Das Paradigma der israelischen Protestbewegung
Moshe Zuckermann. 2011 – 2020 – 2023. Worum ging es in den israelischen Protestbewegungen der letzten Jahre? Wo lagen (und liegen) ihre Grenzen?
In Israel agierten in den letzten fünfzehn Jahren drei größere Protestbewegungen. Im Jahr 2011 protestierten die Massen einen Sommer lang gegen die hohen Lebenshaltungskosten. Zwischen Juni 2020 und Mai 2021 demonstrierte man gegen den der Korruption, des Betrugs und der Veruntreuung angeklagten Premierminister Benjamin Netanjahu, der trotz seines Prozesses auf sein Amt beharrte. Seit drei Wochen demonstriert nun eine Bürgermasse gegen die von Netanjahu gebildeten Koalitionsregierung, die droht, die letzten Reste der formalen Demokratie Israels zu zerstören. Um die Strukturlogik dieser Demonstrationswellen zu beleuchten, sei hier auf den “israelischen Sommer” von 2011 eingegangen, um daraus einige Einsichten in die beiden anderen Protestwellen zu extrapolieren.
Ausgehend von einer Protestinitiative einiger weniger junger Menschen auf der gutbürgerlichen Rothschild-Allee im Zentrum Tel-Avivs, kam im Sommer 2011 in kurzer Zeit eine flächenbrandartig sich ausbreitende Massenprotestbewegung zustande, die sich in einer die gesamte Allee besetzende Zeltreihe formierte, welche ihrerseits eine täglich anschwellende Zuwanderung, sehr bald auch eine nicht abreißende Medienpräsenz verbuchen durfte.
Mit großem Staunen registrierte man, wie sich charismatische FührerInnen dieser spontanen Bewegung durch prägnante Organisations- und Koordinationsaktivität hervortaten; eine Debatten, Diskussionen und Aktionen generierende politische Subkultur sich an den Orten des Protestgeschehens heranbildete, mithin weitere Zeltzentren in anderen Städten sich niederließen, sodass die etablierte Politik aufhorchte und sich bald schon in Zugzwang sah. Denn was mit einer winzigen Protestbewegung begonnen hatte, kulminierte nach wenigen Wochen in stetig anwachsenden Massenkundgebungen an Wochenenden – in der bislang größten gingen rund 400.000 Menschen auf Israels Straßen. Die Regierung reagierte durch die Bildung eines Ausschusses, der in Zusammenarbeit mit Vertretern der Protestbewegung deren (systematisch aufgelisteten) Forderungen zusammentragen und für institutionalisierte Entscheidungsfindungen der jeweiligen Ministerialgremien bearbeiten sollte.
Protest der deklassierten Mittelschichten
Worum ging es in der Protestbewegung? Die Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten, denn viele, teils heterogene Gruppen mit verschiedenen Ansprüchen und Forderungen beteiligten sich an ihr. Wagt man aber dennoch die Benennung eines kennzeichnenden gemeinsamen Nenners (oder zumindest den der dominanten Gruppen innerhalb der Bewegung), so geht man wohl nicht fehl mit der Behauptung, es handle sich um eine zivilisierte Empörung des israelischen Mittelstands.
Man lasse sich nicht dadurch beirren, dass der Skandierungsrhythmus des Hauptslogans in den Aufmärschen und Kundgebungen („Das Volk fordert soziale Gerechtigkeit!“) dem der Parolenrhythmen auf dem Kairoer Tahrir-Platz glich. Das dürfte die einzige Affinität zu den umstürzlerischen Ereignissen in den benachbarten Ländern gewesen sein. Was man mit „sozialer Gerechtigkeit“ meinte, hat entsprechend nicht viel gemeinsam mit dem ökonomischen Aufschrei verarmter Millionen in Ägypten. Da die israelische Wirtschaft der Jahre vor der Protestbewegung, im Gegensatz zu einigen europäischen Ländern, positive Zahlen, Zuwachs und Fortschritt verzeichnen durfte, handelte es sich bei den emphatischen Sommerprotesten primär um eine Verteilungsfrage: Ein eigentlich nicht schlecht verdienender Mittelstand sah sich außerstande, die Lebenshaltungskosten des von ihm beanspruchten Lebensstandards zu bewältigen.
Es ging um unhaltbare Miet-, Lebensmittel-, Kinderbetreuungs-, Bildungs-, Erziehungs- und andere Kosten des „normalen guten Lebens“, die nicht zuletzt deshalb nicht mehr bezahlt werden konnten, weil der von Benjamin Netanjahu seit Jahren geförderte (und ideologisch vertretene) Turbokapitalismus den israelischen Sozial- und Wohlfahrtsstaat nahezu ausgehöhlt bzw. schon in den Kollaps getrieben hat. Noch nie waren die sozial-ökonomischen Klüfte in Israels Gesellschaft, welche sich einst durch relative Egalität auszeichnete und dieses Attribut auch als Gesinnungsfaktor ihres Selbstbildes rühmte, so groß wie damals (und heute noch). Nicht aber die deutlich verarmten Klassen waren Träger der bisherigen Protestbewegung, sondern die zunehmend deklassierten Mittelschichten, die sich der Erosion ihres mittelständischen Wohllebens „plötzlich“ ausgesetzt sahen – und sich gegen diese emphatisch aufbäumten.
Kapitalismus war kein Thema
Aber das, was die auf Konsens ausgerichtete Erweiterung der Protestbewegung begründete, setzte ihr zugleich auch die inhaltlichen Grenzen. So beeindruckend sich die großen Massen zu aktivieren begannen; so anrührend, ja bewegend sie sich zum unignorierbaren Protestkollektiv formierten, und so erstaunt man das dramatische Schauspiel einer aus apathisch scheinender Lethargie erwachten Menschenmasse registrieren durfte, so war auch unverkennbar, was in diesen Wochen des sozialen Aufschreis ausgespart blieb.
Da war zum einen der Kapitalismus kein Thema, das man auch nur im geringsten zu hinterfragen gedachte. Zwar thematisierte man mit gebührender populistischer Empörung die monströse Machtakkumulation der Tycoons, die mittlerweile große Teil der israelischen Wirtschaft in ihrem Griff haben, forderte auch ihre massive Besteuerung und regulierte Machteinschränkung. Aber alle ökonomischen Maßnahmen, die man (unter Beratung kompetenter fachlicher Kräfte) auf die lange Liste assertiver Forderungen an die Regierung (bzw. dem von ihr eingesetzten Ausschuss) setzte, nahmen sich aus, als wolle man lediglich die Steinchen eines festgefügten Mosaiks ein wenig verschieben bzw. umstellen, ohne aber das Mosaik als solches bzw. die ihm zugrunde liegende Anordnungslogik infrage zu stellen.
Die reformerische Ausrichtung der Forderungen indizierte deutlich, dass es nicht um Systemkritik, schon gar nicht um fundamentale Systemkritik ging, sondern um die Modifikation dessen, was in seiner Grundstruktur und deren Logik die Misere erst eigentlich generiert hatte – und immer wieder generieren muss. Von Netanjahu und seinem Umfeld anfangs beschuldigt, radikale Linke zu sein, die lediglich auf seinen Sturz aus seien, fühlten sich die Führer der Bewegung auf Pressekonferenzen und anderen medialen Verlautbarungen bemüßigt hervorzuheben, dass sie keine Kommunisten, ja nicht einmal Sozialisten seien, sondern nur einfache Bürger, die auf ihr Recht auf „soziale Gerechtigkeit“ pochten. Über den Wirkzusammenhang von System und Krise, von Gesellschaftsstruktur und sozialer Ungerechtigkeit verloren sie keinen Gedanken, und wenn er hier und da doch auftauchte, wurde er schleunigst verdrängt bzw. bewusst beschwiegen – man wollte eben to eat the cake and have it.
Okkupation und Siedler wurden ausgeblendet
Zum zweiten achtete die Führung der Protestbewegung von Anbeginn darauf, dass die israelische Besatzung der palästinensischen Gebiete im Rahmen der Protestaktivitäten ja nicht zum Thema erhoben werde. Man wollte, wie es hieß, die soziale Empörung nicht „politisieren“. Was sich dabei für einen europäischen Linken abstrus anhören mag (eine Massenbewegung von 400.000 Menschen auf Israels Straßen, die „soziale Gerechtigkeit“ fordert, als „nicht politisch“ zu apostrophieren), hat seine spezifische israelische Bewandtnis: Unter „Politisierung“ versteht man hierzulande die Unterteilung in Parteizugehörigkeit bzw. -affinität hinsichtlich der Einstellung zur Okkupation und zum Siedlungswerk. Als „links“ gelten Friedensbewegte, die einen territorialem Kompromiss mit den Palästinensern, mithin die baldige Gründung eines souveränen palästinensischen Staates anstreben. Für „rechts“ erachtet man jene, die sich solcher Bestrebung ideologisch widersetzen.
Die soziale Linke hat in Israels politischer Kultur weitgehend ausgespielt, seitdem sich die Parteien, die sich historisch linker gesellschaftlicher Sicht und sozialer Politik verschrieben hatten (allen voran die Arbeitspartei), im Zuge der rigiden Neoliberalisierung der israelischen Ökonomie des historischen Auftrags, der ihre politische Raison d’être ausgemacht hatte, entledigten. Es war bezeichnend, dass Shelly Jachimovitsch, die damalige Vorsitzende der Arbeitspartei, die sich seit Jahren als genuine Vertreterin einer konsequenten sozialdemokratischen Ausrichtung aufs Sozial-Ökonomische hervorgetan hat, sich über den perennierenden israelisch-palästinensischen Konflikt und dessen Lösung beharrlich ausschwieg, um auf der Höhe der Protestbewegung in einem viel beachteten Interview mit der Tageszeitung „Haaretz“ zu verkünden, die Besatzung beschäftige sie nicht sonderlich, sie empfinde gar eine gewisse Empathie für die Siedler und dergleichen mehr an politisch rechtsgerichtetem Gedankengut.
Yachimowitsch war Symptom: Ihr sich abzeichnender parteilicher Erfolg, der von der Massenprotestbewegung stark profitierte, war das parteiliche Spiegelbild der Haltung der Protestbewegung. Dass diese dabei meinte, dies taktisch tun zu sollen, um die Anhänger der Bewegung nicht durch die Debatte über das israelische Besatzungsregime und das Siedlungswerk zu spalten, bezeugte, wie wenig die Bewegungsführung sich klarzumachen bereit war, dass die Okkupation nicht nur ein völkerrechtliches und moralisches, sondern auch ein gravierendes ökonomisches Problem darstellt, mithin in engem kausalem Nexus mit dem steht, wogegen die Bewegung sich empörte. Man kann schlechterdings nicht „soziale Gerechtigkeit“ fordern und zugleich ein vom eigenen Land betriebenes brutales Okkupationsregime hinnehmen, ohne dabei zutiefst ideologisch zu werden.
Grenzen des Protestes
Zum dritten konnte die Regierung, gegen deren Politik sich die Protestbewegung empörte, von einer für sie beruhigenden Gewissheit ausgehen: Die Demonstranten würden keine der nationalen Konsensgrenzen überschreiten, kein Tabu brechen. Das alte, gewitzte Diktum, in Deutschland des 19. Jahrhunderts habe keine bürgerliche Revolution gelingen können, weil es verboten war, den Rasen zu betreten, spiegelte sich als eine Art mentalen Pendants in Gesinnung und Aktionsausrichtung des „israelischen Sommers“ wider.
Exemplarisch manifestierte sich dies in zwei Punkten: strikte Verhinderung von Gewaltanwendung seitens der Protestierenden und Einhaltung des unhinterfragbaren Zivilgehorsams im Hinblick auf nationale „Prioritäten“. Als es zu Beginn der Proteste zum Gerangel zwischen Polizei und Demonstranten kam, waren es die verprügelten Demonstranten, die, im Fernsehen danach befragt, die Polizisten symbolisch umarmten und sich mit ihnen (als deren Interessenvertreter) verbrüdern wollten. Und als der Vorsitzende der israelischen Studentenvereinigung Itzik Shmuly, prominenter Führer der Protestbewegung, gefragt wurde, was er tun würde, wenn man ihn während der rasanten Sturmtage des Protestes zum militärischen Reservedienst beorderte, zögerte er keine Sekunde lang zu deklarieren, er würde seine Sachen sofort packen, um in der Armee seine Pflicht zu erfüllen.
Dass genau das eine der Regierung zur Verfügung stehende Trumpfkarte sein dürfte, konnte – wie bestellt – erprobt werden, als es nach einem mörderischen Terroranschlag an der Südgrenze Israels zum Gegenschlag des israelischen Militärs und zur letalen Kollision mit ägyptischen Streitkräften in der Sinai-Halbinsel kam. Eine für jenes Wochenende ausgerufene Massendemonstration wurde sofort abgeblasen, und in den Medien war nichts von Protesten zu hören und zu sehen. Nicht von ungefähr begann das kritische Feuilleton zu spekulieren, es sei nicht auszuschließen, wenn die „Sicherheitsfrage“ als probates Mittel zur Eindämmung von zivilem Aufstand funktionalisiert werden kann, dass man gegebenenfalls für „Brenzligkeit“ an den Grenzen sorgt.
Vom israelischen Sommer zum israelischen Winter
Was also war der „israelische Sommer? Eines war er gewiss nicht: Er war keine Revolution, ja nicht einmal eine Rebellion. Denn weder trachteten seine Träger, Systemstrukturen aufzubrechen, noch wollten sie die etablierte politische Macht stürzen. Der „israelische Sommer“ war eine bemerkenswerte Protestbewegung von (in Israel) nie gekanntem Ausmaß. Als solche mag sie indizieren, dass es den Massen um noch etwas anderes ging als um Mietpreise und Lebenshaltungskosten, etwas, dessen sich diese Massen und ihre Führer noch nicht bewusst waren bzw. sich noch nicht zu artikulieren getrauten: Die Bekundung eines tiefen Unbehagens an der Sackgasse, in die sich Israel manövriert hat.
Eine Sackgasse ist es allerdings, aus der man nicht herauskommt, ohne das Festgefahrene in Außen- wie Innenpolitik zugleich mit den sozial-ökonomischen Strukturen und ihren Auswirkungen auf die Bevölkerung resolut anvisieren und angehen zu wollen. Es könnte sonst zu einem horrenden “israelischen Winter” mit fatalen Folgen kommen – so konnte man damals schon denken. Nicht ausgeschlossen, dass diese grauenerfüllte Vorahnung einen Großteil der israelischen Bevölkerung bereits erfasst hatte und umtrieb. Die Protestbewegung des Sommers von 2011 könnte, so besehen, nur die Spitze eines Eisbergs gewesen sein.
Nun, der “israelische Winter” ist offenbar inzwischen angekommen. Der Faschismus ist in Israel real, nicht nur als Metapher angelangt. Die Anti-Netanjahu-Protestbewegung von 2020-2021 hielt zwar beharrlich durch, bis es zum zwischenzeitlichen Fall Netanjahus kam, ohne aber eine existenzfähige Alternative zu seinem Regime anzubieten. Das Koalitionskonglomerat von Naftali Bennett und Yair Lapid, das ihm folgte, stand von Anbeginn auf wackligen Beinen; der Begriff des “Prothesengottes” kommt in den Sinn. Nicht von ungefähr zerfiel diese heterogene Parteienmelange sehr schnell.
Über die beeindruckenden Demonstrationen der letzten zwei Wochen lässt sich noch nichts Definitives sagen. Dass sich einige Berufssektoren den Protesten anschließen – Juristen, Ärzte, Ökonomen und die Universitätsführungen etwa –, indiziert, dass der Kampf diesmal in Streiks und Boykotts münden könnte. Netanjahu dürfte das ängstigen, denn die Bestreikung der israelischen Wirtschaft würde sich zweifellos katastrophal auswirken. Andererseits ist aber Netanjahu von seinen Koalitionspartnern vollkommen abhängig (es geht ihm ja darum, das Justizsystem so zu schwächen, dass er seinem eigenen Prozess entrinnen kann), und diese Partner – seine “natürlichen Verbündeten”, machttrunken wie noch nie – denken gar nicht daran nachzugeben. Sie insistieren auf die in den Koalitionsverträgen festgelegten Forderungen und Ansprüchen.
Man geht bei der jetzigen Demonstrationswelle “taktisch” vor: Das Okkupationsthema wird außen vor gelassen. Ein Meer von Israelfahnen überschwemmt die Protestaktivitäten; das geringste Schwenken von Palästinafahnen, welches den Anteil der israelischen Araber an den Demonstrationen indizieren und die Besatzung ins Gespräch bringen soll, wird hingegen strikt unterbunden. Und doch geht es dabei um mehr als nur Taktik: Wie bereits 2011 und 2020-21 ist das Aussparen dessen, was letztlich das zentrale Problem der gesamten israelischen Politik ausmacht – das über 50 Jahre währende Okkupationsregime und der ungelöste Konflikt mit den Palästinensern – keine randständige Nebensache, sondern die Essenz der israelischen Politik, wenn man will: eine von keinem relevanten Teil der israelischen Politlandschaft hinterfragte Absichtserklärung. Von Kapitalismuskritik kann ohnehin nicht mehr die Rede sein; dafür fehlt im jetzigen Zeitgeist der reale historische Anker. Dass allerdings die Okkupation und ihre Auswirkungen nicht mehr thematisiert werden, bezeugt nur zu deutlich, wo Grenzen aller hier erörterten Demonstrationswellen liegen: im zionistischen Paradigma. Und diese Grenzen dürfen auf keinen Fall überschritten werden. Das Schwenken der israelischen Fahnen ist, so besehen, Omen. Der Elefant im Zimmer wird immer unsichtbarer.
#Bild: Protest gegen Netanjahu-Regierung am 14. Januar in Tel Aviv. Bild: CC0
Quelle: overton-magazin.de… vom 29. Januar 2023
Tags: Aegypten, Arabische Revolutionen, Arbeitswelt, Neoliberalismus, Palästina, Rassismus, Repression, Widerstand, Zionismus
Neueste Kommentare