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Marschiert Russland nach Westen?

Eingereicht on 19. Juni 2024 – 9:31

Jürgen Hübschen. Die aktuelle Lagebeurteilung Russlands durch die Gesamtheit der amerikanischen Geheimdienste – und die Kassandrarufe westlicher Politiker.

Am 5. Februar 2024 wurde vom amerikanischen “Office of the Director of National Intelligence” der jährliche Bericht über die weltweiten Bedrohungen der nationalen Sicherheit der USA (Annual report of worldwide threats to the national security of the United States) veröffentlicht. In diesem “Annual threat Assessment of the U.S. Intelligence Community” heißt es zu einer möglichen Bedrohung durch Russland:

Russia almost certainly does not want a direct military conflict with U.S. and NATO forces. (Russland – annähernd sicher – will keinen direkten Konflikt mit amerikanischen und NATO Streitkräften.)

Im Klartext bedeutet diese geheimdienstliche Einschätzung, dass es annähernd ausgeschlossen ist, dass Russland ein NATO Land angreifen wird; denn nur dann würde es ja zu einem militärischen Konflikt mit amerikanischen oder NATO-Streitkräften kommen. Der Vollständigkeit halber sollte man allerdings hinzufügen, dass dies natürlich dann nicht gilt, wenn amerikanische oder NATO-Soldaten auf ukrainischem Territorium zum Einsatz kämen, was der französische Präsident Macron ja nicht ausgeschlossen hat.

Abgesehen von dem hiermit dargestellten „Sonderfall“ stellt sich also die Frage, warum amerikanische und auch europäische Politiker, ebenso wie der NATO-Generalsekretär, trotzdem immer wieder davor warnen, dass der Einmarsch Russlands in die Ukraine möglicherweise erst der Anfang der Expansionsbestrebungen von Präsident Putin sein könnte.

Sind diese Kassandrarufe berechtigt oder handelt es sich eher um eine gezielte Panikmache, um die Bevölkerung „des Westens“ davon zu überzeugen, dass höhere Verteidigungsausgaben unabdingbar sind und die vom deutschen Verteidigungsminister Boris Pistorius geforderte Kriegstüchtigkeit höchste Priorität haben muss.

Die Kompetenz der amerikanischen Geheimdienste

Die Geheimdienste der europäischen Staaten arbeiten sehr eng zusammen, und es gibt wohl keinen nationalen Geheimdienst in Europa, der letztlich nicht auf die Erkenntnisse der US- Dienste angewiesen wäre. Sicherlich verfügen der britische MI-6 oder auch der deutsche Bundesnachrichtendienst BND über eigene Quellen, aber kein europäischer Staat kann auf vergleichbare Aufklärungsmöglichkeiten zurückgreifen wie die USA. Man könnte also –einfach formuliert – sagen: Wenn die amerikanischen Geheimdienste es sagen, dann muss es ja wohl stimmen.

Von „Berufszweiflern“ wird in diesem Zusammenhang einschränkend immer wieder darauf hingewiesen, dass doch der israelische Geheimdienst Mossad die leistungsfähigste Spionage-Organisation Welt weit sei. Spätestens seit dem Anschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 dürften dahingehend erhebliche Bedenken entstanden sein. Bleibt die Frage, worauf sich verantwortliche Politiker in ihren Aussagen stützen, wenn sie behaupten, dass Russland die Freiheit der westlichen Welt bedrohe oder anders ausgedrückt, dass die Ukraine in ihrem Kampf gegen die russischen Streitkräfte die Freiheit Europas verteidige? Für diese Behauptungen nachfolgend lediglich zwei aktuelle Beispiele:

Die Schweizer Friedenskonferenz

Ein gutes Beispiel für die herbeigeredete russische Bedrohung Europas ist die Friedenskonferenz in der Schweiz, zu der man Russland gar nicht eingeladen hatte. Vielleicht war der Grund für diese Nichteinladung, dass sonst die Gefahr bestanden hätte, dass der Vertreter Russlands deutlich gemacht hätte, worum es Moskau bei dem Krieg in der Ukraine gehe und warum nicht. Damit will ich übrigens in keiner Weise den russischen Angriff auf die Ukraine rechtfertigen oder relativieren, aber möchte auf der anderen Seite die Position des ukrainischen Außenministeriums zurückweisen, das nach der Konferenz verlauten ließ:

„Russland plant keinen Frieden, sondern die Fortsetzung des Krieges, die Besetzung der Ukraine, die Vernichtung des ukrainischen Volkes und eine weitere Aggression in Europa.“

Die Beweise für die Behauptung, Moskau plane eine weitere Aggression in Europa, blieb das Ministerium – man könnte ergänzen: wie immer – schuldig.

Aktuelles Interview mit Außenministerin Baerbock

Am 17. Juni 2024 veröffentlichte die SZ ein Interview mit Außenministerin Baerbock. Darin sagte die Ministerin u.a.: `

„Wenn wir die Ukraine nicht unterstützen, dann gehen wir das Risiko ein, dass Putins Truppen an der Grenze zu Polen stehen. Da ist der Krieg schnell auf dem Gebiet von EU und NATO. Es ist kaum zu beziffern, wie viel es kosten würde, wenn wir unsere Freiheit selbst verteidigen müssten. Es geht letztlich auch um eins: Die Unterstützung der Ukraine hält den Krieg auch von uns weg.“

Mit dieser Aussage impliziert Frau Baerbock, dass in der Ukraine auch die Freiheit Deutschlands verteidigt wird, und das ist falsch. Wenn es nämlich wirklich so wäre, müsste die Bundesregierung deutsche Soldaten in die Ukraine schicken, weil – nach dem Grundgesetz – die Bundeswehr für die Verteidigung Deutschlands zuständig und verantwortlich ist.

Und noch eins: Russische Truppen stehen bereits jetzt im Kaliningrader Oblast an der 200 km langen Grenze zu Polen, was die Ministerin offensichtlich nicht weiß. In dem Interview heißt es weiter. „Putins Kriegsführung ist auch gegen uns gerichtet. Er will die Friedensordnung in Europa zerstören und damit so viele liberale Demokratien wie möglich…“ Konkrete Beweise für diese Behauptungen fügt die Ministerin nicht an.

Zusammenfassende Bewertung

Die Kassandrarufe europäischer und amerikanischer Politiker und s.g. Militärexperten stehen im klaren Widerspruch zu den vorliegenden Erkenntnissen der amerikanischen Geheimdienste und stützen sich in der Hauptsache auf zugegebenermaßen erstklassige PR-Aktionen und publikumswirksame Auftritte des ukrainischen Präsidenten, vor allem im Fernsehen und auf der internationalen Bühne. Man könnte auch sagen, auf die ukrainische Propaganda. Aus der Sicht Kiews ist dies die wirkungsvollste Vorgehensweise, die umfassende militärische Unterstützung durch „den Westen“ nicht nur weiterhin zu erhalten, sondern möglichst noch zu erhöhen. Die Hauptprofiteure dieser Strategie sind im „Westen“ die amerikanische und europäische Rüstungsindustrie. Aber auch für die Politiker „des Westens“ ist die Darstellung einer „aufgebauschten“ russischen Bedrohung gegenüber der eigenen Bevölkerung die beste Begründung für den immensen finanziellen Aufwand für Waffenlieferungen an die Ukraine und in Deutschland z.B. auch für die Beibehaltung des sozialen Sonderstatus der ukrainischen Flüchtlinge und die damit verbundenen finanziellen Leistungen.

Da es offensichtlich keinen europäischen oder auch amerikanischen Politiker gibt, der über andere gesicherte Erkenntnisse als die US-Geheimdienste verfügt, sollte die Politik sich exakt auf deren Bewertung stützen und alles dafür tun, den Krieg mit einer diplomatischen Initiative zu beenden anstatt die anti-russische Stimmung z. B. durch polemische Aussagen wie von Frau Strack-Zimmermann vor den Europawahlen ständig weiter anzuheizen mit Formulierungen wie: Putin sei ein Mörder. Er werde immer weiter voranschreiten, „wenn wir ihn in der Ukraine nicht stoppen“. Sollte er erfolgreich sein, werde er Georgien, Moldau und später auch das Baltikum angreifen. Der russische Präsident bringe sein Volk in Stellung gegen den Westen. Deshalb „müssen wir so schnell wie möglich verteidigungsfähig werden“.

Stattdessen sollte man dem Bundeskanzler in seiner abschließenden Bewertung der Schweizer Friedenskonferenz zustimmen, als er u.a. sagte: „Es ist wahr, dass der Frieden in der Ukraine nicht erreicht werden kann, ohne Russland miteinzubeziehen.“ Gleichzeitig sollte man ihn beim Wort nehmen und auffordern, die nächste Konferenz in Berlin durchzuführen und natürlich Russland dazu einzuladen.

Unbenommen davon – das ist überhaupt kein Widerspruch – sollte sich Europa darum bemühen, seine Verteidigungsfähigkeit als Abschreckung möglicher Gegner und für etwaige militärische Auseinandersetzungen zu stärken, allerdings ohne dabei Russland als Begründung zu instrumentalisieren. Die Wehrhaftigkeit demokratischer Staaten braucht als Motivation kein Feindbild.

#Titelbild: Simon Walker / No 10 Downing Street, OGL 3, via Wikimedia Commons

Quelle: overton-magazin.de… vom 19. Juni 2024

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