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Russland: Putins Mehrheit?

Eingereicht on 23. Februar 2021 – 16:38

Ilya Budraitskis und Ilya Matveev. Am 2. Februar wurde Alexey Navalny für zwei Jahre und acht Monate ins Gefängnis geschickt. Rein juristisch entbehrt das Urteil jeder Logik: Das Gericht ersetzte seine Bewährungsstrafe durch eine echte, weil er sich nicht bei den Behörden in Russland gemeldet hatte – während er sich in Deutschland von der Nowitschok-Vergiftung erholte. Politisch gesehen erzeugt Nawalnys Inhaftierung einen noch ungünstigeren Eindruck: Da sie direkt nach dem gescheiterten Attentat erfolgte, kommt man kaum umhin, sie als die «zweitbeste Option» für das Regime zu interpretieren. Diese Gleichgültigkeit gegenüber der öffentlichen Wahrnehmung deutet darauf hin, dass der Kreml Nawalnys Aktivitäten einfach nicht länger dulden will. Er muss entweder inhaftiert oder ermordet werden, ungeachtet der Gegenreaktion.

Die Behörden nahmen die gleiche Haltung der offenen Konfrontation gegenüber den Protesten ein, die auf Nawalnys Verhaftung folgten. Russische Städte wurden sofort mit Bereitschaftspolizei, der Nationalgarde, «Anti-Extremisten»-Beamten in Zivil und zahllosen anderen Kräften überflutet. Das Zentrum von Moskau und St. Petersburg wurde komplett abgeriegelt: gepanzerte Fahrzeuge blockierten die Strassen; Metrostationen wurden aus «technischen Gründen» geschlossen. Die Proteste am 23. Januar stellten einen Rekord dar, da landesweit mindestens 4’000 Menschen festgenommen wurden. Am 31. Januar kletterte diese Zahl auf 5’700. Da die normalen Haftanstalten mit Demonstrant:innen überfüllt waren, wurden neue Gefangene in ein Haftzentrum für Migrant:innen am Stadtrand von Moskau gebracht. Der Mangel an Haftzellen ist so gravierend, dass Hunderte von Menschen tagelang in Polizeifahrzeugen verbrachten und weder essen noch schlafen konnten.

Die jüngste Welle des Widerstands ist in vielerlei Hinsicht beispiellos. Nawalnys direkter, populistischer Stil, sein Fokus auf die Korruption der Eliten und seine Unterstützung sozialer Forderungen (wie der Erhöhung des Mindestlohns) haben die Bewohner:innen des russischen «Kernlandes» zunehmend in den Orbit der Opposition gebracht. In dieser Hinsicht waren die Proteste von Ende Januar so etwas wie ein Durchbruch. Laut der Soziologin Alexandra Arkhipova, die eine Blitzumfrage unter den Demonstrant:innen durchführte, gaben 39% von 252 in Moskau und 47% von 454 in St. Petersburg am 23. Januar befragten Personen an, dass dies ihre erste Teilnahme an einem Protest war. In den Regionen war die Zahl der neuen Teilnehmer:innen wahrscheinlich noch höher. Vladimir Zvonovskiy, ein anderer Forscher, der 20 Gespräche mit Demonstrant:innen in Samara führte, behauptete, dass nur wenige seiner Befragten jemals an einer solchen Mobilisierung teilgenommen hätten. In vielen kleineren Städten erreichte die Beteiligung an den Demonstrationen den höchsten Stand aller Zeiten.

Obwohl die Proteste durch die Recherchen von Nawalny und seine Verhaftung ausgelöst wurden, kann nur eine Minderheit der Demonstrant:innen als vollwertige «Nawalnist:innen» betrachtet werden. Laut Arkhipova vertrauten 33% in Moskau und 22% in St. Petersburg Nawalny «voll und ganz», während die Mehrheit (57% in Moskau, 64% in St. Petersburg) ihm «ein wenig vertraute». Zvonovskiy berichtete, dass einige der Befragten Putin nicht durch Nawalny ersetzen wollten, obwohl sie sich dennoch einen gesellschaftlichen Wandel wünschten. Diese Ergebnisse bestätigen eine offensichtliche Tatsache: Trotz der charismatischen Medienpersönlichkeit Nawalnys ging es bei den Protesten nie nur um ihn. Sie können nicht als «seine» Bewegung betrachtet werden. In ihrer derzeitigen Form besteht die russische Opposition aus unzufriedenen Jugendlichen, Student:innen, Arbeiter:innen und Angestellten, die zunehmend von ausserhalb Moskaus kommen.

Das politische Credo, das diese verschiedenen Sektoren zusammenbrachte, kann im Grossen und Ganzen als «populistisch» bezeichnet werden. Seit dem Beginn seiner Karriere im Jahr 2000 als er der liberalen Jabloko-Partei beitrat, war Nawalnys Einstellung zu Politik und Programmen entscheidend. Was immer die Bewegung eint und vergrössert, ist gut; was immer Uneinigkeit sät und potenzielle Verbündete entfremdet, ist schlecht. Dies war ein krasser Gegensatz zu Grigorij Jawlinski, dem Gründer und ewigen Führer von Jabloko, der immer dogmatisch und intolerant war und jegliche Koalitionen mit der Linken (diese werden als Erben des Stalinismus angesehen) und mit anderen Liberalen ablehnte – diese werden für die katastrophalen Marktreformen der 1990er Jahre verantwortlich gemacht, die Jabloko stets ablehnte und einen vorsichtigeren, schrittweisen Ansatz bevorzugte. Nawalnys Enttäuschung über Jabloko – aus dem er 2007 ausgeschlossen wurde – zeugt nicht von einer Ablehnung marktliberaler Vorstellungen, sondern von einer Antipathie gegenüber den russischen Liberalen alten Stils, die bekanntlich nicht geneigt sind, eine breite Koalition zu bilden.

Auf der Suche nach einer solchen Koalition begann Nawalny in den späten 2000er Jahren, sich mit der extremen Rechten zu verbünden und ein «zivilisiertes» Bild des russischen Nationalismus zu präsentieren, das offen für Bündnisse mit der liberalen Opposition war. Doch Ende 2011, als eine Welle von Massendemonstrationen gegen den Wahlbetrug im Parlament das Land überrollte, erkannte Nawalny, dass der Nationalismus – der vom Grossteil der Protestbewegung abgelehnt wurde – keine einigende Plattform sein konnte. Von diesem Moment an begann er, seine eigene «politische Maschine» zu schaffen, eine stark personalisierte Plattform, die auf der rhetorischen Konfrontation zwischen «dem Volk» – dem es an angemessener politischer Repräsentation mangelt – und der korrupten Elite basiert, die ihre Macht innerhalb Russlands gefestigt hat. Während der gesamten 2010er Jahre prägte diese populistische Haltung Nawalnys Anti-Korruptions-Recherchen, deren Ziel nicht nur Staatsbeamte, sondern auch Oligarchen wie Oleg Deripaska [Oleg Wladimirowitsch Deripaska ist einer der reichsten Oligarchen und bewegt sich im engsten Umfeld von Putin. Er unterhält exzellente Beziehungen in die politischen Milieus von Europa und der USA; A.d.Ü.] waren. Nawalny wetterte gegen deren Erwerb von enormem Reichtum durch die kriminelle Privatisierung ehemaliger sowjetischer Unternehmen. Allmählich, als sich die Wirtschaftskrise in Russland vertiefte und die Armut zunahm, konzentrierte sich Nawalny immer mehr auf die soziale Ungleichheit und den Zerfall des öffentlichen Sektors. Eines seiner jüngsten Vorzeigeprojekte war die Allianz der Ärzte, eine unabhängige Gewerkschaft, die höhere Gehälter im staatlichen Gesundheitswesen forderte und die Unterfinanzierung der Krankenhäuser während der Pandemie anprangerte.

Nichts von alledem bedeutet, dass Nawalny sich nach links gewandt hat: Seine sozial-populistische Rhetorik, wie auch seine frühere nationalistische Linie, spiegelt seinen pragmatischen Ansatz wider. Nawalnys persönliche Ansichten scheinen unverändert zu sein: Er befürwortet einen «normalen» Kapitalismus mit funktionierender Demokratie, einer breiten Mittelschicht und einem Wohlfahrtsstaat, der in der Lage ist, Einkommensungleichheiten auszugleichen. Er scheint sich nicht mit der Schwierigkeit aufzuhalten, diese Ziele in einem armen, halbperipheren Land zu erreichen, ohne einen umfassenderen Strukturwandel durchzuführen. Doch seine Wirtschaftsberater sind sich dieses Widerspruchs bewusst – und schlagen vor, ihn durch eine neoliberale, marktwirtschaftliche Politik zu lösen, die weniger Raum für den sozialen Schutz und die Verringerung der Ungleichheit lässt, als Navalny sich dies vorstellt.

Nawalnys Populismus war schon immer mit aktivistischer Politik verbunden: In jedem seiner Videos fordert er sein Publikum auf, bei Antikorruptionsuntersuchungen nicht passiv zuzuschauen, sondern auf die Strasse zu gehen und für Veränderungen zu kämpfen. Navalny selbst stand immer an vorderster Front dieses Kampfes, der unter den autoritären Bedingungen Russlands grosse persönliche Risiken birgt. Navalny wurde nach praktisch jedem Strassenprotest verhaftet und für kurze Zeit inhaftiert (insgesamt hat er bereits rund ein Jahr hinter Gittern verbracht), sein jüngerer Bruder Oleg wurde wegen erfundener Vorwürfe zu drei Jahren Haft verurteilt. Navalnys Entscheidung, nach Russland zurückzukehren und eine unbestimmte Haftstrafe zu akzeptieren, ist das jüngste Beispiel für seine Bereitschaft, einen persönlichen Preis für seine Politik zu zahlen.

Es ist schwer vorherzusagen, wie sich die aktuellen Strassenproteste entwickeln werden. Einerseits sahen die Januar-Demonstrationen das Aufkommen einer neuen Generation von Aktivist:innen, die bereit sind, sich auf einen langwierigen Zermürbungskrieg einzulassen. Andererseits wird die Aufregung um die Verhaftung Nawalnys abflauen, und viele Demonstrant:innen müssen damit rechnen, ihren Job zu verlieren oder ins Gefängnis zu kommen. Doch der Versuch der Behörden, die Bewegung zu unterdrücken – durch die harte Verurteilung Nawalnys, den Hausarrest seiner wichtigsten Mitarbeiter:innen und die systematische Einschüchterung seiner Anhänger:innen – zielt auf ein Symptom, nicht auf die Ursache. Diese Massnahmen basieren auf der Auffassung des Kremls, dass Protest lediglich eine aus dem Westen importierte «Technologie» ist, die ihrerseits durch technische und nicht durch politische Lösungen besiegt werden kann. In Wirklichkeit wird die staatliche Repression eine sich abzeichnende politische Krise nur hinauszögern, die wahrscheinlich während des Wahlzyklus 2021-2024 eintreten wird.

Die Duma-Wahlen im September dieses Jahres werden entscheidend für Putins Wiederwahl im Jahr 2024 sein. Die Strategie des Kremls für beide Wahlgänge beruht auf dem Konzept von «Putins Mehrheit»: einer schweigenden Masse von Anhänger:innen, die die absolute parlamentarische Dominanz von «Einiges Russland» [der Partei Putins; A.d.Ü] zusammen mit einem weiteren triumphalen Sieg für Putin selbst sicherstellen wird. Die Proteste im Januar haben jedoch Zweifel an diesem vermeintlich unschlagbaren Wahlblock aufkommen lassen, der nicht nur von denjenigen bedroht wird, die auf die Strasse gegangen sind, sondern von all jenen, die die Nawalny-Recherchen beobachtet und vorsichtige Sympathie für die Demonstrant:innen bekundet haben. Der Mangel an sozialen Perspektiven, der pandemiebedingte Verfall des Lebensstandards und die Frustration über ein unabsetzbares und nicht rechenschaftspflichtiges politisches Regime werden Putins Unterstützung in den kommenden Jahren weiter schwächen. Dies wird eine neue politische Konfiguration schaffen, in der das derzeitige System der «verwalteten Demokratie» unhaltbar werden könnte.

Neben den Strassenprotesten haben Navalny und sein Team ihre eigene Wahlwaffe entwickelt – ein hochentwickeltes taktisches Wahlsystem, genannt «Smart Voting». Obwohl die Wahlen in Russland durch Wahlbetrug und den Ausschluss unabhängiger Kandidat:innen streng kontrolliert werden, variiert das Ausmass solcher Formverletzungen von Region zu Region. In vielen Fällen ist es möglich, «Einiges Russland» aus den Kommunalparlamenten zu verdrängen, indem man für den/die zweitbeliebteste/n Kandidaten/Kandidatin in den einzelnen Wahlkreisen stimmt. Genau das ist die Idee hinter dem «Smart Voting»: Die von Nawalny mobilisierten Stimmen würden zur organischen Unterstützung des/der zweitbeliebtesten Kandidaten/Kandidatin addiert, was einen knappen Sieg über den/die Kandidaten/Kandidatin von «Einiges Russland» zur Folge hätte. Das Problem ist natürlich, dass die anderen russischen politischen Parteien in der Regel nicht weniger unterwürfig gegenüber dem Kreml sind, so dass der Nutzen einer Wahl für sie gering ist. Nichtsdestotrotz sät Nawalnys Unterstützung die Saat des Ehrgeizes innerhalb des mittleren Kaders der bestehenden Parteien. Ironischerweise trifft dies am meisten auf die Kommunistische Partei Russlands (KPRF) zu, da sie landesweit immer noch die zweitbeliebteste Partei ist und somit die Hauptnutzniesserin der Taktik des «Smart Voting». Gennadi Sjuganow, der KPRF-Führer, demonstrierte seine feige Unterwürfigkeit gegenüber dem Regime, indem er Nawalny und die Protestbewegung im Januar anfeindete; doch Waleri Raschkin, der Chef der Moskauer KPRF, brach die Parteidisziplin und verteidigte Nawalny gegen das harte Durchgreifen des Regimes. Kommunistische Abgeordnete des Moskauer Stadtparlaments reisten sogar zum Flughafen, um Nawalny bei seiner Rückkehr nach Russland zu treffen. Der Grund ist einfach: Durch «Smart Voting» hat sich die Vertretung der KPRF in der Duma von fünf auf zehn von insgesamt 45 Sitzen erhöht. Nawalny und sein Team haben bereits versprochen, dieses System bei den bevorstehenden föderalen Parlamentswahlen einzusetzen, was die derzeitige Instabilität noch verschärfen könnte.

Die russische Linke – vor allem ihr radikaler ausserparlamentarischer Flügel – nähert sich der Krise in einem Zustand organisatorischer Schwäche und interner Spaltung. Die Proteste, die im Januar einsetzten, offenbarten einmal mehr zwei gegensätzliche Auffassungen zur Strategie der Linken. Der ersten zufolge sind Nawalny und Putin einfach die Vertreter verschiedener Fraktionen der herrschenden Klasse, und die Zehntausenden, die auf die Strasse gingen, um zu protestieren, sind daher Spielfiguren in einem fremden Spiel. Sie sollten entweder radikalisiert werden (indem man sie auffordert, die Proteste zugunsten kleinerer marxistischen Grüppchen aufzugeben) oder einfach als irrelevant für einen echten (aber derzeit nicht vorhandenen) Klassenkampf ignoriert werden. Die zweite Position, die die meisten linken Aktivist:innen eingenommen haben, betont die Notwendigkeit, sich an der demokratischen Protestbewegung zu beteiligen, wobei zu berücksichtigen ist, dass diese über die Figur Nawalny hinausgeht. Die Zusammensetzung der jüngsten Proteste – die eine große Anzahl neuer Teilnehmer:innen angezogen haben, deren Hauptforderung soziale Gerechtigkeit ist – eröffnet einen Raum für sozialistische Ideen. Diese von der Jugend getragene Bewegung, in deren Mittelpunkt die Ablehnung sozialer Ungleichheit und elitärer Privilegien steht, ist für die Linke weitaus zugänglicher als beispielsweise die Kundgebungen für «faire Wahlen» vor einem Jahrzehnt. Niemand kann ihren Erfolg garantieren, aber unter dem breiten Spektrum der Demonstrant:innen gibt es mehr denn je die Forderung nach Demokratie und Sozialismus.

  1. Februar 2021

#Bild: Grosse Demonstration am Pushkin Platz in Moskau vom 23. Januar 2021. Associated Press photo

Quelle: newleftreview.org… vom 22. Februar 2021; Übersetzung Redaktion maulwuerfe.ch

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