Verstaatlichte Proteste in Deutschland wenden sich nicht gegen den Krieg
Thomas Moser. Zu den Kundgebungen in sechs Großstädten kommen weniger Teilnehmer als vorhergesagt. Das lag vor allem an der inhaltlichen Ausrichtung, die die Regierungspolitik zwar unausgesprochen, aber faktisch mitträgt.
Krieg ist der große Ordnungsfaktor einer Gesellschaft; die Zuchtkeule gegen das Durcheinander in einer Demokratie; der Organisator widerspruchsfreier Konformität im Land. Deshalb gibt es ein Interesse an Krieg. Dem Waffenkrieg folgt der Wirtschaftskrieg, dem wiederum Inflation, Teuerung und soziale Not folgen.
Wer gegen soziale Not demonstriert, muss auch gegen den Krieg demonstrieren, beziehungsweise für ein Ende des Krieges. Ein Bündnis mehrerer sozialdemokratisch und grün-alternativ angehauchter Organisationen wie DGB, Verdi, BUND oder das Online-Kampagnennetzwerk Campact versuchten am Wochenende das gegenteilige Kunststück: gegen Preissteigerungen, explodierende Energiekosten und soziale Not zu demonstrieren und den Krieg als Problem auszublenden. In Berlin, Dresden, Hannover, Düsseldorf, Frankfurt/Main und Stuttgart wurden Kundgebungen organisiert.
In Stuttgart waren es etwa 3000 Teilnehmer. Die Veranstalter sprachen von 4000, weshalb deren Angabe von insgesamt 20.000 Demonstrierenden in den sechs Städten wahrscheinlich zu hoch ist. Jedenfalls kamen wesentlich weniger Leute zusammen als erwartet, trotz der gewichtigen Bündnispartner. Campact versuchte mit einem wahren Schlachtruf zu mobilisieren: „Wir holen uns die Straße zurück! Mit großen Demos in sechs Städten.“ Das hörte sich ein bisschen nach AfD an: „Wir holen uns unser Land zurück!“ Tatsächlich hat den professionellen Demo-Organisatoren in den letzten drei Jahren niemand von denen, die da auf der Straße waren, geraten, brav zuhause zu bleiben und den Lockdown zu befolgen.
Jetzt sind sie also wieder auf der Straße, doch ihre Mobilisierungsfähigkeit ist verloren gegangen. Das liegt vermutlich an der politischen Ausrichtung der „Proteste“, nur die „Straße zurückholen“ zu wollen, ist ein bisschen wenig. Den Krieg als die Quelle des Übels prangern die Veranstalter nicht an, sein sofortiges Ende wird nicht gefordert. Sie interessiert nur, wer angefangen hat, nicht, wer den Krieg mit Geld, Waffen und Menschenleben befeuert und ihn in Wahrheit gar nicht beenden will.
Im Demoaufruf wird alles auf Putin und seinen Angriffskrieg zurück geführt. So auch die Verteuerung von Energie, die Folge ihrer Verknappung ist. Die Energieverknappung ist aber Ergebnis des Embargos, sprich: der deutschen Weigerung russisches Gas zu beziehen, und nicht etwa der russischen Weigerung, Gas zu liefern.
Wer die real-existierende Kriegspolitik der Bundesregierung nicht einmal als solche benennt, will sie auch nicht kritisieren. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi positioniert sich pro Sanktionen und will lediglich die Folgen ausgeglichen haben. Auch Campact ist nicht gegen die deutsche Kriegsunterstützungspolitik, wie Waffenlieferungen und Wirtschaftssanktionen, sondern will lediglich eine „faire Verteilung der Last“. Die Last an sich wird also akzeptiert.
Über den Krieg und die deutsche Beteiligung wird nicht gesprochen
Dass diese angeblichen „Nicht-Regierungsorganisationen“ nicht nur keine Kritik an der Regierungspolitik üben, sondern sie im Gegenteil sogar klammheimlich mittragen, merkt eine in den letzten drei Jahren hoch politisierte Gesellschaft sehr wohl und wendet sich mittlerweile ab.
Da ist die Zerstörung der Gaspipeline von Russland nach Deutschland, die man auch als Maßnahme zur Energieverknappung bezeichnen könnte. Noch sind die Täter nicht bekannt, es will aber nicht so richtig einleuchten, dass sie unter denen zu suchen sein sollen, die das Gas verkaufen wollten, das jetzt nicht mehr geliefert werden kann.
Auf der Kundgebungsbühne am Stuttgarter Schlossplatz ist auch dieser Anschlag, der die westliche Rolle in diesem Krieg grundlegend hinterfragen müsste, kein Thema. Stattdessen aber bei einer kleinen Gruppe am Rande der Kundgebung. Sie fordert eine Untersuchung des Sabotageaktes und hat ein Transparent erstellt, auf dem zu lesen ist: „Ernstzunehmende Ergebnisse einer Untersuchung der Pipeline-Sabotage darf es nicht geben, denn die Menschen könnten verunsichert werden und plötzlich auf Ideen kommen.“ Das bezieht sich auf das Grüne Bundeswirtschaftsministerium, das verbindliche Auskünfte dazu mit dem Joker-Argument verweigert, das Staatswohl könnte gefährdet werden.
Die unabhängige Stuttgarter Friedensgruppe fordert auch die Schließung der US-Militär-Kommandozentralen und Stützpunkte Eucom und Africom in ihrer Stadt. Eigentlich eine Forderung, die seit Jahrzehnten auf der Agenda der Friedensbewegung steht, die nun aber angesichts der BRD-Kriegsbeteiligung zum Beispiel von den Gewerkschaften endlich entsorgt werden kann, ohne rot zu werden. Eine Frau der Gruppe sagt im Gespräch, sie stehen deshalb am Rande der Kundgebung, weil sie befürchteten, mit ihren Forderungen nicht gerade willkommen zu sein. Wie ihnen geht es noch anderen Akteuren, die Flugblätter verteilen oder Plakate gemalt haben mit Aufschriften wie: „Schluss mit Waffenlieferungen und Kriegsfinanzierung“, „Verhandeln statt Schießen“, „Den Frieden gewinnen, nicht den Krieg“.
Die Veranstalter, die Gruppierungen des Demobündnisses, schaffen es nicht einmal, die russischen Deserteure und Kriegsdienstverweigerer zu erwähnen, die unter hohem persönlichen Risiko ihren Beitrag leisten, den Krieg zu beenden. Dieses Verschweigen hat jedoch seine Logik, denn sonst müsste man auch über den Krieg und die deutsche Beteiligung reden. Und die müsste eigentlich zu elementaren Fragen führen: Was passiert mit den gelieferten Waffen genau? Wie werden sie verwendet? Treffen Berichte zu, dass damit auch Wohngebiete beschossen werden? Stimmt es, dass sie auch in die Hände der Mafia gelangen? Dass sie über die Grenze hinweg an Russen verkauft werden?
Wirtschaftssanktionen wiederum, das weiß man seit langem, treffen immer vor allem die Zivilbevölkerung und stabilisieren die herrschende Macht, hier Putins Staats- und Militärapparat.
Das Motto der Demonstrationen in den sechs Städten verknüpft stattdessen zwei andere Fragen: „Soziale Sicherheit schaffen“ und „Energiewende beschleunigen!“ Doch der Einsatz für Klimapolitik, die „Befreiung aus der fossilen Abhängigkeit“, erscheint wie ein Köder, eine Hilfskonstruktion, um die Beteiligung von Umweltinitiativen am Krieg wie am Wirtschaftskrieg guten Gewissens zu ermöglichen und das Embargo von russischem Gas und Öl mitzutragen.
Ganz regierungskonform soll auch das brisante Thema Atomkraft ausgeblendet werden. Schließlich stellt sich die Frage des Weiterbetriebs der Atomkraftwerke ja nur aufgrund des Gas- und Ölembargos. Ein Ende des Embargos würde auch die Atomstromdebatte beenden. Die hat nebenbei auch die AfD mit ins Boot geholt, die den Wiederaufbau einer Atomkraft-Industrie will. Kritik daran, dass die drei letzten Atomkraftwerke über den 31. Dezember 2022 hinweg weiterlaufen sollen, kommt von der unabhängigen Initiative „ausgestrahlt“, die sie offensiv in die Demonstration hineinträgt, obwohl sie nicht zu den Aufrufern zählt. Ganz am Ende der Kundgebung spricht eine Rednerin das Thema dann doch noch an.
Soziales und Krieg wird gegeneinander ausgespielt
Warum kann ein Bündnis aus DGB, Verdi, BUND, Greenpeace, attac, Campact oder Paritätischem Wohlfahrtsverband nicht mehr überzeugend mobilisieren? Weil das Publikum erkannt hat, dass mit einer Parole wie der vom „Solidarischen Herbst“ nur die – Achtung Modewort! – „hybride“ Kriegsunterstützung ummäntelt und der Begriff „Solidarität“ zweckentfremdet wird, was ganz nebenbei an die Corona-Politik erinnert?
Auffällig ist, dass nahezu dieselben Gruppierungen, die diese Corona-Politik kritiklos unterstützten, nun die Kriegspolitik kritiklos mittragen. Es ist – um im Bild zu bleiben – dieselbe Front.
Eine Nachricht ist deshalb auch, dass die Corona-Proteste, die nie wirklich aufgehört haben und derzeit wieder zunehmen, seit langem auch das Thema Krieg in ihre Agenda mit aufgenommen haben. Und neuerdings auch die sozialen Fragen Inflation, Teuerung, Energiekosten, Mietenproblem.
Im kleinen baden-württembergischen Brackenheim beispielsweise, wo inzwischen seit zwei Jahren ununterbrochen jeden Montag mehrere hundert Leute durch ihre Stadt ziehen, formuliert man folgende Forderungen: „Energiesicherheit und nachhaltig wirksame Maßnahmen gegen die Inflation“, „sofortiger Stopp von Waffenlieferungen und Wiederaufnahme diplomatischer Bemühungen“, „bedingungslose und vollumfängliche Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen“, „freie Impfentscheidung“, „sofortige Wiederherstellung neutraler, ausgewogener und kritischer Berichterstattung“.
Doch Campact und Co. verteufeln solche Proteste ungebrochen. Sie sagen zwar, die Regierung dürfe nicht Soziales und Ökologisches gegeneinander ausspielen, doch sie selber spielen Soziales und Krieg gegeneinander aus, Soziales und Corona. Das ist auch eine Form der Spaltung. Dabei ist eine der Fragen, die sich gegenwärtig stellen: Haben die Anti-Kriegs-Proteste und die Corona-Proteste nicht denselben politischen Kontext und Hintergrund? Steckt nicht in beiden das Aufbegehren gegen Regierungseliten, national wie international, deren Handeln für die Allgemeinheit zunehmend gefährlich und existentiell wird?
#Bild: Paul Lovis Wagner / Bündnis Solidarischer Herbst/CC BY-NC-2.0
Quelle: overton-magazin.de… vom 24. Oktober 2022
Tags: Arbeitswelt, Deutschland, Gewerkschaften, Imperialismus, Sozialdemokratie, Strategie, Widerstand
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