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Eine kurze Geschichte des Grand Prix

Eingereicht on 19. Mai 2024 – 16:58

Roberto De Lapuente. Der diesjährige Eurovision Song Contest war ein Schaulaufen westlichen Wahnsinns. Der Wettbewerb wurde im Laufe der Jahre zu einem Sturmgeschütz der Wokeness umfunktioniert.

»What an amazing Show!« Diesen Satz hörte man auch dieses Jahr wieder – nämlich als die Punkte verkündet wurden. Traditionell lässt sich keiner der nationalen Punkteansager lumpen, wenn es um das Lob für die Show des Abends geht. Auch die Ausgabe in Malmö wurde langatmig belobigt. Heißen muss das indes nichts. Die Musik war, wie schon in den letzten zehn Jahren, nicht der Rede wert – böse Zungen behaupten, es sei nicht mal Musik. Eine lausige Europop-Nummer jagte die nächste. Die Interpreten fokussieren sich mehr auf ihre Aufmachung und Bühnenshow, als auf Gesang und Liedauswahl. Neu ist das nicht – aber in diesem Jahr war es besonders augenfällig.

Alles war extrem nonbinär und homosexuell, dazwischen tanzten auch noch Teufelsanbeter zu höllischer wie grottiger Musik. Dazu einige Skandale und Politika: Das war der ESC 2024. Gewonnen hat ein Mensch, der zwischen den Geschlechtern wandelt und ein schreckliches Puffärmelkleidchen trug – er oder sie trat für die Schweiz an. Das Stück, das die Person zum Besten gab, war angeblich ein nonbinärer Song. Vermutlich aus der Retorte – man hatte den Eindruck, man habe dergleichen schon mal gehört. Nur viel besser – und das war schon schlecht.

Der Eurovision Song Contest war mal ein Großereignis für Familien. Wie konnte es so weit kommen, dass er heute als total verkorkste Freakshow wahrgenommen wird?

Damals war‘s

Als ich ein Kind war, galt der Gesangswettbewerb als großes Familienereignis. Ich war wie elektrisiert davon, dass sich da Menschen aus aller europäischen Welt an einen Platz versammelten, um etwas Friedliches zu veranstalten. Die Shows waren schlicht inszeniert, meist stellte sich das Gastland in Einspielern vor. Die weite Welt: Sie kam da nach Hause in unsere oberbayerische Provinz. Bis heute erinnere ich mich, wie ich gebannt auf die Felder Flanderns starrte oder auf Windmühlen. So sah es also andernorts aus. Ich kannte nur meinen Großstadtweiler und den Norden Spaniens – und alles was dazwischenlag; denn ganz Gastarbeiter wie er war, fuhr mein Vater nur mit dem Auto zurück zur Familie in seine Heimat. Man sah auf diesen Reisen reichlich, aber anstrengend war das auch für uns Kinder. Oft waren es Hitzeschlachten, Klimaanlagen in Autos gab es da nur als Sonderausstattung, die mein Vater nicht hatte. Aber all das ist selbstverständlich eine andere Geschichte …

Die Interpreten traten im Regelfall mit Liedern an, die in ihrer Landessprache verfasst waren. Manchmal trugen sie sogar folkloristische Kleidung. Aber auch Popnummern wurden auf Norwegisch oder Schwedisch vorgetragen – später auch in Polnisch oder Russisch. In den Neunzigern kamen jene Länder dazu, die wir verächtlich »den Ostblock« nannten.

In jungen Jahren bedeutete der Grand Prix, wie wir den Wettbewerb seinerzeit nannten, dass ich eine lange Nacht vor mir wähnte. Alleine das war ein Ereignis. Rückblickend dauerte die Sendung nie so lange, wie sie heute dauert. Der ESC 2024 endete irgendwann gegen Ein Uhr nachts. Dauerten die Ausgaben in den Achtzigerjahren bis Mitternacht? Mir fehlt die Erinnerung. Das Herzstück war allerdings die Punktevergabe, da erwachte regelmäßig auch mein Vater aus seinem Dämmerzustand. Vorher frotzelte er entweder oder er schlief ein; manchmal schien er auch zu schlafen und schimpfte denn vor sich hin. Die Musik fand er grauenhaft – Scheiße, wie er es nannte –, schon ABBA mochte er nur bedingt. Aber ABBA war vor meiner Zeit. Die Songs selbst kümmerten mich auch wenig, in jenen jungen Jahren war ich noch nicht mal sonderlich musikalisch interessiert. Mir ging es um die Bilder, um Land und Leute, um das Gefühl des Abends.

Kaum wurde im Französisch-Englischen-Singsang mit Zahlen jongliert, rechnete mein alter Herr mit: Douze points pour le Royaume-Uni – natürlich kommentierte er auch, dass die Engländer ja einen ganz besonderen Scheiß abgeliefert hätten. Bekanntlich versteht man seine Eltern erst, wenn man selbst in ein gewisses Alter kommt. Heute weiß ich: Natürlich hatte er recht, schon damals war der ESC qualitativ beschränkt – und das ist eine freundschaftliche Beschreibung dieses qualitativen Notstandes.

Zwischen Bucks Fizz und Herreys: Das soll Kunst sein?

ESC sagten wir damals ja gar nicht, wie gesagt: Wir freuten uns auf den Grand Prix. Mich verwirrte als Kind, dass man seinerzeit auch noch von Grand Prix sprach, wenn schmächtige Männer in seltsam längliche Rennboliden stiegen – Formel 1 hieß das. Was haben Lieder mit dem Autorennen zu tun? Und Formel Erst war auch eine ARD-Musiksendung, die Peter Illmann moderierte. Okay, das ergab vielleicht doch wieder Sinn. Übrigens: Sinn machen – so sagten wir damals auch nicht. Etwas war sinnvoll oder sinnlos. Sinn machen, das kam aus Amerika: It makes sense to you? Aber auch das, ich gebe es zu, ist eine völlig andere Story …

Mein Altvorderer hatte ganz richtig erkannt, wie lausig die Nummern waren, die zu den Wettbewerben geschickt wurden. Nehmen wir nur Bucks Fizz, eine britische Band, die bunt gekleidet Gute-Laune-Musik tirilierte – heute findet man das vielleicht Retro, aber eigentlich war der Song ein Ärgernis. Gewonnen hat Bucks Fizz dennoch. Ebenso wie die schrecklich unrhythmischen jungen Herren, die sich Herreys nannten und aus Schweden kamen. Diggi-loo Diggi-ley hieß der Song – mehr muss man nun wirklich nicht wissen. Außer vielleicht, dass auch sie gewannen. 1984 nämlich. An die Herren in bunten Hemden mit aufgestellten Kragen erinnere ich mich noch schemenhaft. Und nein, früher war nicht alles besser.

Erstmals wurde der Grand Prix Eurovision de la Chanson 1956 veranstaltet. Erster Austragungsort: Lugano. Die Schweiz galt als neutrales, als friedfertiges Land inmitten Europas. Und genau das sollte der Wettbewerb sein: Ein friedliches Fest. Dabei war es anfangs keine Festivität, wie wir uns das heute vorstellen. Die vorgetragenen Stücke waren schwerfällig, ja schwermütig geradezu. Guckt man sich bei YouTube eine der vielen Galerien der Eurovision-Gewinner an, bekommt man recht schnell ein Gefühl dafür, wie sich die Musik im Laufe der Jahrzehnte verändert hat innerhalb des Wettbewerbes. Das bedeutet auch, dass es immer Diskussionen über den schlechten Geschmack gab – denn vorher hatten sich die Interpreten noch ganz anders benommen. Sie sagen biedere Stücke und putzten sich in Abendgarderobe heraus.

Als ich den Grand Prix für mich entdeckte, waren Schulterpolster schon längst der letzte Schrei auf der Bühne. Sie Songs waren hymnisch, sie wurden geschrien. Alles war ganz schmierig vor stilisierter Emotion. Es ging um Liebe und Lebensfreude, ganz selten wurde es schwerfälliger. Als ABBA ein Jahrzehnt vor meinem Interesse an dem Wettbewerb mit Waterloo gewann, dauerte es fast noch eine Dekade, bis die schwedische Band mit Songs wie The Winner Takes It All auch erwachsene Musik lieferte – in Großbritannien wurden ABBA nach dem Sieg bei Eurovision Song Contest immer wieder für ihre seichten Texte kritisiert.

Von Eurovisió zu Jurowischn: Englischer – und uniformer

Die Briten nannten den Wettbewerb auch damals schon Eurovision Song Contest. So hieß er im englischsprachigen Raum von Anbeginn an. In Deutschland nutzte man die französische Form – und zwar bis ins Jahr 2001. Aus dem Gro Pri, der Eurovisió wurde der Jurowischn Song Contest. Als man namentlich wechselte, dachten viele in Deutschland, dass die Bezeichnung für den Contest neu sei. So gebräuchlich war die französische Form! Für mich hatte der Wettbewerb mit französischer Bezeichnung immer etwas Feineres, kulturell Ambitionierteres. Auf Englisch klang alles gleich wie McDonalds oder Pizza Hut.

2001 war ich schon kein Kind des ESC mehr. Der Wettbewerb wurde mir peinlich. Nicht mal wegen Guildo Horn, den fand ich sogar noch unterhaltsam. Aber der Contest versuchte sich eine Weltläufigkeit zu geben, die nicht mehr authentisch wirkte. Sicher, noch immer drangsalierte Ralph Siegel ganz Europa mit seinen Beiträgen, das hatte sich damals noch nicht geändert. Stefan Raab sollte bald folgen. Aber nun sangen so gut wie alle Englisch – tat es einer in seiner Muttersprache, salbaderten die Bedenkenträger, dass er sich damit in eine nachteilige Position bringe: Man verstehe ihn ja nicht. Das hatte vorher kaum jemanden gestört, Musik war eine Sprache für sich, man verstand viel auch ohne dezidierte Sprachkenntnisse. Nun setzte eine Gleichschaltung ein.

Es macht nun mal einen Unterschied, ob eine spanische Interpretin auf Spanisch von einer leidenden Liebe erzählt oder ob sie es im Englisch mit starken Akzent tut. Auf Spanisch spürt man den Jammer, den Schmerz auch in der Aussprache – eine starke Akzentuierung lässt eine leidende Frau im Liebeskummer stolzer und anmutiger erscheinen. Das Klischee von der stolzen Spanierin: Hier hat es seinen Ursprung. Auf Englisch, in dieser Sprache der Trader und Businessmen, wirkt alles recht abgebrüht, ja ein bisschen so, als wolle man einem gleich einen Staubsauger andrehen. Englisch ist viel banaler, was vielleicht an den vielen kurzen Worten liegt. Das mag nur meine Betrachtung sein, sie hat fürwahr keine Allgemeingültigkeit, was ich aber sagen will ist: Die Gleichschaltung hin zum englischen Beitrag ist nicht nur ein oberflächlicher Prozess gewesen, sondern auch ein emotionaler. Der Grand Prix wurde ärmer, vermittelte nur noch adaptierbare Gefühle, die von Portugal bis Russland und später Australien verständlich sein sollten.

Noch Anfang der Neunzigerjahre waren die Beiträge diverser. Der Fall des Eisernen Vorhanges war auch Sujet mancher Beiträge. Politische Botschaften waren auch seinerzeit nicht erlaubt. Aber wieso nicht über das vereinte Europa singen, wie es Toto Cutugno 1990 tat? Der Italiener war in seiner Heimat damals schon ein gefeierter Star. Immer wieder wagten prominentere Musiker den Sprung auf die ESC-Bühne – später riet man ihnen ab: Eine schlechte Platzierung konnte der Karriere einen schweren Schlag verpassen. Ab 1997 gestattete die Europäische Rundfunkunion (EBU), die den Grand Prix seit jeher veranstaltet, auch Votings zuzulassen, bei denen die Zuschauer die Punkte verteilen – bis dahin war dies ausschließlich Jurys vorbehalten. Diese »Demokratisierung« machte es seriöseren Beiträgen schwieriger – und schreckte prominente und gestandene Musiker ab.

Der Liebling der Schwulen

Das Publikum änderte sich ohnehin im Laufe der Jahre. In den Achtzigern saßen noch Familien vor dem Fernseher. Wie meine Familie auch, versammelten sich auch die Familien vieler meiner Freunde samstags in ihren Wohnzimmern, um dem europäischen Großereignis beiwohnen zu können. Damals waren solche Sendungen, die den ganzen Kontinent zeitgleich erreichten, auch noch ein anderes Spektakel als in späteren Jahren. Im Laufe der Neunzigerjahre zog die Spaßgesellschaft in den Wettbewerb ein. Guildo Horn war einer der Vorreiter. Im Jahr seiner Teilnahme, 1998 war das, gewann Israel den Contest: Mit einer Transsexuellen. Dana International ihr Name.

Natürlich war das Thema in den Gazetten. Und das schon im Vorfeld. Dass da jemand mitmachte, der sein Geschlecht geändert hat, galt als Sensation. Eine politische Botschaft hat man in jenen Jahren nicht damit verbunden. Das alles kam erst später. Damals kam ich zu einem Büchlein über den Eurovision Song Contest, ich weiß nicht mehr, wie es hieß und wer es geschrieben hat. Darin las ich erstmals etwas darüber, dass der Wettbewerb viele Schwule anspreche. Auf den vielen Seiten des Buches befassten sich gerade mal nur zwei mit diesem Thema. Kam daher der Glitter? Warum war mir das vorher nie aufgefallen?

Im Laufe der kommenden Jahre öffnete die Spaßgesellschaft auch den Eurovision Song Contest für Trivialisierung und Banalisierung. Die Bühnenshows wurden opulenter – das klingt positiv, meint aber: Überall blinkte und blitzte es, Pyroeffekte hier, Animationen folgten später. Der Song selbst rückte sukzessive in den Hintergrund. Dementsprechend lau wurden die Nummern, Lichtblicke gab es kaum noch. Alles klang gleich, aufeinander angepasst. Interpreten aus Aserbaidschan klangen so wie die aus Irland – die Iren hatten in den Neunzigerjahren den Wettbewerb dominiert. Auch mit leisen Nummern, die nicht unbedingt Meisterstücke waren, aber zeigten: Aus der Retorte musste ein Siegersong nicht sein. Authentisch war in diesen Jahren, da der Wettbewerb globalistischer wurde, immer weniger. Der ESC wurde zu einem Produkt, zu einer Ware.

Das Publikum am Austragungsort sah anders aus als in meiner Kindheit. Damals waren das bürgerliche Menschen, die nach einem Song klatschten, oft lautstark Freudenrufe ausstießen – aber nun saßen da Leute, die den ESC als genau diese Ware sahen und sich darum ein Lebensgefühl strickten. Oft waren es nun dezidiert schwule Männer, die man in der Austragungshalle sah. Sie waren wild angezogen, trugen Accessoires bei sich, wedelten wie wild mit Flaggen – nationalen wohlgemerkt, die Regenbogenfahne kam in den letzten zehn Jahren hinzu. Vorher sah man sie nur vereinzelt.

Politisierung des Unpolitischen

Der Eurovision Song Contest war plötzlich für ein Publikum interessant geworden, dass die kapitalistische Logik von der Vermarktung aller Lebensbereiche verinnerlicht hatte. Dort sah man zunehmend Menschen, die wenig vom eigentlichen europäischen Geist des ESC wussten oder auch nur ahnten, die »das Feiern« marktkonform institutionalisierten und ja – es konsumierten. Daher ist es wenig verwunderlich, dass der Wettbewerb von jenen Botschaften geflutet wurde, die wie eine Ware gehandelt werden im politischen Bewusstsein unserer Zeit: Jenen identitätsthematischen nämlich – von der Wokeness, wie man heute sagt.

Die Diversität ist ja kein politisches Bekenntnis, auch wenn man das dieser Tage immer wieder betont – Medien und Politik werden nicht müde, immer wieder zu erklären, dass das die zentrale politische Frage der Zeit sei. Aber in Wirklichkeit lässt sich die Wokeness nicht als Politik begreifen. Sie ist Lifestyle – und damit ein emotionaler und mentaler Warenwert. Sie handelt mit Bewusstsein, blendet das Sein aber aus. Als Haltung kann man sie verkaufen wie Marlboro-Zigaretten: Als Freiheitssimulation. So eine »Ersatzpolitik« war wie gemacht für einen Wettbewerb, der unpolitisch sein sollte.

Die EBU will seit jeher keine politischen Statements auf der Bühne. Diese Regelung stammt aus einer Zeit, da der Wettbewerb die Völker zusammenbringen sollte – und nicht spalten. Wie man an der Weihnachtstafel mit Tanten, Onkeln und Großeltern Politik meidet, damit der Abend nicht im Fiasko endet, so war man der Auffassung, dass Politik am Abend des Grand Prix besser ausgeschlossen gehörte. Man kann das so sehen – muss man aber nicht. Die Wokeness ist aber an sich unpolitisch, sie ist ein Handelsgut für den individualistischen Lebensstil des Westens. Daher konnte man sie beim ESC auch zulassen. Die EBU bestätigt mit ihrer seltsamen Zurückhaltung bei vermeintlich politischen Auftritten mit Regenbogenflagge nur, dass sie das nicht als politisch motiviert ernstnimmt. Sie sagt also damit auch, gewollt oder ungewollt: Wokeness ist keine Politik, sie tut nur so.

Heute schaue ich mir den Contest nicht mehr an. Aber ich habe letzte Woche abends reingezappt. Da war der Rückblick der Songs zu sehen, drei Sekunden aus jedem Stück. Es war eine verlorene Lebensminute. Dann gab es die Punkte, ich konnte mich nicht losreißen, dachte an meinen längst verstorbenen Vater – als Nostalgie eignet sich der ESC noch für mich. Kurz danach sah man die Interpreten immer in dem Moment, da sie twelve points bekamen. Sie rasteten aus, herzelten herum, Küsschenküsschen und Umarmungen mit anderen: Alles wirkte aufgesetzt, die Freude als Ware, die man dem Publikum andrehen will. Ich schaltete ab, ging ins Bett: Ma chambre – douze points.

Quelle: overton-magazin.de… vom 19. Mai 2024

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