Der unaufhaltsame Abstieg der brasilianischen PT
Wie konnte es dazu kommen, dass die Rechten – dazu noch in ihrer übelsten Form – wieder solch ein Gewicht im rasilianischen Parlament bekommen konnten?
Die Erklärung dafür ist in der Regierungs- und Koalitionspolitik der PT selbst zu suchen.
Tárzia Maria de Medeiros und João Machado. Bereits bei seiner siegreichen Präsidentschaftskampagne 2002 hatte Lula – ganz im Unterschied zu den vorherigen Kampagnen – auf eine Allianz mit Teilen des brasilianischen Großkapitals gesetzt: Vizepräsident wurde José de Alencar von der offen bürgerlichen Liberalen Partei und Besitzer einer der größten Textilkonzerne des Landes. Lula gab eine Garantieerklärung ab, dass er Banken und Unternehmen unangetastet lassen und „bestehende Verträge respektieren“ würde. Folgerichtig gab es Wahlspenden seitens der Großunternehmen, die weit höher als bei den vorigen Kampagnen lagen. Die PT legte dabei auch ihr kämpferisches Profil aus den vorigen Wahlgängen ab und griff lieber auf bezahlte Wahlkampfmanager zurück. Dadurch wurde sie von Millionenspenden und professionellem Marketing abhängig. Lula wurde gewählt, wobei seine Partei und die links stehenden Bündnisparteien jedoch keine Parlamentsmehrheit erzielen konnten. In der Folge schloss die PT Bündnisse mit rechten und offen bürgerlichen Parteien und griff dafür auf die bewährten Methoden brasilianischer Politik – Ämterpatronage und direkte oder indirekte Bestechung – zurück, wie 2005 in dem berühmten Skandal um die „geldgefüllte monatliche Kuverts“ („mensalão“) bekannt wurde.
Lula und die PT verloren viel von ihrem einstigen Prestige, v. a. unter den Mittelschichten, wodurch sein Mandat allmählich ins Wanken zu geraten drohte. Durch erheblich aufgestockte Sozialmaßnahmen wie der „Bolsa Família“, eines Sozialhilfeprogramms für die Ärmsten, jedoch und einer günstigen Wirtschaftskonjunktur gewann Lula wieder an Popularität und damit auch die folgende Präsidentschaftswahl, auch wenn sich die PT nicht mehr vollständig von ihrem Imageverlust durch den Bestechungsskandal („mensalão“) erholen konnte.
Um nach seiner Wiederwahl eine Parlamentsmehrheit und damit die „Regierungsfähigkeit“ zu sichern, ging Lula eine privilegierte Beziehung mit der PMDB, die außer der PT die stärkste Fraktion in Abgeordnetenhaus und Senat stellte, und bot ihnen wichtige Ministerposten an. Diese Allianz überdauerte Lulas zweite Amtszeit und auch unter Dilma Rousseff stellte die PMDB den Vizepräsidenten. Die PT erweiterte ihre Koalition innerhalb des Nationalkongresses um weitere Rechtsparteien, auch solchen aus der religiös-fundamentalistischen Ecke, deren Abgeordnete teilweise der offen reaktionären Evangelikalen Front im Parlament angehören, die gegenwärtig 18% der Sitze aus insgesamt 22 Parteien aus der enorm zersplitterten Parteienlandschaft Brasiliens einnimmt. Diese Abgeordneten vertreten keine spezifische ideologische Richtung, treten aber in der Praxis lautstark gegen die Menschenrechte und die Rechte der Schwarzen, der Frauen und der LGBT auf. De facto geht es ihnen vorwiegend um staatliche Radio- und Fernsehlizenzen und um Steuerbefreiung für die diversen Kirchen. Mit ihren Einfluss in der Unterhaltungsindustrie erreichen die Evangelikalen viele Teile der Gesellschaft und schaffen sich damit ein politisches und religiöses Umfeld. Eduardo Cunha von der PMDB, Präsident der Abgeordnetenkammer und einer der Hauptgegner von Dilma Rousseff, gehört zu dieser evangelikalen Fraktion. Diese Parlamentarier der sog. „Bibelfraktion“ sorgen gemeinsam mit der „Kugelfraktion“ (aus Polizisten und Militärs) und der mit dem Agrarbusiness verbundenen „Ochsenfraktion“ dafür, dass die gegenwärtige Zusammensetzung des brasilianischen Kongresses die reaktionärste seit dem Ende der Diktatur ist. Skurrilerweise waren etliche von ihnen zuvor direkte Verbündete der Regierung Rousseff und waren anschließend mitverantwortlich für deren Niederlage bei der Abstimmung über das Amtsenthebungsverfahren.
Lange Zeit glaubte die PT, dass man „ein Omelett braten könne, ohne Eier zu zerschlagen“, will heißen, Politik zugunsten der Ärmsten zu machen, ohne den Interessen der Bourgeoisie zu schaden. Dies ging auch jahrelang gut, indem es punktuelle Verbesserungen für die Ärmsten gab, die sich von der Regierungsübernahme der PT auch einiges versprochen hatten. Aber diese Almosen wurden niemals durch Strukturreformen untermauert, die zu einem dauerhaften wirtschaftlichen oder sozialen Wandel geführt hätten. Vielmehr hing alles davon ab, dass die wirtschaftliche Lage weiter florierte, was aber voraussetzte, dass der Rohstoffexport auf den Weltmarkt ungebremst vonstattenging, was bis 2012/13 auch der Fall war. Denn seit Regierungen mit neoliberaler wirtschaftspolitischer Ausrichtung in Brasilien an der Macht sind (Collor, Fernando Henrique Cardoso, Lula und Rousseff), geht der Produktionssektor zugunsten des Rohstoff-Exportsektors zurück und es findet ein Deindustrialisierungsprozess statt.
Diese Entwicklung wurde durch den Anstieg von Nachfrage und Preisen der Rohstoffe auf dem Weltmarkt natürlich gefördert und ermöglichte es, relativ unbeschadet über die erste Phase der internationalen Wirtschaftskrise 2008/09 hinweg zu kommen (was notabene auch für andere südamerikanische Länder galt). Nicht nur, dass sich die PT an der Regierung die Praxis der traditionellen politischen Parteien zueigen machte, sie stand sogar Pate für ein Entwicklungsmodell des Landes, das vom wirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkt aus regressiv sowie umweltfeindlich war. Auch wenn sie ihre Wirtschaftspolitik als „Entwicklung neuen Typs“ ausgab, lag der einzig „fortschrittliche“ Aspekt in dem Ansatz, das Wirtschaftswachstum – mit spärlichen Resultaten – durch erhöhte Staatsausgaben ankurbeln zu wollen. Anstelle einer nachdrücklichen industriellen Entwicklung klassischen Stils verfolgte die PT dieselbe Politik wie ihre Vorgängerregierungen und förderte das Agrarbusiness als exportorientierten Rohstoffproduzenten zulasten einer Agrarreform und einer bäuerlichen Landwirtschaft. Daneben trieb sie mittels des sog. Wachstumsförderungsprogramms (PAC) gigantische Wasserkraftanlagen und den Abbau von Bodenschätzen voran – ganz im Einklang mit den megalomanen Zielen der sog. Infrastrukturinitiative zur regionalen Integration Südamerikas (IIRSA). Diese umweltzerstörerischen Megaprojekte der PT für Brasilien zogen auch die umliegenden Länder Ecuador, Bolivien und Venezuela in Mitleidenschaft und sorgten für die tiefgreifendsten und blutigsten Gesellschafts- und Umweltkonflikte in der brasilianischen Geschichte seit dem Völkermord der Kolonialisten an den Ureinwohnern, sowie für die schwersten Umweltzerstörungen der jüngeren Geschichte.
Brasilien hätte unter der PT auch eine andere Rolle auf dem Subkontinent einnehmen können, nämlich alternative Wege zur regionalen Integration zu beschreiten, die die Souveränität der dortigen Völker gegenüber den Interessen der US- und europäischen Imperialisten gestärkt hätten. Stattdessen hat die Regierung es abgelehnt, sich an ALBA und der Bank des Südens zu beteiligen, und vielmehr als subimperialistische Ordnungsmacht gegenüber den anderen Ländern fungiert. Letztlich sind diese Länder in ein Abhängigkeitsverhältnis zu Brasilien und seinen Investitionen in die Ausbeutung der dortigen natürlichen Vorkommen gedrängt worden. In den letzten Jahren verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage und es wurde zunehmend schwerer, die unvereinbaren Gegensätze zu überbrücken, was einen Rechtsschwenk der Regierung zur Folge hatte.
Während des Wahlkampfs 2014 hingegen schien sich Rousseff angesichts einer drohenden Niederlage nach links zu orientieren und nahm die Finanzwelt – dabei ausblendend, dass gerade die PT-Regierungen ihr zuvor gekommen waren – die Unternehmer und die Reichen im Allgemeinen aufs Korn. Zwar konnte sie die Wahlen knapp gewinnen, aber die Allianz, die sie mit dem Großkapital geschmiedet hatte, wurde dadurch ernsthaft auf die Probe gestellt. Gleich nach den Wahlen unterminierte sie auch massiv das Vertrauen, das sie unter der einfachen Bevölkerung genoss: Mit ihrer ultraorthodoxen Wirtschafts- und Sparpolitik beschnitt sie die Rechte der Arbeiterklasse, selbst jene, die in der Bundesverfassung von 1988 garantiert waren, indem sie Gesetzesentwürfe einbrachte, mit denen der öffentliche Dienst und die Arbeitsverhältnisse im Ganzen dereguliert und das Demonstrationsrecht unter dem Vorwand der Terrorabwehr beschnitten, sowie die staatlichen Investitionen in die Daseinsvorsorge (Bildung, Erziehung und Gesundheitswesen) gekürzt werden sollten. Da die PT jedoch noch immer über Bindungen in die Gewerkschafts- und Basisbewegungen verfügt, stieß diese Politik zum Teil auf Widerstand in den eigenen Reihen, sodass Rousseff diese Pläne nicht in dem Umfang durchsetzen konnte, wie es die Bourgeoisie gefordert hatte. Ihre Politik richtete sich gegen das Volk in der Hoffnung, dafür Unterstützung bei den herrschenden Klassen zu gewinnen, aber sie hatte keinen Erfolg damit.
Wie nicht anders zu erwarten, wurde durch die Sparpolitik in einer wirtschaftlichem Umfeld, das ohnehin in der Rezession steckte, diese nur noch weiter verschärft, ohne dass der Staatshaushalt davon irgendeinen Vorteil gehabt hätte, sondern im Gegenteil weiter einbrach. Durch die Wirtschaftskrise wurde dieser Politik der Klassenversöhnung der Boden entzogen und eine politische Krise heraufbeschworen. Diese politische Krise wurde durch die fortschreitenden Ermittlungen im Korruptionsskandal durch die Bundespolizei, namentlich – aber nicht ausschließlich – in der sog. „Operation Hochdruckreiniger“, noch verschärft, sodass sie ihrerseits zum Ausgangspunkt einer weiter zunehmenden Wirtschaftskrise zu werden drohte. Auch aus der Führungsspitze der PT waren einige, darunter Lula, in die Ermittlungen verwickelt, daneben Politiker verschiedener anderer Parteien und besonders aus der PMDB, dem bis März wichtigsten Koalitionspartner der PT. Und gerade PMDB-Granden, wie der Präsident der Abgeordnetenkammer Eduardo Cunha, waren tiefer in den Skandal verstrickt als irgendein PT-Politiker und eine der vielen Anzeigen gegen ihn war bereits vom Obersten Bundesgericht zugelassen worden, und folglich ist er bereits Angeklagter in dem Prozess.
Die Krise der PT beschleunigt möglicherweise das Ende eines Zyklus in Südamerika, denn die wirtschaftliche und politische Krise, die die meisten Länder des Subkontinents betrifft, geht auch in den übrigen Ländern mit einem Aufschwung der rechten und konservativen Kreise einher. Erschwerend kommt hinzu, dass die radikalen sozialen und Widerstandsbewegungen, die diese Regierungen hervorgebracht und gestützt haben, inzwischen gelähmt und geschwächt oder desillusioniert sind.
Das eigene Grab geschaufelt …
Angesichts der Gemengelage aus politischen, medialen und juristischen Intrigen, die die brasilianische Szenerie beherrschen, sehen die PSOL und andere soziale Bewegungen, die sich gegen das Amtsenthebungsverfahren der Präsidentin stellen, darin einen institutionellen Putsch. Es handelt sich dabei nicht um einen klassischen Staatsstreich, da keine Regimeänderung angestrebt wird, wie dies 1964 der Fall war, als der Putsch in eine Diktatur einmündete. Es geht vielmehr um eine tiefe politische Auseinandersetzung, die von Teilen der Bourgeoisie mit dem Ziel angezettelt wurde, die PT an der Präsidentschaft abzulösen. Dabei haben wesentliche Teile der Bourgeoisie die PT-Regierungen unterstützt, solange sie die konzertierte Aktion zwischen den Klassen auf den Weg bringen konnten.
Der Vizepräsident Temer, ein unumwunden bürgerlicher Politiker, steht für eine sehr viel sozialfeindlichere Politik als Rousseff. Daher haben der Industriellenverband von São Paulo und andere Unternehmerverbände das Amtsenthebungsverfahren an vorderster Front vorangetrieben. In diesem Zusammenhang verfolgen die bürgerlichen Parteien ihren eigentlichen Zweck, nämlich sich hinter die Interessen der Bourgeoisie zu stellen. Dabei genießen sie die Schützenhilfe der bürgerlichen Medienindustrie.
Ein weiterer Aspekt, weswegen alle eher rechten Parteien das Impeachment unterstützen, besteht darin, dass sie sich bessere Bedingungen dafür versprechen, die Ermittlungsverfahren in den Korruptionsskandalen, namentlich bei der „Operation Hochdruckreiniger“, stoppen oder wenigstens begrenzen zu können, was Rousseff nicht geschafft hat. Letztlich sind alle großen bürgerlichen Parteien durch diese Ermittlungen bedroht, zumal bereits etliche ihrer Vertreter unter Anklage stehen. Daher hoffen sie, dass die Massenmedien unter einer neuen Regierung nicht länger auf diesem Thema rumhacken und dass Polizei, Staatsanwälte und Richter sich ebenfalls nachgiebiger zeigen, zumal sie bereits in der Vergangenheit gezeigt haben, dass sie lieber gegen die PT als gegen andere Parteien ermitteln.
Die Eröffnung eines Amtsenthebungsverfahrens ist für sich noch kein Putsch, zumal dies auch in der Verfassung des Landes vorgesehen ist. Trotzdem gibt es dabei verschiedene Aspekte, die diese Charakterisierung rechtfertigen. Erstens die massive Kampagne der Massenmedien, die im Verein mit einigen Staatsanwälten und Richtern den Ruf der PT (besonders von Lula) und der Regierung ruinieren wollen. Sicherlich sind diese nicht unschuldig, was die Korruptionsbeschuldigungen angeht, und sie tragen Verantwortung für die Verschärfung der Wirtschaftskrise, besonders weil sie die von der Bourgeoisie geforderte Sparpolitik voranzutreiben versucht haben. Aber es gab eine völlige Ungleichbehandlung bspw. zwischen – dem keineswegs unschuldigen – Lula und Cunha, der zumindest bisher sehr viel stärker durch die Bestechungsvorwürfe kompromittiert ist als Lula. Lula wurde – unter großem Medienaufgebot – unter Zwang und auf richterliche Anordnung von der Bundespolizei zum Verhör abgeführt, obwohl er zuvor nicht die Aussage verweigert hatte. Zudem sind etliche seiner Gespräche, auch mit Familienmitgliedern, aufgezeichnet, mitunter illegal verschafft und sattsam öffentlich verbreitet worden. Zweitens ist das juristische Vorgehen in dem Verfahren wenig konsistent. Das der Präsidentin vorgeworfene „Verbrechen der politischen Verantwortung“, besonders bei der „kreativen“ Berechnung des Staatshaushalts, entspricht einer bisher gängigen Praxis verschiedener Regierungen auf Ebene der Staaten und des Bundes und wurde auch von Temer, während er vorübergehend als Stellvertreter fungierte, so gehandhabt. Drittens ist der Ablauf des Prozesses absolut grotesk. Betrieben wurde er vom Präsidenten der Abgeordnetenkammer Cunha, der diese Position eigentlich seit Monaten schon nicht mehr innehaben dürfte, da er nicht nur der Korruption und anderer Verbrechen beschuldigt, sondern bereits angeklagt ist, und darüber hinaus sogar das Parlament belogen hat, indem er bestritt, über ausländische Bankkonten zu verfügen. Seither sind noch viel mehr solcher Bankkonten nachgewiesen worden, ohne dass dies Gegenstand der Anklage wäre.
Über die Hälfte der Abgeordneten, die der Untersuchungskommission gegen Rousseff angehören, sind in die „Operation Hochdruckreiniger“ verwickelt. Ebenso ein Großteil der Abgeordneten, die das Verfahren gegen die Präsidentin angestrengt haben. Das Amtsenthebungsverfahren ist kein Gerichtsprozess gegen die PT wegen Bestechung, sondern gegen die Präsidentin selbst gerichtet, um sie durch Temer abzulösen, obwohl sie bis dato gar nicht direkt beschuldigt wird. Zwar gab es Mutmaßungen wegen der Finanzierung ihrer Wahlkampagne von 2014, aber dies ist Gegenstand eines anderen, parallel laufenden Verfahrens und würde zur Annullierung ihrer und auch Temers Wahl und zur Ausrufung von Neuwahlen führen.
Angesichts der Anschuldigungen gestaltet sich der Versuch der Regierung und der PT, ihre Haut zu retten, ziemlich erbärmlich, indem sie sich nämlich bis zuletzt an die bürgerlichen Politiker anzubiedern versuchen. Auf diesem Feld jedoch sind sie ihren Gegnern klar unterlegen: Eine Regierung Temer ist, was die Vorteilsgewährung angeht, sehr viel attraktiver. Und somit wird die PT zum Opfer ihres eigenen Politikverständnisses. Die Parlamentsabstimmung am 17. April und damit die Zustimmung zum Gerichtsverfahren gegen Rousseff war eine einzige Schreckensveranstaltung und bestätigte, was wir bereits geahnt hatten: Das brasilianische Parlament ist eine nie dagewesene Ansammlung von unpolitischen, konservativen, rassistischen, frauenfeindlichen, fundamentalistischen und illegitimen VertreterInnen. Ihre Erklärungen zum Votum waren wahlweise „Gott, der Familie, den Kindern oder dem Vaterland“ gewidmet. Die Krönung des Ganzen lieferte der Abgeordnete Bolsonaro, der seine Stimme dem Oberst Ustra widmete, einem der größten Folterknechte und Mörder der Militärdiktatur, der höchstselbst die Präsidentin Dilma Rousseff folterte, als sie in den Kerkern der Diktatur gefangen war, wo Hunderte politischer Gefangene ermordet wurden. Viele Abgeordnete rechtfertigten ihr Votum mit der großen Unpopularität der Regierung und mit den Bestechungsfällen, die der PT zugeschrieben werden. Dies jedoch ist widersinnig: Temer und die PMDB sind den Umfragen nach genauso unpopulär wie die Präsidentin und noch viel direkter in die Korruptionsskandale verwickelt. Etwa 60% der Bevölkerung sprechen sich dafür aus, dass vielmehr beide zurücktreten oder abgesetzt werden sollen.
Die PSOL und ihre sechs Abgeordneten haben sich gegen das Amtsenthebungsverfahren gestellt, da nach ihrer Meinung der Prozess illegitim ist und eine einzige Farce darstellt. Auch wenn sich die sozialistische Linke korrekterweise mehrheitlich gegen den Putsch und für die Verteidigung der bestehenden „Demokratie“ in Brasilien ausgesprochen hat, zwingen uns diese Ereignisse, darüber nachzudenken, worin der Unterschied liegt, ob wir für die demokratischen Rechte des Volkes kämpfen oder für den „Demokratischen Rechtsstaat“ und die repräsentative Demokratie. Ein beträchtlicher Teil der brasilianischen Bevölkerung kennt nur den bewaffneten Arm des Staates. Für sie „ist die Demokratie wie eine Art Altar-Heilige, von der keine Wunder mehr erhofft werden“ um mit José Samarago zu sprechen.
Die Arbeiter und Arbeiterinnen, Jugendlichen und Schwarzen, die in den Favelas in einem regelrechten Bürgerkrieg und durch vorsätzliche Verwahrlosung verrecken, haben von der sog. Demokratie und dem Demokratischen Rechtsstaat nie etwas mitbekommen. Wenn man bedenkt, dass die „Demokratie“ „verfolgt, eingeschränkt und amputiert“ wurde und dass die Rechte, die hart erkämpft und durch Ewigkeitsklauseln in der Verfassung garantiert wurden, von einer repräsentativen Demokratie, in der die wirtschaftlich Mächtigen herrschen, vom Tisch gewischt werden, dann bleibt uns nur, für die „Echte Demokratie“ zu kämpfen, so wie es die „99%“ bei ihren Protesten und gegen den Widerstand des 1% der Mächtigen der Welt 2013 getan haben. Nur durch solchen Widerstand lassen sich Fortschritte erzielen.
Verhaltene Reaktion von unten
In Brasilien gab es bereits einmal nach dem Ende der Militärdiktatur ein Amtsenthebungsverfahren gegen einen Staatspräsidenten, und zwar 1992 gegen Fernando Collor de Melo. Der verlor sein Mandat unter vergleichbaren Vorwürfen wie die jetzige Präsidentin, im Unterschied zu Rousseff wurde er jedoch persönlich verschiedener Korruptionsvorwürfe bezichtigt. Auch damals steckte das Land in einer wirtschaftlichen und politischen Krise. Ein weiterer grundlegender Unterschied liegt darin, dass die damalige Protestbewegung (Caras Pintadas, „bemalte Gesichter“) geschlossen auf die Straße ging und die Bevölkerung einhellig dahinter stand. Gegenwärtig jedoch ist die Stimmung gespalten: Es gibt Befürworter und Gegner des Amtsenthebungsverfahrens, je nach Haltung gegenüber der Regierung, und es gibt daneben andere Proteste auf den Straßen, bspw. gegen die Steuerreform.
Insgesamt lassen sich bei den Protesten vier Strömungen ausmachen. Eine davon steht rechts und eint die Sektoren der Bourgeoisie und der Konservativen. Die Linke hingegen ist in drei Lager geteilt: die Brasilianische Volksfront, Das furchtlose Volk und die Aktionseinheit. In der ersten sind politische Parteien wie die PT und die PC do B, die Gewerkschaft CUT, der Studentenverband UNE, die Landlosenbewegung MST und andere Sektoren vereint, die der Regierung mehr oder weniger kritisch verbunden sind. Die zweite setzt sich nur aus sozialen Bewegungen zusammen und ist vom Auftreten und der Zusammensetzung her unabhängiger gegenüber der Regierung und v. a. kritischer gegenüber ihrer Austeritätspolitik und den „Sozialreformen“. Daran beteiligt sind die Obdachlosenbewegung MTST, verschiedene Jugendverbände und kritische Gewerkschaftsverbände. Unterstützt wird sie von Intellektuellen wie dem Befreiungstheologen Frei Betto und von politischen Parteien wie der PSOL. Die dritte vereint linke Gewerkschaften wie die CSP-Conlutas, den Studentenverband ANEL und politische Parteien wie die PSTU (die sich bei der Parlamentsabstimmung enthalten hat) sowie Teile der PSOL. Dieses Abstimmungsverhalten bei dem Amtsenthebungsverfahren hat zu erheblichen Differenzen mit den beiden ersten Lagern geführt. Der Aufschwung der Rechten hat weite Teile der Bevölkerung auf die Straße getrieben, auch Linke, die gegen die Regierung eingestellt sind.
Auf der anderen Seite stehen die Bourgeoisie und die konservativen Rechten (einschließlich eines faschistischen Flügels), die gegen die Regierung sind und für das Amtsenthebungsverfahren mobilisieren und die Infrastruktur für diese Mobilisierungen finanzieren. Die von ihnen ausgehenden Demonstrationen bringen mehr Menschen auf die Straße als die Linke.
Umfragen zufolge werden diese Kundgebungen vorwiegend von Angehörigen der Mittelschichten getragen, die mit der Regierungspolitik unzufrieden sind und unter der Wirtschaftskrise einen Teil ihrer Kaufkraft eingebüßt haben. Aber auch aus der Arbeiterklasse nehmen Menschen daran teil, weil sie gegen die Sparpolitik der Regierung sind. Die Anführer jedoch kommen aus der rechten Szene und ihre Banderolen sind in den Landesfarben gelbgrün gehalten, als Hinweis darauf, dass sie das „Vaterland“ gegen die „kommunistische Gefahr“ verteidigen wollen. Die Farbe rot wird abgelehnt, was so weit geht, dass Menschen mit roter Kleidung attackiert werden. Eine Aktionsform dieser „Angepassten“, wie sie genannt werden, ist das Schlagen von Topfdeckeln, um so Fernsehaustritte der Präsidentin zu übertönen.
In diesem Zusammenhang muss erwähnt werde, dass der Stern der Präsidentin im Zuge ihrer Sparpolitik zu sinken begann und nicht, als die Korruptionsvorwürfe laut wurden. Die Proteste von 2013, die als die „Junitage“ bekannt wurden, waren ein erster Ausdruck dieser Unzufriedenheit mit der Wirtschaftspolitik zur Bekämpfung der Krise. Zusammen mit diesen Massenprotesten führten die Streiks im öffentlichen Dienst und an den Universitäten zu der fortgeschrittenen politischen Krise, wie wir sie gegenwärtig erleben. Dass sich Regierung und PT so schwer tun, die Bevölkerung zu ihrer Unterstützung auf die Beine zu bringen liegt u. a. daran, dass sie wegen der Sparpolitik und der Korruption die Zustimmung der Mittelschichten verloren haben, dass sich die Skandale gerade an der Parteispitze gehäuft haben, und dass die PT zu einer reinen Wahlmaschinerie verkommen ist, und durch die Aufgabe dieser historischen linken Bezüge die Arbeiterklasse den Angriffen der herrschenden Klassen nunmehr ideologisch entwaffnet gegenüber steht.
Perspektiven und Lösungen
Für uns als sozialistische Linke ist klar, dass wir mit der herrschenden Krise nichts zu schaffen haben und deren Ursachen daher klar benennen und dagegen kämpfen müssen, dass sie auf den Rücken der Ärmsten abgeladen wird. Die offizielle Position der PSOL ist gegen die Steuerreform und den Abbau der Arbeiterrechte, die Ausgliederung von Betriebsteilen an Sub- oder Fremdunternehmen und die Rentenreform, die geplanten Megaprojekte und die Kriminalisierung der Gegenwehr und andere – auch stillschweigende – Maßnahmen der Regierung gerichtet. Zweifellos stehen uns unruhige Zeiten mit zunehmenden Protesten bevor. […]
Auch mit der Amtsenthebung der Präsidentin ist die Entwicklung nicht zu Ende: Die wirtschaftliche und politische Krise wird sich weiter zuspitzen. Die wohl künftige Regierung Temer muss mit starkem Widerstand rechnen und wird zu verschärften Repressionsmaßnahmen greifen und dabei auch auf die Gesetze der Vorgängerregierung zurückgreifen. Angesichts der Diskreditierung des Nationalkongresses und von Temer sollte es dem Volke obliegen, über Plebiszite, Referenden oder allgemeine Wahlen darüber zu bestimmen, wer das Land künftig regiert. In diesem institutionellen Rahmen jedoch wird sich wohl wenig ändern lassen. Es bedarf vielmehr zusätzlicher Proteste in den Straßen und weiterer Kämpfe und Kampagnen, wie sie bereits im Gange sind. Und dies kann nur über die Bewegungen stattfinden, die bereits jetzt aktiv sind.
Ein schwierig zu lösendes, aber entscheidendes Problem liegt natürlich auch in der Einheit der aktuell gespaltenen Linken. Wie werden sich diejenigen , die sich bisher mit der PT identifiziert haben, verhalten, sobald diese nicht mehr an der Regierung ist?
Wir müssen die Kritik an dem Putsch mit dem Kampf für die Rechte der Bevölkerung verbinden und für wirkliche Reformen (Agrarsektor, Stadtentwicklung, Steuerwesen und Politik) eintreten, für die das brasilianische Volk kämpft und schon in der Vergangenheit gekämpft hat, bspw. für eine Landreform zugunsten der indigenen Bevölkerung und der Nachfahren der Sklaven, oder für eine grundlegend andere Umwelt- und Klimapolitik. Ein solcher Widerstand ist elementar, auch um die drohende Kriminalisierung jeder Opposition abzuwenden.
Dafür bedarf es dringend einer Einheit der Linken und der sozialen Bewegungen und eines Programms, das auf der Höhe der Zeit ist.
Übersetzung aus dem bras. Portugiesischen: MiWe
Quelle: Inprekorr Juli/August 2016
Tags: Brasilien, Breite Parteien, Lateinamerika, Neoliberalismus
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