Landraub in der Ukraine – Die westlichen Agrarriesen beherrschen das Terrain
Hannes Hofbauer. Nach der Demokratischen Republik Kongo, Indonesien und Kamerun nimmt die Ukraine Platz vier im Ranking jener Länder ein, die den zweifelhaften Ruhm für sich in Anspruch nehmen, das meiste Agrarland in ausländische Hände gegeben zu haben. 1 Nirgendwo sonst in Europa ist der Landraub ähnlich weit fortgeschritten. Die Top 10 unter den Investoren sitzen in Luxemburg, den USA, Zypern, den Niederlanden und Saudi-Arabien. 2
Die „Kornkammer Europas“ verfügt über 33 Millionen Hektar Ackerland, das entspricht einem Drittel der gesamten landwirtschaftlichen Fläche der Europäischen Union beziehungsweise der Größe Deutschlands. Der überwiegende Teil davon ist fruchtbarster Schwarzerde-Boden. Für deren Eroberung zog einst bereits die Wehrmacht in den Osten. In strukturschwachen Gegenden des „Dritten Reichs“ wurden in den Jahren 1940/41 Kleinbauern dazu ausgebildet, dereinst als Gutsverwalter in der Ukraine slawische „Untermenschen“ auf die Getreidefelder zu treiben. Dafür fuhren ganze Güterzüge beladen mit ukrainischer Schwarzerde in deutsche Lande, um die Fruchtbarkeit des humusreichen Ackerlandes am Original testen zu können. 85 Jahre später sind es international agierende Konzerne, die sich die ukrainische Erde – diesmal ohne Rassentheorie – untertan machen.
Vom „Landgesetz“ zur IWF-Liberalisierung
Es war Leonid Krawtschuk in seiner Rolle als erster Präsident der eben erst für unabhängig erklärten Ukraine, der bereits im Januar 1992 ein „Landgesetz“ ratifizierte, das privates Eigentum an Grund und Boden ermöglichte – in Sowjetzeiten hatte es das nicht gegeben. Die dabei ins Leben gerufenen „Kollektiven Landwirtschaftsunternehmen“ blieben nicht lange in der Hand von örtlichen Bauern. Nach entsprechendem Druck des Internationalen Währungsfonds (IWF), die „Kollektive“ für Investoren zu öffnen, bildete sich rasch eine heimische
Oligarchenklasse.
Der schnelle Ausverkauf von Grund und Boden rief laute Proteste hervor und veranlasste Krawtschuks Nachfolger Leonid Kutschma zu einer Kurskorrektur. Mit dem „Bodenkodex 2768-III“ erließ die Werchowna Rada – das ukrainische Parlament – zum 1. Januar 2002 einen Privatisierungsstopp. Dieser sollte ursprünglich nur eine Legislaturperiode gelten, wurde aber in der Folge immer wieder verlängert;
bis Wolodymyr Selenskyj im Jahr 2020 das Moratorium zum Verkaufsverbot aufhob und sich ausländisches Kapital ungehindert Bahn brechen konnte.
Wesentliche Vorarbeit für die Liberalisierung des ukrainischen Bodenmarktes leistete das EU-Assoziierungsabkommen. Dieses hätte bereits im November 2013 vom damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch auf dem EU-Gipfel in Vilnius unterzeichnet werden sollen. Das Ziel des Vorhabens, die Ukraine wirtschaftlich (und militärisch) an Brüssel anzubinden und ihre Märkte für westliche Investoren zu öffnen, scheiterte vorerst am »Njet« des Präsidenten. Der darauffolgende Protest am Kiewer Majdan beziehungsweise seine Instrumentalisierung durch lokale Rechtsradikale und westliche Politiker führte zum verfassungswidrigen Regimewechsel im Februar 2014 und in der Folge zum Auseinanderbrechen des Staates. Erst drei Jahre später, Anfang September 2017, unterwarf der neue Machthaber, Präsident Petro Poroschenko, die Ukraine den Vorgaben aus Brüssel. Der wegen seiner Süßwarenfabriken als „Schokoladenkönig“ bekannte Poroschenko war zugleich Eigentümer eines Mischkonzerns, der neben Schiffbau- und Rüstungsunternehmen auch landwirtschaftliche Güter betrieb.
Als Abgeordnete der deutschen Partei Die Linke am 23. November 2023 eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung richteten, ob das EU-Assoziierungsabkommen die Liberalisierung und Privatisierung des ukrainischen Bodenmarktes erzwungen habe, lautete die Antwort lapidar: „Das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Ukraine andererseits vom 27. Juni 2014 3 verpflichtet die Vertragsparteien in den Artikeln 403 ff. zur Zusammenarbeit bei der Förderung der Entwicklung der Landwirtschaft und des ländlichen Raums.“ 4 Damit war auch klargestellt, was sich Brüssel (und Berlin) unter „Entwicklung der Landwirtschaft“ vorstellt.
Am 1. Januar 2024 trat die zweite Phase der Liberalisierung des Agrarsektors in Kraft. Nun dürfen ukrainische Bürger oder Unternehmen bis zu 10.000 Hektar privat bewirtschaften. Zum Vergleich: Der durchschnittliche landwirtschaftliche Betrieb in Deutschland ist gerade einmal 65 Hektar groß. Formal ist Ausländern der Erwerb von Grund und Boden in der Ukraine nach wie vor nicht gestattet. Neben anfänglicher komplizierter Strohmänner-Konstruktionen zur Umgehung des Gesetzes ist man mittlerweile dazu übergegangen, im großen Stil Pachtverträge abzuschließen. Die meisten von ihnen haben eine Laufzeit von 49 Jahren, ein Zeitraum, der sich für Investitionen lohnt. Daneben fungieren US-amerikanische Pensionsfonds, europäische Kapitalgesellschaften und Banken als Kreditgeber für ukrainische Unternehmen, die im Agro-Business tätig sind.
Die ukrainischen Schwarzerde-Böden sind billig zu haben. Die Preisdifferenz zu fruchtbarem Ackerland beispielsweise in Deutschland oder Österreich ist extrem.
Während ein Hektar zwischen Mecklenburg und Bayern je nach Gunstlage für 30.000 bis 70.000 Euro zu haben ist, kann man eine mindestens so ertragreiche Fläche in der Ukraine für 2000 bis 3000 Euro kaufen, also um das 10- bis 20-fache billiger. 5
Die großen Player
An der Spitze der Agrargiganten steht UkrLandFarming mit seinem geschäftsführenden Vorstandsvorsitzenden Oleg Bakhmatyuk. Das Unternehmen hat 670.000 Hektar Ackerland unter dem Pflug. Registriert in Zypern, ist es auf der „Irish Stock Exchange“, der größten Wertpapierbörse Irlands, gelistet. Der 50-jährige Bakhmatyuk ging eine Kapital-Allianz mit Cargill ein, einem der weltweit führenden Nahrungs- und Futtermittelkonzerne. Mit der Agroholding Avangard, einer Tochter von UkrLandFarming, verfügt der Oligarch zudem über Europas größten Eierproduzenten mit knapp 20 Millionen Legehennen.
Hinter UkrLandFarming rangiert die Kernel Holding auf Platz zwei der ukrainischen Agrarriesen. Aus 530.000 Hektar Land werden im Jahr zwischen 3,1 und 3,3 Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten herausgepresst. CEO Andrej Verenskji ist Mehrheitseigentümer des Konzerns und zählt zu den zehn reichsten Männern der Ukraine. Die Kernel Holding ist in Luxemburg registriert und gilt als weltgrößter Erzeuger von Sonnenblumenöl. Zur Überwachung und Absicherung seiner Produktionsflächen ist der Konzern eine Partnerschaft mit „NASA Harvest“ eingegangen, einer Abteilung der US-Raumfahrtbehörde, die damit ihr Satellitenprogramm in der Ukraine zum Einsatz bringen kann.
UkrLandFarming und Kernel weisen ukrainische Oligarchen als Mehrheitseigentümer aus. Hinter ihnen stehen westliche Kapitalgesellschaften oder Branchenkonzerne, die mittels Kreditverträgen eine bestimmende Position innehaben. So war beispielsweise die Deutsche Bank schon zu Beginn der Privatisierung (damals noch zusammen mit der russischen Sber Bank) mit einem dreistelligen US-Dollar-Kredit zur Stelle, um dem Oligarchen Bakhmatyuk unter die Arme zu greifen. 6
Den ukrainischen Agrarsektor als Goldgrube haben auch die Vanguard Group, die Banque Nationale de Paris, Goldman Sachs, der norwegische Staatsfonds Norges Bank und eine Reihe anderer Finanzdienstleister und Banken erkannt und beteiligen sich eifrig.
Immer mehr westliche Kapitalgruppen kommen ohne den Schutz ukrainischer Oligarchen aus, die allesamt zudem mit der Politik gut vernetzt sind und oft nebenher als Abgeordnete im Parlament sitzen. NCH Capital mit Sitz in New York ist dafür ein herausragendes Beispiel. Die milliardenschwere Private-Equity-Gruppe verwaltet unter anderem große Pensionsfonds in den USA wie jenen des Rüstungsbetriebs Lockheed oder des Chemiekonzerns Dow Chemical, aber auch von Universitäten in Harvard und Michigan. Dieses Geld investiert NCH Capital vornehmlich ins Agrobusiness. Mit dem Spruch „Feeding the World“ begrüßt einen die firmeneigene Homepage und weist in der Folge stolz darauf hin, dass sie mit bei den Ersten war, die Osteuropa nach der politischen Wende ökonomisch eroberten: „NCH Capital gehörte in den 1990er Jahren zu den ersten westlichen Investoren in Osteuropa und machte seine ersten Investitionen im Agrarsektor vor über 20 Jahren. Heute verwalten wir nicht nur andere Sachwerte und Private-Equity-Portfolios, sondern sind auch einer der weltweit größten Investoren und Betreiber von Agrarunternehmen.“ 7
Tatsächlich spielte NCH Capital eine Schlüsselrolle bei der ukrainischen Landreform. Ihr Gründer George Rohr, auf Wikipedia als „American businessman and philanthropist“ angeführt, war nach dem Maidan im Jahr 2015 zusammen mit US-Handelsministerin Penny Pritzker bei Präsident Poroschenko zu Gesprächen, die über das angebotene Zuckerbrot eines Milliardenkredits des IWF zur Liberalisierung des Bodenmarktes führten. 8 Die 300.000 Hektar bestes ukrainisches Ackerland hat NHC Capital über Pachtverträge zusammengesammelt und agiert damit ähnlich wie der Public Investment Fund (PIF) aus Saudi-Arabien, der mit einem Vermögen von 900 Milliarden US-Dollar die Liste der Staatsfonds in der Welt anführt. PIF lässt Jahr für Jahr ebenfalls fast 300.000 Hektar Schwarzerde-Böden abernten.
Die Politik
„Wir müssen viel schneller handeln als vor dem Krieg. Die Wirtschaft lässt sich nicht von Gefühlen leiten. Wir brauchen praktizierbare Regeln, nicht schlechter als in Ländern, in denen die Menschen bereit sind zu investieren. Unsere Gesetzgebung und unsere Agrarwirtschaft müssen für den maximalen globalen Wettbewerb gerüstet sein.“ 9 Dergestalt drückte der ukrainische Landwirtschaftsminister Mikola Solskji auf die Tube, um schneller und schneller zu werden im Rennen um den höchstmöglichen Ausverkauf der Schwarzerde-Böden. Die kleinen Bauern müssten keine Angst vor den Agrarriesen aus dem Westen haben, erzählte er Anfang Januar 2024 der Tageszeitung Kyiv Independent. Das neue Liberalisierungsgesetz diene nur „der Errichtung eines transparenten Mechanismus, um Geschäfte und Investitionen besser entwickeln zu können“. 10 Über die Parteiliste von Präsident Selenskyj – „Diener des Volkes“ – hatte es Solskji im Jahr 2019 ins ukrainische Parlament und von dort auf den Ministersessel geschafft. Als Gründer einer Agrargesellschaft, die über 51.000 Hektar Land verfügte, schien er der geeignete Mann für diesen Posten.
Im April 2024 fiel Solskji dann die von ihm viel gepriesene Transparenz auf die Füße. Angesichts der ukrainischen Machenschaften im Kampf um Grund und Boden stolperte er über eine vergleichsweise Kleinigkeit. Das Antikorruptionsbüro der Ukraine NABU will ihm nachgewiesen haben, dass er für seine Agrargesellschaft insgesamt 2500 Hektar Staatsland illegal einkassiert hatte, womit er sich um 7,3 Millionen US-Dollar bereichert hätte. Kurzem Leugnen folgten sein Rücktritt als Minister und seine Festnahme. Mit schlappen 75 Millionen Griwna (1,9 Millionen US-Dollar) Kautionssumme kam er vorläufig frei. Sein Nachfolger setzt den Kurs im Dienst der stärksten Kapitalgruppen unbeirrt fort.
Der Bauer im Feld, der Konzern bei der Ernte
„Shakeout“ lautete in den Nullerjahren der gängige Begriff im neoliberalen Neusprech, wenn es darum ging, die landwirtschaftlich arbeitende Bevölkerung im Agrarland Polen von der Scholle zu vertreiben. 2006 wies die von Brüssel geführte Statistik für Polen noch 27 Prozent aus, die von ihrem Ackerland lebten, das durchschnittlich 5 bis 7 Hektar betrug. „Kommerzielle Farmer können nur erfolgreich bestehen, wenn die Bauern ausgelöscht werden“, schrieb bereits 1999 das Wirtschaftsmagazin Business Central Europe. 11 Innerhalb von 15 Jahren sank der Anteil der Bauern an der polnischen Gesamtbevölkerung auf heute 8 Prozent.
Das Shakeout in der Ukraine geht schneller und vor allem brutaler vor sich. Acht Millionen kleine und mittelgroße Bauernhöfe existierten dort vor dem Krieg. Neben dem Druck von IWF und Großkonzernen ist es vor allem der Krieg, der der landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung im wahrsten Sinn des Wortes zu Leibe rückt. Denn während die Bauern als Soldaten im Feld sterben, fahren die Agrarriesen die Ernte ein. „Heute kämpfen und sterben Tausende von jungen Bauern im Krieg. Sie haben alles verloren. Gleichzeitig schreitet der Verkauf von Grund und Boden zügig voran“ 12, schreibt Olena Borodina von der ukrainischen Akademie der Wissenschaften, eine der wenigen kritischen Intellektuellen, die sich gegen den Landraub zu Wort melden. Die Ironie dieser Entwicklung besteht darin, dass Hunderttausende Bauern für ein Land in den Schützengräben sterben, das in der Folge nicht mehr sie, sondern ausländische Agrarriesen bewirtschaften werden.
Proteste dagegen können wegen des Kriegsrechts nicht stattfinden. Das bedauert der Vorsitzende der Union der ukrainischen Kleinbauern, Wiktor Scheremeta. Gegenüber der Schweizer Neuen Zürcher Zeitung 13 sagte er: „Da bahnt sich eine Katastrophe für die Kleinbauern an“, der „Ausverkauf mit fragwürdigen Methoden“ würde „die Kleinbauern in den Ruin treiben“. Im Jahr 2021 waren einer Umfrage der Nachrichtenagentur Interfax zufolge zwei Drittel der UkrainerInnen strikt gegen die Privatisierung von Grund und Boden. Auf die konkrete Frage „Unterstützen Sie die Einführung eines Marktes für den Kauf oder Verkauf von landwirtschaftlichen Flächen in der Ukraine?“ antworteten 64 Prozent mit Nein. 14 Ein damals geplantes Referendum kam nie zustande. Es fiel dem Kriegsrecht zum Opfer.
Fussnoten
1 https://fr.statista.com/infographie/19092/pays-les-plus-touches-par-accaparement-des-terres-superficie-cedee– investisseurs-etrangers/
2 The Oakland Institute, War and Theft. The Takeover of Ukraine’s Agricultural Land, Oakland 2023, S. 8
3 Unterzeichnet wurde es durch Kiew erst im September 2017
4 www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-977442
small-farmers
6 https://concorde.ua/en/ukrlandfarming-restructures-usd-200-mln-loan/
8 The Oakland Institute, War and Theft. The Takeover of Ukraine’s Agricultural Land, Oakland 2023, S. 9
among-small-scale-farmers/ 10 ebenda
11 Business Central Europe, Wien, Februar 1999, S. 42
12 The Oakland Institute, War and Theft. The Takeover of Ukraine’s Agricultural Land, Oakland 2023, S. 5 13 www.nzz.ch/wirtschaft/ukraine-wem-gehoert-die-schwarze-erde-ld.1779063
14 https://en.interfax.com.ua/news/press-conference/743689.html
Quelle: intergrund.de… vom 14. Februar 2025
Tags: Arbeitswelt, Imperialismus, Neoliberalismus, Ökologie, Politische Ökonomie, Ukraine
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