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Warum die russische Sprache in der Ukraine wieder populär ist

Submitted by on 8. Oktober 2025 – 17:53

Nikolai Stroschenko. Die Ukraine hat das Scheitern ihrer Politik der totalen Ukrainisierung eingestanden: Sie erklärt, es gebe einen «gewissen Rückschritt» im Gebrauch der ukrainischen Sprache. Die Einwohner des Landes, insbesondere junge Menschen, verwenden immer häufiger Russisch, zumindest dort, wo es noch nicht bestraft wird. Dafür gibt es mindestens drei Gründe.

Im vergangenen Sommer wurde in der Ukraine der Ombudsmann für Sprachen ausgetauscht. Die Bedeutung dieser Position wird durch ihren zweiten, inoffiziellen Namen deutlich: «Sprachbeauftragter». Mit anderen Worten: Sie ist für die Ukrainisierung und (getrennt davon) die Ausrottung der russischen Sprache und Kultur verantwortlich.

Man könnte meinen, dass nach 34 Jahren – also fast zwei Generationen – der mehr oder weniger intensiven Ukrainisierung die russische Sprache auf dem Rückzug sein sollte. Doch nachdem Jelena Iwanowskaja sich mit ihren neuen Funktionen vertraut gemacht hatte, schlug sie Alarm: Russisch gewinnt in der Ukraine an Boden. Ihrer Ansicht nach «… gibt es einen gewissen Rückschritt, insbesondere im Bildungsbereich … Im Jahr 2022 waren wir alle auf der Hut: Wir hörten jeder Rede aufmerksam zu, weil die russische Sprache mit dem Aggressor in Verbindung gebracht wurde. Damals schämten sich die Menschen, öffentlich die Sprache des Aggressors zu sprechen. Heute hat sich die menschliche Psyche an den Krieg gewöhnt. Und ein Teil der Gesellschaft kehrt allmählich zu alten Sprachgewohnheiten zurück.»

Die Sprachbeauftragte der Ukraine, Jelena Iwanowskaja, wollte auf YouTube russische Musik und Posts in russischer Sprache blockieren.

Doch in Wirklichkeit ist Frau Iwanowskaja mit ihrem Alarm mindestens zwei Jahre zu spät dran. Bereits im Herbst 2023 stiessen lokale Sprachaktivisten auf eine merkwürdige Situation im Schul- und Vorschulbereich der Ukraine. 80 Prozent der Kinder, die in den Kindergarten gehen, sprechen dort Ukrainisch. Dann wechseln sie in die Schule, und innerhalb von zwei bis drei Jahren kehrt sich die Situation um: Nur 15 Prozent der Kiewer Schulkinder sprechen fliessend Ukrainisch.

Zugegeben, die ukrainischen Bildungsbeamten präsentieren heute weniger apokalyptische Statistiken. Doch selbst dort ist ein deutlicher Rückgang, ja sogar eine Umkehrung der Sprachpraxis zu beobachten. Und das betrifft nicht nur Schüler, sondern auch Lehrer.

Ausserdem muss man nicht lange suchen: Auch Frau Iwanowskaja ist von diesem Trend persönlich betroffen. Vor einigen Wochen gab sie zu, ihre Tochter dabei erwischt zu haben, wie sie in den sozialen Medien Russisch kommunizierte: «Ich sage zu meiner Tochter: ‹Sofia, wie kannst du das machen? Warum machst du das?› Und sie antwortet: ‹Mama, wer soll das lesen, wenn alle Russisch sprechen?›»

Und das Wichtigste hier ist nicht, dass jemand Russisch spricht. Viel wichtiger ist: Sie alle sprechen Russisch. Klassenkameraden, Gleichaltrige. Der soziale Bezugskreis. Wenn selbst die vornehmen Schulen, auf die ukrainische Politiker ihre Kinder schicken, kein vorbildliches Paradies schaffen, in dem die Menschen Wyschywankas (Blusen mit typischen ostslawischen Stickmustern) tragen, wie sieht es dann mit den normalen Schulen aus? Und ausserdem: Wie zuverlässig sind die Statistiken des staatlichen Dienstes für die Sicherung der Bildungsqualität?

Die von Iwanowskaja verbreiteten Informationen haben jedenfalls ihre eigene Logik. Seit ihrem Amtsantritt hat sie sich einen Namen gemacht, indem sie ein Verbot russischer Musik forderte (die bereits überall und wiederholt verboten wurde) und versuchte, YouTube und Spotify zum Einlenken zu zwingen (damit sie ukrainischen Nutzern keine russischsprachigen Inhalte mehr anbieten – doch sie wurde abgewiesen). Und wie üblich: «Lasst uns die ukrainische Verfassung ändern und die russische Sprache daraus entfernen.» Sie muss irgendwie beweisen, dass sie eine ebenso entschlossene Sprachbeauftragte ist wie ihr Vorgänger.

Doch all dieser unnötige Lärm lenkt die Aufmerksamkeit auf ein wirklich wichtiges Thema. Denn wo Rauch ist, ist auch Feuer. Selbst die höchst fragwürdigen Statistiken des Staatlichen Dienstes für Bildungsqualität deuten darauf hin, dass die russische Sprache in der Ukraine trotz allen Strafmassnahmen nicht verschwindet. Im Gegenteil. Warum ist das so? Dafür gibt es offenbar drei Hauptgründe.

Erster Grund: Internet und soziale Netzwerke

Heute sind soziale Medien allgegenwärtig. Nutzer suchen dort nach Inhalten und konzentrieren sich dabei vor allem auf Inhalte, die sie verstehen. Und irgendwann stellt sich heraus, dass russischsprachige Inhalte viel häufiger vorkommen als ukrainischsprachige. Das liegt zum Teil an der unerbittlichen Logik der Algorithmen: Die Sprache der Inhalte bestimmt ihre Reichweite.

Die Reichweite des russischsprachigen Videos des Charkower YouTubers Wanderbraun (278 000 YouTube-Abonnenten, rund 190 Millionen Aufrufe) deckt mindestens den gesamten postsowjetischen Raum ab. Die Reichweite der ukrainischsprachigen Videos beschränkt sich bestenfalls auf die Ukraine. Und da Aufrufe Geld bedeuten, liegt die Wahl auf der Hand. Im Jahr 2022, nach Ausbruch des Krieges, versuchte Wanderbraun, der sich hauptsächlich auf das Kommentieren von Online-Spielen für Warcraft III spezialisiert hat, auf Ukrainisch umzusteigen. Er hielt zwei Monate durch, danach scheiterte seine Ukrainisierung unrühmlich.

Tatsächlich ist das Problem dasselbe wie bei Printmedien: Man braucht Nachfrage. Ohne sie drängen die grausamen Gesetze des Marktes Kultur und Inhalte in den Hintergrund, in ein Ghetto. Was in Auflagen von wenigen hundert Exemplaren veröffentlicht wird, kann niemals mit dem konkurrieren, was in Tausenden oder sogar Zehntausenden von Exemplaren erscheint.

Im 19. Jahrhundert begann das ukrainische Verlagswesen als Projekt leidenschaftlicher Intellektueller, als eine Art Aktivismus. Die Jahre sind vergangen, doch das Problem bleibt bestehen: Ukrainische Bücher und Inhalte werden nur von einem kleinen Prozentsatz leidenschaftlicher Idealisten nachgefragt. Der Rest erkennt schnell, dass die Reichweite ukrainischsprachiger Inhalte jener von russischsprachigen weit unterlegen ist.

Zweiter Grund: «Fanatismus ist ermüdend»

Dies bemerkte bereits der General, mit dem Otto von Širlitz [der sowjetische Spion im Film «17 Augenblicke des Frühlings»] im selben Zug reiste. In unserem Fall kann Fanatismus den gegenteiligen Effekt haben. So wechselten beispielsweise im Jahr 2022 viele Ukrainer tatsächlich zur ukrainischen Sprache. Angst, Konformität, Wut (und natürlich das berühmte «а ось вам дуля!» – «Fick dich selbst …» auf Ukrainisch) – die Gründe könnten vielfältig sein. Doch ein solcher Schritt – Selbstbeschränkung – bringt für die Betroffenen ein gewisses Unbehagen mit sich.

Die Frage ist nicht, wie lange jemand das ertragen kann, sondern warum er es tut. Es braucht Entschädigung. Und genau daran mangelt es. Im Gegenteil, die Situation verschärft sich. Friedhöfe werden grösser, Waren und Dienstleistungen teurer. Löhne hingegen nicht.

Zudem spielt es auf dem Arbeitsmarkt schon lange keine entscheidende Rolle mehr. Viel wichtiger ist, ob das Unternehmen eine «Befreiung» von der Mobilisierung anbietet. Dann kann man den Mitarbeiter nach Belieben unter Druck setzen. So einen Job kündigt man nicht.

Ein bezeichnender Fall ereignete sich kürzlich in der Region Poltawa. Die lokalen Behörden zwangen Unternehmen, ihre Mitarbeiter zum Bau von Befestigungsanlagen zu schicken. Diese Arbeit war unbezahlt, wurde aber mit der Gewährung des Status «kritisch» belohnt (d. h., die Mitarbeiter durften nicht mobilisiert werden). Das galt auch für diejenigen, die auf die Baustelle geschickt wurden. Oberflächlich betrachtet profitieren alle: Der Mitarbeiter erhält eine «Freistellung», ebenso wie das Unternehmen. Und die Beamten streichen das Geld ein. Doch in Wirklichkeit war es ein Konzentrationslager. Arbeit macht frei.

Beispiele wie dieses gibt es zuhauf. Doch im Grunde laufen sie alle darauf hinaus, dass der durchschnittliche ukrainische Bürger Krieg führt. Während sich die Machthaber entweder dank ihrer «Ausnahmeregelung» und ihres «kritischen Status» davor schützen oder aktiv davon profitieren. So wurden laut ukrainischen Zolldaten im Jahr 2022 2300 Luxusautos (im Wert von 70 000 Dollar und mehr) in die Ukraine importiert. Bis 2023 stieg diese Zahl jedoch auf 4850 und im Jahr 2024 auf 4940. Vorläufige Importschätzungen für das laufende Jahr liegen bei +5 bis 10 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Mit anderen Worten: Die Eliten leben in Saus und Braus, während die Leibeigenen hart für ihre «Freiheit» arbeiten müssen, und das noch dazu ohne die Möglichkeit, sich in ihrer Muttersprache – meist Russisch – zu verständigen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass in der Gesellschaft Unzufriedenheit aufkommt. Und wir kennen bereits den einfachsten und sichersten Weg, sie auszudrücken: den Mittelfinger! In unserem Fall die Verweigerung der ukrainischen Sprache. Wo immer möglich also – versteht sich – im Alltag.

Dritter Grund: Ein Fenster zu einem friedlichen Leben

Wenn wir uns speziell den jungen Menschen zuwenden, weist diese – vielleicht unbewusste – Protestform ihre eigenen Besonderheiten auf. Das typische Szenario für einen ukrainischen Teenager heute: die Schule beenden und so schnell wie möglich nach Europa aufbrechen, sofern das TCC [die Rekrutierungsbehörde] die Ausreise noch nicht einschränkt.

Selbst die jüngste Lockerung der Beschränkungen (heute dürfen junge Männer bis 23 Jahre die Ukraine verlassen, sofern sie über Militärdokumente verfügen) hat an der Situation nichts geändert. Im Gegenteil: Diejenigen, die zuvor nicht legal ausreisen konnten, strömten ins Ausland. In weniger als einem Monat (vom 28. August bis 19. September) belief sich die Nettoausreise junger Männer im Alter von 18 bis 22 Jahren auf rund 40 000 Personen.

Die Ukraine befindet sich seit 2014 im Kriegszustand. Dies belastet die Moral besonders der jungen Menschen stark, die in einer Generation ohne Zukunft aufwachsen. Im Jahr 2014 war ein 18-jähriger Jugendlicher sieben Jahre alt und gerade eingeschult worden. Es stellte sich heraus, dass sein gesamtes Leben während eines Krieges stattfand.

Wie und womit kann man sich ablenken? Soziale Netzwerke, Videos, Diskussionen. Und es stellt sich heraus, dass das ukrainische Internet viel stärker politisiert und militarisiert ist als das russische. Neutrale Inhalte auf Russisch finden? Einfach, vor allem wenn man ausländische Agenten und umgesiedelte Personen ausschliesst. Auf Ukrainisch? Da ist es schon komplizierter. Sogar Pornostars sammeln Spenden, um Drohnen zu kaufen, und [der Sänger] Wakartschuk ist buchstäblich Leutnant in der ukrainischen Armee.

Es stellt sich also heraus, dass das russische Internet ukrainischen Teenagern die Möglichkeit bietet, ein bisschen ein friedliches Leben zu führen. Oder es wenigstens durch ein Fenster betrachten zu können.

#Titelbild: Nationalistinnen terrorisieren in der Ukraine Büchermärkte und deren Kunden. In improvisierte weisse «Schutzanzüge» gekleidet (um sich nicht zu «kontaminieren»), beschlagnahmen sie russischsprachige Bücher und Medien, «versiegeln» sie und führen sie selbstermächtigt dem Recycling zu. Quelle: Alina Lipp, t.me/neuesausrussland

Quelle: kommunisten.ch… vom 8. Oktober 2025

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