millionen Kriegsopfern die Hauptlast des Krieges gegen Nazideutschland getragen.

Der Hauptfeind sitzt im eigenen Land, wie Karl Liebknecht einst beim Ausbruch des ersten Weltkriegs 1914 bemerkte. So werden nun überall in Europa, auch in der Schweiz, die Ausgaben für Rüstung und Militär in Blitzentscheiden stark erhöht. In der Schweiz sollen 2 Mrd mehr ausgegeben werden für die Armee, 1/3 mehr als bisher. Das erforderliche Geld soll bei eher «weichen» Budgetposten geholt werden, wie Bildung, Entwicklungshilfe, Sozialausgaben, Flüchtlingspolitik, …. Hier gilt es einen Kampf zu entwickeln gegen Militarismus, Chauvinismus, für höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten, gegen Rassismus, gegen Repression, für ein gutes, egalitäres Gesundheitssystem. All dies in einem Umfeld, wo mehrere grosse Krisen zusammentreffen, wie die Klimakrise, die Zerstörung der weltweiten Wasserversorgung und Artenvielfalt, die Gesundheitskrise um die verschiedenen Seuchen wie Pocken, Corona, Ebola, Malaria, die wachsende Hungerkrisen v.a. in Afrika und Teilen Vorderasiens wie etwa in Afghanistan, die allgemeine politische Rechtsentwicklung, die zunehmende Ausweglosigkeit einer schweren weltweiten ökonomischen Krise, wie die wachsende Inflation auch in den imperialistischen Zentren anzudeuten scheint. In diesem Kampf stehen wir dem selben Feind gegenüber, wie die Arbeiter:innenklasse Russlands und der Ukraine. Dieser Feind versucht, die Kosten für Krieg, Sanktionen und Krise auf die Schultern der Arbeitenden abzuwälzen. Der Aufbau einer Bewegung für den Sozialismus muss hier ansetzen und nicht Hilfe erwarten von der Pest des US-Imperialismus oder von der Cholera des bankrotten russischen Regimes.

Forderungen

Forderungen von politischen Organisationen haben den Sinn, die eigene Einschätzung und die Perspektiven an die Öffentlichkeit zu bringen. Nicht, dass sie unmittelbar realisierbar wären. In diesem Sinne, aufgrund der obigen kurzen Einschätzung folgende Forderungen:

  1. Sofortiger Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine
  2. Sofortiger Abzug alles Nato-Militärpersonals aus der Ukraine und Osteuropa
  3. Sofortige Auflösung der Nato und der von Russland angeführten OVKS
  4. Offene Flüchtlingspolitik für alle Kriegsflüchtlinge, wie im Fall der Ukraine
  5. Wiederaufbau der Ukraine durch die Weltbank (alternativ: durch Russland und die USA)
  6. Gleichstellung des Russischen mit dem Ukrainischen in der Ukraine
  7. Stärkung der Selbstorganisierung der Arbeiter:innenklasse weltweit

Zu den Quellen: Es gibt eine sehr grosse Anzahl konsultierter Quellen. Wichtig für uns sind u.a. die linken Websites Klasse gegen Klasse und andere Organe der FT-CI, World Socialist Web Site, Lower Class Magazine, TheDuran, Consortium News, International Bolshevik Tendency, weekly worker, workers world, socialist action und Referate von verschiedenen politischen Intellektuellen und Journalist:innen auf youtube wie Vladimir Pozner, Scott Ritter, John J. Mearsheimer, Alexander Mercouris, Richard Wolff, Patrick Lancaster, George Galloway, Lara Logan, u.v.a.

#Bild: Menschen in den Überresten eines durch Bomben zerstörten Einkaufszentrums in Kiew am 21. März 2022 (AP Photo/Rodrigo Abd; Quelle: wsws.org…)

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