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Chile: Pseudolinke Regierung beschwichtigt die extreme Rechte

Eingereicht on 13. September 2023 – 9:31

Mauricio Saavedra. Die pseudolinke chilenische Regierung von Präsident Gabriel Boric beging am 11. September den 50. Jahrestag des blutigen, von der CIA unterstützen Putsches von 1973 mit einer Zeremonie im Präsidentenpalast La Moneda. Am Tag des Putsches, der die gewählte Koalitionsregierung der Unidad Popular (UP) von Präsident Salvador Allende stürzte, war der Palast von Panzern und Kampfflugzeugen bombardiert worden. Allende starb während des Angriffs.

Mehrere lateinamerikanische Staatsoberhäupter, die mit der so genannten „Pink Tide“ (Rosa Flut) assoziiert werden, nahmen an der Zeremonie teil, darunter Andrés Manuel López Obrador (Mexiko), Gustavo Petro (Kolumbien) und Luis Arce (Bolivien). Weitere Gäste waren der derzeitige Präsident von Uruguay, Luis Lacalle Pou, und sein Vorgänger, der ehemalige Tupamaro, José Mujica, sowie der portugiesische Ministerpräsident Antonio Costa von der Sozialistischen Partei.

Die USA, die tief in die Vorbereitungen des Putsches einbezogen waren und das darauf folgende Blutbad unterstützt hatten, schickten nur den ehemaligen demokratischen Senator und Lobbyisten Christopher Dodd. Er wird mit der Rettung der Wall Street in Verbindung gebracht und wurde von Biden letztes Jahr zum „Sonderberater für Nord- und Südamerika“ ernannt.

Die Zeremonie war bemerkenswert, weil sämtliche rechten Parteien in Chile sie boykottierten und den Putsch öffentlich verteidigten. Gleichzeitig wurde eine weitere, vom Unterhaus des chilenischen Parlaments organisierte Gedenkveranstaltung für Allende anlässlich seines 50. Todestags von Mitgliedern der Union Democratica Independiente (UDI) gestört, die ebenfalls den Militärputsch unter Führung von General Augusto Pinochet rechtfertigen wollten. Der Rest der rechten Parteien boykottierte die Sitzung.

Die Boric-Regierung organisierte am Sonntag, den 10. September, eine Provokation: Bei dem traditionellen „Marsch der Gefallenen“ zum Hauptfriedhof, mit dem der Opfer der 17-jährigen Militärdiktatur gedacht wird, setzte sie die Spezialeinheit Carabineros ein.

Der Unterstaatssekretär im Innenministerium, Manuel Monsalve, erklärte: „Die Verantwortlichen für diese Gewalt sind Gegner der Regierung.“ Er machte sich mehr Sorgen um drei verletzte Polizisten als um die Hunderte von Demonstranten, die sich zu wehren versuchten, nachdem sie mit Tränengas und Wasserwerfern angegriffen worden waren.

Anfang der Woche traf sich die Regierung mit Menschenrechtsgruppen, denen sie mitteilte, dass der Weg zum Hauptfriedhof von der Polizei abgesperrt sein würde und nur Gruppen mit Genehmigung den abgesperrten Bereich betreten dürften. Wie sich herausstellte, diente das Fiasko dazu, Boric einen Fototermin mit den Angehörigen der Hingerichteten, Ermordeten und Verschwundenen zu verschaffen.

Dass für die Zeremonie am 11. September weitere 2.000 Carabineros und Spezialkräfte mobilisiert wurden zeigt, wie weit die derzeitige Regierung aus der stalinistischen Kommunistischen Partei, der pseudolinken Frente Amplio und der Partido Socialista nach rechts gerückt ist.

Die Boric-Regierung hat ihr Programm immer mehr an die politischen Erben des Pinochet-Regimes angepasst. Im Mittelpunkt der Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag stand die Vorstellung des Präsidenten von einer „gemeinsamen Vision“.

Vor zwei Jahren, während des Präsidentschaftswahlkampfs 2021, erklärte der damalige Kandidat Boric: „Herr [Ex-Präsident Sebastian] Piñera, Sie wurden gewarnt, Sie werden wegen schwerer Menschenrechtsverletzung während Ihrer Amtszeit strafrechtlich verfolg werden.“ Letzten Freitag lud Boric den ehemaligen Präsidenten nach La Moneda ein, um einen so genannten „demokratischen“ Pakt zu unterzeichnen, in dem sich alle Parteien verpflichten, „die Demokratie zu schätzen und zu pflegen und Menschenrechte uneingeschränkt zu respektieren“.

Piñera unterzeichnete, aber erst nachdem er seine eigenen Bedingungen gestellt hatte. Er verlangte insbesondere: „Respekt für die Verfassung und die Gesetze, Respekt für den Rechtsstaat… (und) unsere bedingungslose und absolute Ablehnung von Gewalt – und Gewalt hat viele Gesichter: politische Gewalt, wie wir sie am 18. Oktober 2019 erlebten, aber auch organisiertes Verbrechen, Drogenhandel, Terrorismus…“

Es sei daran erinnert, dass Piñera im Oktober 2019 den massiven antikapitalistischen Demonstrationen buchstäblich den „Krieg“ erklärt hatte. Er rief den Ausnahmezustand aus und setzte zum ersten Mal seit der 17-jährigen faschistisch-militärischen Diktatur von General Pinochet Truppen auf der Straße ein.

In den darauf folgenden Monaten wurden drei Dutzend Menschen vom Unterdrückungsapparat getötet, weitere 3.800 mussten wegen schwerer Verletzungen durch Schüsse, Tränengas und Schläge ins Krankenhaus. Von den 11.389 verhafteten Männern, Frauen, Jugendlichen und Kindern berichteten 2.146 über irgendeine Form von sexueller Gewalt, Folter und anderer grausamer, unmenschlicher und entwürdigender Behandlung sowie exzessiver Gewaltanwendung.

Im Jahr 2021 deckte Amnesty International auf, dass von den 10.813 Beschwerden wegen Menschenrechtsverletzungen, die bei der Staatsanwaltschaft eingingen, nur 14 Fälle zu Verurteilungen von Staatsbediensteten geführt haben. Laut der Ombudsstelle für Kinder führten von den mehr als 3.470 Fällen von Kindern und Jugendlichen, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden waren, nur zwei Fälle zu Verurteilungen.

Doch für Boric ist das alles Schnee von gestern. Er stimmte mit Piñera überein, dass es notwendig sei, Gewalt generell zu verurteilen, und erklärte: „Gewalt muss als demokratisches Werkzeug ausgeklammert werden.“ Damit setzte er die legitimen Bestrebungen von Millionen von Studenten und Arbeitern, welche die extreme soziale Ungleichheit beenden wollten, mit dem Massenmord und den Folterungen gleich, die von den bis an die Zähne bewaffneten repressiven Kräften verübt wurden, um den Kapitalismus zu verteidigen.

Als Annäherungsversuch an die ultrarechten und offen faschistischen Parteien, die ihre Unterschrift unter den Pakt verweigert hatten, weil die UP darin nicht ausdrücklich für den Putsch verantwortlich gemacht wurde, erklärte Boric: „Wir werden uns bemühen, dass wir uns alle, ohne Einwände, aber aus Überzeugung für die Zukunft, was das Wohlergehen unseres Heimatlandes betrifft, gemeinsam verpflichten, die Demokratie zu schätzen und zu pflegen und die Menschenrechte uneingeschränkt zu respektieren.“

Pagina 12 berichtete, die Absetzung von Patricio Fernández als Berater für die Gedenkveranstaltungen im Juli sei ein Wendepunkt für die Rechten gewesen, die „den Geist betonen, den er (Fernández) dem Datum verleihen wollte“.

Der „unabhängige Sozialist“ Fernández erklärte in einem Fernsehinterview, Pinochet und die Militärführung hätten den Putsch mit guten Absichten begonnen: „Ich glaube, die größte Herausforderung, vor der wir momentan stehen, ist, dass die Geschichte weiterhin darüber diskutieren kann, warum es passiert ist und was die Beweggründe für den Putsch waren… Wir könnten versuchen, uns zu einigen, dass die auf den Putsch folgenden Ereignisse in jedem zivilisatorischen Pakt inakzeptabel sind.“ Bereits in der Vergangenheit hatte er sich ähnlich geäußert.

Der Verband der Angehörigen von Verhafteten und Verschwundenen und der Verband der Angehörigen hingerichteter Politiker, die beide von der stalinistischen Kommunistischen Partei dominiert werden, sowie mehrere stalinistische Abgeordnete forderten seinen Rücktritt. Doch wie El País zu Recht feststellte, hat Fernandez nur die offizielle Haltung der Regierung wiedergegeben – zu der auch die Stalinisten gehören. Die Regierung ruft faktisch dazu auf, mit der positiven Interpretation des Putsches durch die Rechte zu koexistieren.

Die Bereitschaft der Regierung, den zutiefst autoritären und undemokratischen politischen Kräften entgegenzukommen, kann nicht überbetont werden. Die Pseudolinke und die Stalinisten sind beide Teil des Teams „Kapitalismus“, erfüllen aber im Rahmen einer politischen Arbeitsteilung unterschiedliche Funktionen. Die Stalinisten posieren als Hüter der „Menschenrechte“ und kritisieren regelmäßig die Rechten. Doch wenn der Kapitalismus bedroht wird, treten sie alle an, um ihn zu verteidigen.

Ein anschauliches Beispiel dafür ist der jüngste, von der Regierung unterstützte Gesetzentwurf, der von beiden Häusern des Kongresses verabschiedet wurde. Er kriminalisiert alle Formen von Landbesetzungen, einschließlich derjenigen von Obdachlosen, Schulbesetzungen durch Studenten, Besetzungen von Betrieben und Fabriken und Aktionen der indigenen Mapuche, die ihr angestammtes Land zurückfordern. Der Gesetzentwurf sieht nicht nur hohe Haftstrafen vor, sondern räumt den Eigentümern auch das Recht ein, zur Verteidigung ihres Privateigentums tödliche Gewalt anzuwenden.

Wie die WSWS bereits erklärt hat, haben Landbesetzungen auf dem Land wie auch in den Städten eine große Bedeutung. Sie wurden in den 1960ern und frühen 1970ern zu einem der revolutionären Konfrontationspunkte, und zwar gerade wegen des oligarchischen und reaktionären Charakters der chilenischen Bourgeoisie und ihrer historischen Unfähigkeit, auch nur die grundlegendsten demokratischen und sozialen Forderungen zu erfüllen. Heute bereitet Boric „legale“ Rechtfertigungen für die Unterdrückung vor, weil ein revolutionärer Ausbruch wegen der fundamentalen Fragen von Wohnungs- und Landbesitz erwartet wird. Der permanente Ausnahmezustand, unter dem das Militär gegen die marginalisierte Mapuche-Bevölkerung eingesetzt wird, die ihr angestammtes Land zurückfordern, ist Teil davon.

Das Gesetz gegen Besetzungen folgt auf eine ganze Reihe von Polizeistaatsgesetzen, die auch von den angeblich „linken“ Abgeordneten bewilligt wurden. Unter anderem erlauben sie dem Militär und der Polizei die Anwendung tödlicher Gewalt und bieten rückwirkend rechtliche Immunität vor Strafverfolgung. Zehn Carabineros wurden bereits in mehreren Fällen freigesprochen. Auch das Arsenal der militarisierten Carabinero-Polizei wurde ausgeweitet und dem Militär eine größere Rolle bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung eingeräumt. Das Militär kann mobilisiert werden, um „kritische Infrastruktur“ zu schützen, und den Streitkräften und der Polizei wurde erlaubt, Flüchtlinge, die versuchen die peruanische und bolivianische Grenze zu überqueren, mit Gewalt zurückzutreiben.

Was die Außenpolitik angeht, so veröffentlichte die Boric-Regierung eine unterwürfige Erklärung, in der sie der Biden-Regierung dafür dankte, letzten Monat zwei CIA-Akten vom 8. und 11. September freigegeben zu haben, die bestätigten, was jeder bereits wusste: dass die CIA das Weiße Haus umfassend über die Vorbereitungen und Durchführung des Putsches informiert hielt. Die chilenische Regierung behauptete, dass diese Geste – durch die zahlreiche weitaus belastendere Akten weiterhin geheim bleiben – die „Suche nach der Wahrheit fördert und das Engagement unserer Nation für demokratische Werte stärkt“.

Welche „demokratischen Werte“? Chile ist schließlich nur eines von einem Dutzend Staaten, die weiterhin unter der Aggression des US-Imperialismus leiden, darunter Regimewechsel, Mordkomplotte, Militärinterventionen, Invasionen und Kriege. Doch schon vor seinem Amtsantritt hat der ehemalige radikale Student Gabriel Boric seine Glaubwürdigkeit unter Beweis gestellt, indem er sich für Washingtons außenpolitische Ziele gegen Venezuela, Nicaragua und Kuba in der Region aussprach. Seit seiner Amtsübernahme hat er sich treu hinter Washingtons Kriegskurs gegen Russland gestellt.

Am 50. Jahrestag des Putsches sind die chilenischen Massen mit den gleichen grundlegenden politischen und wirtschaftlichen Bedingungen konfrontiert, die zum Staatsstreich geführt haben. Die Polizeistaatsmaßnahmen von Apruebo Dignidad dienen der Vorbereitung auf einen Ausbruch des Klassenkampfs und gewaltige soziale Erschütterungen in Folge der schweren Krise der Weltwirtschaft und ihrer Auswirkungen auf Chile.

#Titelbild: Der chilenische Präsident Gabriel Boric mit seinem mexikanischen Amtskollegen Andrés Manuel López Obrador im Palacio La Moneda in Santiago [Photo: Presidencia de Chile]

Quelle: wsws.org… vom 13. September 2023

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