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Die Ukraine ist nicht Vietnam

Eingereicht on 13. Juli 2023 – 9:07

Nathaniel Flakin. Was ist der Klassencharakter des Krieges in der Ukraine? Einige Sozialist:innen sehen ihn als einen nationalen Befreiungskrieg gegen den russischen „Imperialismus“ und unterstützen daher die Ukraine. Dadurch stellen sie sich aber auf die Seite der westlichen Imperialismen. Sozialist:innen brauchen eine unabhängige Position.

Der Krieg in der Ukraine hat die Linke mehr gespalten als jedes andere Ereignis der letzten Jahrzehnte. Während sich ukrainische und russische Soldaten in den Schützengräben gegenüberstehen, führt die internationale Linke ihre eigenen Krieg: ein Krieg der Analogien.

Ist der Ukraine-Krieg mit dem Vietnamkrieg vergleichbar? Ist der Kampf der Ukraine wie der Kampf Chinas während des Zweiten Weltkriegs? Oder ist die Ukraine doch eher wie Belgien oder Serbien im Ersten Weltkrieg? Durch Vergleiche versuchen sich Menschen die Welt zu erklären – Marxisten sind da keine Ausnahme. Wie Leo Trotzki sagte,

„Die Nichtanwendung von Analogien mit Revolutionen früherer Jahrhunderte würde einfach bedeuten, dass man die Erfahrungen und Lehren der Menschheit nicht zunutze ziehen will. Der heutige Tag unterscheidet sich immer vom gestrigen. Aber man kann vom gestrigen Tag nicht anders lernen als nach der Methode der Analogien.“

Wir haben uns von Anfang an konsequent sowohl gegen Putins reaktionären Einmarsch in die Ukraine als auch gegen die NATO gestellt. Denn dies ist ein Krieg zwischen Kapitalist:innen, mit US-Imperialist:innen auf der einen und russischen Oligarchen auf der anderen Seite. Sie sind bereit, Zehntausende ukrainische und russische Soldaten in den Tod zu schicken, um so ihre Profite und ihren geopolitischen Einfluss zu vergrößern. Die Arbeiter:innenklasse hat in diesem Krieg nichts zu gewinnen. Im Gegenteil: Nur durch den Widerstand gegen alle kapitalistischen Regierungen kann die Arbeiter:innenklasse dem Blutvergießen mit ihrem revolutionären Kampf ein Ende setzen. Wie Trotzki schon 1938, als die Ukraine von der stalinistischen Unterdrückung zerschlagen wurde, sagte, kann eine freie und unabhängige Ukraine nur mit „völliger Unabhängigkeit der proletarischen Partei als Avantgarde der Arbeiter“ gewonnen werden.

Während wir sagen: „Weder Putin noch NATO!“, argumentiert ein anderer Teil der Linken, dass die Ukraine einen nationalen Befreiungskrieg gegen einen imperialistischen Aggressor führt, ähnlich wie die antikolonialen Kämpfe des zwanzigsten Jahrhunderts. Dies ist die Position von Gruppen wie Tempest und Workers Voice. Und gibt es auch die breite Übereinstimmung, dass Sozialist:innen nationale Befreiungskriege unterstützen sollten. Seit der Gründung der Kommunistischen Internationale im Jahr 1919 war es für Sozialist:innen klar, dass alle Kämpfe gegen Imperialismus bedingungslos unterstützt werden sollten, auch wenn sie von reaktionären Kräften geführt werden.

Von Hanoi und Saigon …

Es gibt durchaus einige historische Beispiele, in denen eine antikoloniale Bewegung Waffen von einer konkurrierenden imperialistischen Macht erhalten hat. Im Vorfeld des Osteraufstandes von 1916 versuchten die irischen Republikaner beispielsweise, von Deutschland Waffen für ihren Kampf gegen das britische Empire zu erhalten. Wladimir Lenin verteidigte diesen Aufstand als völlig legitim, trotz der Verbindungen zum deutschen Kaiser. Es gibt noch viele andere Beispiele dafür, dass Marxist:innen das Recht, von einem gegen den Imperialismus kämpfendem Volk, Waffen von überall herzubekommen, verteidigen.

Im letzten Jahr hat die US-Regierung Waffen im Wert von mehreren Milliarden Dollar nach Kiew geschickt. Nun würden Waffenlieferungen der NATO an sich Sozialist:innen nicht daran hindern, die Kriegsanstrengungen der Ukraine zu unterstützen. Aber die entscheidende Frage bleibt dennoch: Werden diese Waffen für einen gerechten Befreiungskrieg geliefert?

In der Zeitschrift Tempest argumentiert Nate Moore, dass „in den USA lebende Sozialist:innen trotz der durch die russische Invasion ausgelösten zwischenimperialistischen Dynamik nicht gegen Waffenlieferungen für die Ukraine sein sollten“. Moore zählt mehrere Fälle auf, in denen antikoloniale Bewegungen Waffen von ausländischen Mächten erhielten, darunter der Vietnamkrieg: „Während des Vietnamkriegs lieferten die UdSSR und China, die miteinander und mit dem US-Imperialismus konkurrierten, Waffen an die Vietnamesen, um die USA zu bekämpfen. Obwohl es sich um unterdrückerische Staaten handelte, traten die Sozialisten des Dritten Lagers nicht dafür ein, die Lieferung von Waffen an den vietnamesischen Widerstand zu verhindern.“

Und das ist wahr: Sozialisten in aller Welt riefen zu „Waffen für den Vietcong“ auf, d.h. für die Nationale Befreiungsfront, die gegen die pro-imperialistische Marionettenregierung in Südvietnam kämpfte. Selbst Sozialisten, die gegen die stalinistischen Führer der Sowjetunion und Chinas waren, jubelten den vietnamesischen Befreiungskämpfern zu.

Diese Analogie hat jedoch einige schwerwiegende Einschränkungen. Der Vietcong war eine Massenbewegung von Bauern und Arbeitern unter der Führung einer mit Moskau verbündeten stalinistischen Partei. Diese Stalinist:innen hatten bereits die Großgrundbesitzer und Kapitalist:innen im nördlichen Teil ihres Landes enteignet. Der Krieg gegen die US-Besatzungstruppen im Süden fand breite Unterstützung in der Bevölkerung, da es sich eben nicht nur um einen Kampf um die formale Unabhängigkeit handelte. (Südvietnam war schließlich technisch gesehen ein unabhängiges Land.) Sie kämpften für die Befreiung von der imperialistischen Ausbeutung. Diese überwältigende moralische Kraft ist der Grund, warum eine Bauernarmee den größten imperialistischen Militärapparat der Welt besiegen konnte.

Die Kriegsanstrengungen Vietnams wurden von der Sowjetunion und in geringerem Maße von der Volksrepublik China unterstützt. Moore schreibt, dass es sich um „unterdrückerische Staaten“ handelte, was zwar stimmt, aber das ist auch sehr ungenau. Die Sowjetunion war aus der proletarischen Revolution von 1917 hervorgegangen. Da der neue Arbeiter:innenstaat isoliert war, hatte eine Bürokratie unter Stalin die Arbeiter:innenklasse in einer blutigen Konterrevolution politisch enteignet. Doch die wirtschaftlichen Grundlagen einer sozialistischen Gesellschaft – Planwirtschaft, Außenhandelsmonopol usw. – blieben bestehen. Die Volksrepublik China hingegen war aus einem revolutionären Kampf der Bauernschaft hervorgegangen. In China führten die Stalinisten von Anfang an eine bürokratische Planwirtschaft ein. Die daraus resultierende Gesellschaft ähnelte der der Sowjetunion, aber es gab keine Arbeiter:innenräte, die die Stalinist:innen hätten zerschlagen müssen.

Um diese widersprüchlichen Gesellschaftsformationen zu verstehen, sagen wir, dass UdSSR und die China degenerierte und deformierte Arbeiter:innenstaaten waren. Im Laufe ihrer Geschichte haben diese Staaten Eroberungskriege geführt. Aber das war kein „Imperialismus“ im marxistischen Sinne des Wortes. Imperialismus ist nicht nur Kriegstreiberei – er ist vielmehr eine Form der internationalen Ausbeutung, die auf der Notwendigkeit des Finanzkapitals nach ständiger Expansion beruht. In der UdSSR und in China gab es kein Finanzkapital. Die Kriege, die diese Staaten führten, dienten dem Schutz der Interessen der herrschenden Bürokratien, die von den Planwirtschaften abhängig waren. Deswegen unterstützen sie den Vietnamesischen Kampf zum Rauswurf des Imperialismus und zur Enteignung der Großgrundbesitzer.

… nach Kiew und Donetsk

Passiert heute etwas Vergleichbares in der Ukraine? Die Regierung Selenskyjs kämpft nicht für die Befreiung der Ukraine von imperialistischer Ausbeutung. Ganz im Gegenteil: Ihr erklärtes Ziel ist es, das Land in imperialistische Bündnisse wie die NATO und die EU zu integrieren. Die rechte Regierung schafft Gesetze ab, die Arbeiter:innen und Bauern schützen, damit so imperialistische Konzerne das Land besser ausschlachten können.

Der Kontrast könnte nicht größer sein: Der Vietcong kämpfte für die Enteignung der Großgrundbesitzer im Interesse der Bäuer:innen. Selenskyjs Regierung kämpft für die Enteignung von Kleinbäuer:innen im Interesse der landraubenden multinationalen Agrarunternehmen. Es ist kein Zufall, dass die Sowjetunion den Vietcong unterstützt hat, während der US-Imperialismus Selenskyj unterstützt. Es hat was mit dem Klassencharakter dieser Gesellschaften zu tun.

Die Vietnamesen haben gegen den Imperialismus gekämpft. Die ukrainische Armee kämpft für den Imperialismus. Aus diesem Grund ist die politische Dynamik der beiden Kriege sehr unterschiedlich. In Vietnam wurden Massen von Menschen zu Kommunisten (leider von der stalinistischen Sorte). In der Ukraine hingegen haben die faschistischen Kräfte stark zugenommen, während die meisten linken Parteien verboten wurden. Die Siege der Vietnamesen haben den Imperialismus für das folgende Jahrzehnt geschwächt; die Teilsiege der ukrainischen Kräfte haben die NATO gestärkt und die westlichen Militärhaushalte massiv erhöht.

Hätte Genosse Moore seine Logik auf Vietnam angewandt, hätte er sich wahrscheinlich nicht mit der stalinistisch geführten Regierung im Norden, sondern mit der pro-imperialistischen Regierung Südvietnams solidarisiert. Der Marionettenstaat im Süden behauptete, die „Demokratie“ gegen den „Totalitarismus“ zu verteidigen, und zwar im Bündnis mit dem US-Imperialismus. Selenskyj hat viel mehr mit Ngo Dinh Diem gemeinsam als mit Ho Chi Minh.

Ein Anti-Imperialistischer oder ein Pro-Imperialistischer Krieg?

In mehr als einem Jahr des Ukraine-Krieges haben wir gesehen, wie die imperialistische Unterstützung die rechte Regierung Selenskyjs gestärkt und ihr erlaubt hat, neoliberale Angriffe gegen Arbeiter:innen und Bäuer:innen durchzuführen. Die Ukraine ist heute nichts weiter als ein Protektorat des US-Imperialismus, und selbst wenn sie einen überwältigenden Sieg gegen Russland erringen könnte, würde der Haushalt des Landes über die Auslandsschulden, den IWF und ähnliche Instrumente von Washington kontrolliert werden. Moore bestreitet nicht, dass dies die Dynamik des letzten Jahres gewesen ist.

Dennoch behauptet er, dass dieser Krieg zur Unterwerfung der Ukraine unter den westlichen Imperialismus irgendwie in einen Befreiungskrieg umgewandelt werden kann: „Eine implizite Annahme der Position „Stoppt die US-Waffen“ ist, dass die Ukraine nicht in der Lage sein wird, dem US-Imperialismus entgegenzutreten, weil die bisher erhaltene Hilfe die Position des US-Imperialismus und seine Kontrolle über den ukrainischen Staat übermäßig gestärkt hat. Damit wird nicht nur eine ungewisse Zukunft vorausgesagt, sondern, was noch schlimmer ist, wenig Vertrauen in den Kampf des ukrainischen Volkes zum Ausdruck gebracht – eine bevormundende und herablassende Haltung gegenüber einer Nation, die die russischen militärischen Erfolge seit der Invasion umgekehrt hat.“

Das ist völlig falsch. Wir haben großes Vertrauen in die Kampfkraft der ukrainischen Arbeiter:innenklasse. Wir glauben, dass das ukrainische Proletariat einen Kampf für echte Unabhängigkeit führen kann – was nicht nur bedeuten würde, die russischen Invasionstruppen zurückzuschlagen, sondern auch mit der NATO und ihren Lakaien durch die Verstaatlichung des imperialistischen Kapitals zu brechen. Moore hingegen scheint zu glauben, dass eine Ukraine als formal unabhängiger, halbkolonialer Vasallenstaat der NATO ein Ziel ist, für das es sich zu kämpfen lohnt. Wahre „Selbstbestimmung“ wird es in einem kapitalistischen Staat niemals geben.

In seinem gesamten Artikel reduziert Genosse Moore alle Klassen in der Ukraine mit ihren antagonistischen Interessen und alle nationalen Gruppen auf ein einziges „ukrainisches Volk“. Ein Oligarch, der hofft, durch Handelsabkommen mit der EU Milliarden zu scheffeln, ist anscheinend dasselbe wie ein armer Rentner, der sich ein Ende der Bombardierung wünscht. Ein paramilitärischer Nazi, der mit in den USA hergestellten Raketenwerfern bewaffnet ist, ist dasselbe wie eine trans Frau, die aus dem Land fliehen möchte. Moore hat überhaupt nichts über eine bedeutende Minderheit in der Ukraine zu sagen, die Russland vorzieht – sie sind vermutlich vom „ukrainischen Volk“ ausgeschlossen, für das er zu sprechen vorgibt.

Waffen oder keine Waffen?

In diesem Krieg halten wir an einem langjährigen sozialistischen Prinzipien fest: „Kein Mensch und kein Cent für den Militarismus!“ Das bedeutet, dass wir auch Waffenlieferungen von NATO-Ländern an die ukrainische Regierung ablehnen, genauso wie wir Putins reaktionäre Invasion ablehnen. Wir haben gezeigt, dass die Arbeiter:innen die Kriegsmaschinerie stoppen können, im Hinblick auf die Aktionen der Arbeiter:innen in Griechenland und Weißrussland.

Die Regierung Bidens gibt nicht aus Sorge um die Demokratie Milliarden für Waffen aus. Dies passiert als Teil einer imperialistischen Strategie, die darauf abzielt, Russland und schließlich China zu schwächen. Imperialismus, wie er von Marxisten verstanden wird, beschränkt sich nicht auf militärische Manöver. Der US-Imperialismus kontrolliert die Ukraine mit politischen und finanziellen Mitteln. In dieser Frage haben wir keine Differenzen mit Genosse Moore: „Die USA haben natürlich imperiale Interessen in diesem Konflikt. Durch Waffen und Hilfsgüter für die Ukraine hoffen sie, ihre Position gegenüber Russland langfristig zu stärken.“

Moore schreibt jedoch, dass es sich (noch) nicht um einen zwischenimperialistischen Konflikt handelt, da „die USA und die NATO nicht in die Ukraine einmarschiert sind“. Seine Schlussfolgerung ist, dass wir uns nicht gegen unsere „eigene“ Regierung stellen müssen. Stattdessen argumentiert er, dass wir uns der Politik der Biden-Administration mit ihren ständig wachsenden Waffenlieferungen „nicht widersetzen“ sollten. Moore fährt fort: „Bedeutet die Unterstützung von US-Waffenlieferungen für die Ukraine, dass wir den US-Staat ausdrücklich auffordern sollten, Waffen zu liefern? Nein. Das überlassen wir den Ukrainern. Unsere Aufgabe ist es, ihrer legitimen Selbstverteidigung nicht in die Quere zu kommen.“

Wir sollen also nicht zu Waffenlieferungen aufrufen – aber wir sollen sie auch nicht ablehnen. Wir sollen die Politik des Weißen Hauses neutral (passiv unterstützend?) begleiten. Wenn es Moore aber ernst ist mit der Unterstützung der Forderungen des „ukrainischen Volkes“ meint, dann muss er sehen, dass die meisten Ukrainer:innen die Waffenlieferungen der NATO befürworten. Viele selbstbezeichnende Sozialist:innen in der Ukraine bitten Leute wie Moore, Druck auf die NATO-Regierungen auszuüben, damit diese mehr Waffen liefern. Warum sollte er eine solche Bitte ablehnen? Wenn er der Meinung ist, dass diese Waffen eine fortschrittliche Rolle haben, sollte er sich offen für sie einsetzen.

Sozialist:innen und Waffen

Die International Workers League (LIT-CI), die internationale Tendenz der US-Gruppe Workers Voice, ist hier zumindest konsequent: Ihre Unterstützung für den „ukrainischen Widerstand“ kennt keine solchen Grenzen. Sie fordern den US-Imperialismus offen dazu auf, die Waffenlieferungen zu erhöhen – neben modernen Panzern fordern sie auch Kampfjets. Man fragt sich: Warum nicht auch Atomwaffen, Genoss:innen von der LIT-CI? Das würde die russische Invasion sicherlich bremsen.

Die LIT-CI tut so, als ließe sich eine grundsätzliche Ablehnung der NATO mit der Unterstützung der zentralen NATO-Politik des letzten Jahres verbinden – als könne man eine Erhöhung der Militärausgaben für die ukrainische Armee (die hofft, so bald wie möglich der NATO beitreten zu können) bejubeln und gleichzeitig irgendwie gegen die NATO sein. Während wir Bernie Sanders und andere „Sozialist:innen“ in der Demokratischen Partei schon immer dafür kritisiert haben, dass sie für den US-Militäretat stimmen, müsste ein hypothetischer LIT-CI-Vertreter im US-Kongress an der Seite von Demokrat:innen und Republikaner:innen dafür stimmen, dass noch weitere Milliarden an die Rüstungsindustrie fließen.

Diese Genoss:innen geben vor, dass sie nicht die Regierung Selenskyjs unterstützen, sondern einen mythischen „ukrainischen Widerstand“, der unabhängig von Selenskyj und der NATO ist. In mehreren Erklärungen konnten sie nicht sagen, wer einen solchen Widerstand bilden könnte. Die einzigen Kräfte vor Ort sind die ukrainische Armee und Milizen unter strenger Kontrolle der Regierung – die einzigen Gruppen, die irgendeine Art von Autonomie haben, sind die Nazis!

In einer anderen Erklärung – einer Polemik mit Gilbert Achcar, der ähnliche Vorbehalte wie Moore hat sich für immer größere Waffenlieferungen einzusetzen – schrieb die LIT-CI:

„Wir halten es für absolut richtig, zu mobilisieren, um von allen Regierungen (auch denen der NATO-Mitgliedsländer) Waffenlieferungen an den ukrainischen Widerstand zu fordern.“

Mobilisieren für weitere Waffenlieferungen? Wir stellen fest, dass Workers‘ Voice, die sympathisierende Sektion der LIT-CI in den USA, eine solche Kampagne nicht aufgegriffen hat. Sie veröffentlichen im Allgemeinen nicht viele Artikel der LIT-CI über die Ukraine auf ihrer Website und scheinen sich vor der Idee zu schämen, eine Kampagne zur Unterstützung von Bidens Politik zu führen. Es ist positiv, dass Workers‘ Voice die Positionen der LIT-CI hier ignoriert. Für uns Internationalist:innen ist dieses errötende Schweigen über ihre internationale Organisation jedoch diplomatisch und entpolitisierend. Workers‘ Voice sollte offen sagen, warum die LIT-CI hier falsch liegt und dass sie keine derartige Kampagne durchführen werden, um damit das Weiße Haus zu ermutigen, seine Politik fortzusetzen und zu verschärfen.

Totalität

In seinem Nachwort von 1967 zu seiner Studie über Lenins Denken hob Georg Lukács die Kategorie der „Totalität“ als Schlüssel zum Leninismus hervor: „Es ist die Totalität, die den Weg zum Klassenbewusstsein, das auf die revolutionäre Praxis gerichtet ist, richtig weist. Ohne Orientierung an der Totalität kann es keine historisch wahre Praxis geben.“

Keiner der Sozialist:innen, die die Kriegsanstrengungen der Ukraine unterstützen, betrachtet die Gesamtheit. Sie wollen, dass wir diesen Krieg als einen Konflikt zwischen zwei ungleichen Staaten sehen – und nicht als Teil der wachsenden Spannungen zwischen den Großmächten in einer Zeit, in der die Hegemonie der USA schwindet. Mit anderen Worten, sie wollen, dass wir einen willkürlich definierten Teil des Krieges betrachten, getrennt von der Gesamtheit des globalen Imperialismus.

Empirisch gesehen ist das Humbug. Die Leaks aus dem Pentagon haben bestätigt, dass alle imperialistischen Großmächte in der Ukraine sehr aktiv sind, auch mit eigenem Militärpersonal. Die Offensiven der Ukraine werden in Washington geplant. Hier hat die LIT-CI eine besonders seltsame Position. Sie fragen, was passieren würde, „wenn die NATO Russland angreift“, und antworten wie folgt: „In dieser Situation müsste Russland verteidigt werden, denn das würde die Aggression der imperialistischen NATO gegen ein schwächeres und abhängigeres Land (Russland) bedeuten. Mit anderen Worten: Wir wären für die Niederlage der NATO.“

Sollten also US-Truppen auf russische Truppen schießen, würde sich die LIT-CI um 180 Grad drehen: Sie würde aufhören, Selenskyj zu unterstützen und sich sofort auf die Seite der russischen Streitkräfte stellen. Das Problem ist natürlich, dass es keine klare Linie zwischen imperialistischer „Unterstützung“ für die Ukraine und direkter imperialistischer Intervention gibt. Beide Positionen der LIT-CI, die Unterstützung für die Ukraine oder die hypothetische Unterstützung für Russland, sind falsch. Sie sind das Ergebnis eines extrem mechanischen Denkens, das die Gesamtheit der globalen Situation nicht versteht.

Serbien

Wie der Ukraine-Krieg hat auch der Erste Weltkrieg zu historischen Debatten in der marxistischen Linken geführt. Im Jahr 1914 gab es einen legitimen nationalen Befreiungskrieg des belgischen Volkes gegen einen unprovozierten deutschen Angriff und eine deutsche Besatzung. Auch Serbien führte einen nationalen Verteidigungskrieg gegen eine imperialistische Macht, Österreich-Ungarn, die es verschlingen wollte. Hätten Lenin und andere Marxist:innen versucht, einen dieser Teilkonflikte isoliert zu betrachten, hätten sie den Belgiern und Serben volle Unterstützung gewähren müssen. Aber sie erkannten, dass dies bedeutet hätte, sich auf die Seite der imperialistischen Alliierten zu stellen.

Wie die meisten Sozialist:innen heute zugeben würden, war der Erste Weltkrieg keine Reihe von isolierten nationalen Befreiungskriegen – er war ein globaler Konflikt zwischen imperialistischen Mächten. Sozialist:innen mussten für die Niederlage ihrer „eigenen“ Bourgeoisie kämpfen. Dazu gehörten die Sozialist:innen in Serbien, die sich mutig der „nationalen Verteidigung“ widersetzten, selbst als das „Vaterland“ von der Zerstörung bedroht war. Rosa Luxemburg lobte die serbischen Sozialist:innenen dafür, dass sie gegen die Kriegskredite stimmten. Diese Position macht nur Sinn, wenn wir die Gesamtheit betrachten.

Heute müssen sich die Sozialist:innen in den NATO-Ländern gegen ihre „eigenen“ imperialistischen Mächte stellen. Wenn die Spannungen zwischen den Großmächten zunehmen, wird es zu neuen Konflikten und Kriegen kommen – und jede imperialistische Macht wird versuchen, ihre Aggression im Namen von „Demokratie“ und „Selbstbestimmung“ zu präsentieren. Das war schon immer die Sprache der Kriegspropaganda.

Die Sozialist:innen müssen für eine unabhängige Position kämpfen. Das gilt auch für die Ukraine, wo die Sozialist:innen dafür kämpfen müssen, dass die Arbeiter:innenklasse zu einem unabhängigen politischen Faktor wird, mit der Perspektive, das Land sowohl von der NATO als auch vom russischen Imperialismus zu befreien. Dies ist der einzige Weg, um reaktionäre Kriege zu beenden.

Wir wollen die Genoss:innen in Tempest und Workers Voice, die mit den Positionen ihrer Organisationen unzufrieden sind – und wir respektieren diese Genoss:innen genug, um zu wissen, dass viele von ihnen sich mit der offiziellen Linie zutiefst unwohl fühlen – ermutigen diese Debatte zu führen.

Quelle: klassegegenklasse.org… vom 13. Juli 2023

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