Frankreich: Massenproteste gegen Rassismus und Polizeiterror
Bernard Schmid. Verboten, aber stattgefunden: Zwei größere Veranstaltungen mit v.a. antirassistischem Charakter haben in Paris stattgefunden. Trotz quasi allgemeinen Versammlungsverbots bis (mindestens) zum 10. Juli 20.
Es ist gar zu bequem für die französische Regierung: Während seit dem gestrigen Dienstag, den 02. Juni 20 die Restaurants, Bars und Gaststätten im Land wieder servieren dürfen – allerdings nur im Freien -, die Parks wieder öffnen und sich Mengen am Seine-Ufer oder an den Kanälen drängen, bleiben Versammlungen unter freiem Himmel und Kundgebungen „mit mehr als zehn Personen“ (also ab elf) verboten.
Die Grundlage dafür liefert Artikel 7 des Regierungsdekrets Nummer 2020-548 vom 11.05.2020, verabschiedet auf Grundlage des „Gesetzes zum sanitären Ausnahmezustand“ – neue Version, infolge der Aufhebung der individuellen Ausgangsbeschränkungen – vom selben Datum (Gesetz n° 2020-546). Ausnahmsweise kann die Präfektur, d.h. die juristische Vertretung des Zentralstaats im Département, jedoch Versammlungen genehmigen, sofern diese „zur Fortführung des Lebens der Nation unabdingbar“ erscheinen. Man darf darauf vertrauen, dass die Präfekturen bei Protestveranstaltungen welcher Natur auch immer – nun ja – nicht zwingend der Auffassung sind, dieses Kriterium sei erfüllt.
Selbst die konservative Opposition, in Gestalt des Fraktionsvorsitzenden der stärksten Oppositionspartei in der Nationalversammlung (LR, Les Républicains, bürgerliche Rechte) – Damien Abad – in einem Interview mit der Tageszeitung Le Parisien vom 29.05.20, kritisierte inzwischen die Fortdauer dieses Versammlungsverbots und forderte dessen Aufhebung. (So lange die Brüder in der Opposition hocken, zeigen sie manchmal kritische Anwandlungen…) Vom linken Gewerkschaftszusammenschluss Union syndicale Solidaires gibt es eine Erklärung zum Thema: https://solidaires.org/Deconfinement-phase-2-presque-tous-les-droits-sauf-celui-de-manifester
Nun war jedoch seit mehreren Wochen eine Protestdemonstration in Paris für den Samstag, den 30.05.2020 unter dem Titel La marche des solidarités angekündigt. Üblicherweise gibt es alljährlich ein Mobilisierungsdatum unter diesem Titel am dritten Märzwochenende, es geht dabei i.d.R. um Antirassismus und Polizeigewalt. Aufgrund der Unmöglichkeit, Mitte März dieses Jahres im Lock-down zu demonstrieren, wurde der Termin dann für die Zeit nach dem déconfinement (der Aufhebung individueller Ausgangsbeschränkungen) neu anberaumt. Thematisch wurde der Aufruf ferner auf die sanitären Risiken – im Aufruf wurde es die „sanitäre Bombe“ benannt – im Zusammenhang mit der Covid-19-Epidemie zugeschnitten, so ging es um Ansteckungsrisiken für Menschen, die sich mehr oder weniger auf engen Raum gedrängt in Abschiebehaftzentren, in Migrantenwohnheimen oder in informellen Unterbringungen befinden. Letzterer Ausdruck bezieht sich insbesondere auf die 300 Menschen (überwiegend Westafrikaner) in der Pariser Vorstadt Montreuil, die infolge der Gewalteskalation in Libyen nach 2011 von dort nach Frankreich kamen, lange Zeit bis zu dessen Abriss in einem Wohnheim lebten und seitdem jahrelang in einem informellen Wohngebäude ausharren müssen. Das sanitäre Risiko im Zusammenhang mit der Ansteckungsgefahr ist hoch, doch zahlreiche Appelle auch von Bürgerinitiativen und NGOs für eine Unterbringung dieser Menschen fruchteten nichts. (Die erste verbotene, doch durchgesetzte Demonstration mit 100 Menschen fand im April d.J. deswegen in Montreuil statt, unter Wahrung von Sicherheitsabständen und mit Masken.)
Die Pariser Polizeipräfektur hätte die für den 30. Mai 20 geplante Demonstration autorisieren (zulassen) können, da die Organisator/inn/en ihr genaue Angebote für eine den sanitären Erfordernissen konforme Ausrichtung derselben unterbreitet hatte: eine Aufteilung in kleine Gruppen über eine größere Strecken, mehrere räumlich voneinander getrennte Auftaktorte, Maskentragen, Verteilung von Händewaschgel… (Nein, mit den „Masken weg“-Demonstrationen unter anderem rechter Spinner im deutschsprachigen Raum hatte dies definitiv nichs zu tun!) Doch die Polizeipräfektur schaltete auf stur und bekräftigte das Verbot in einer expliziten Entscheidung, die trotz Eil-Verwaltungsklage vor dem Pariser Verwaltungsgericht dann auch gerichtlich bestätigt wurde.
Nun hätte man denken können, dass diese Demonstration notgedrungen nicht stattfindet, oder aber dass der Versuch zu ihrer Abhaltung mit Strafzetteln, Platzverweisen oder Festnahmen endet. Die Organisator/inn/en publizierten allerdings eine „Antwort an die Polizeipräfektur“, in welcher sie ihre sanitären und anderen Erwägungen nochmals öffentlich darlegten, und behielten ihren Aufruf zur Demo aufrecht. (Vgl. https://blogs.mediapart.fr/marche-des-solidarites/blog/200520/manifestation-du-30-mai-reponse-la-prefecture) Es blieb dann jedoch bei einem einzigen Auftaktort, am Pariser Opernplatz, Zum Auftakt am Samstag um 15 Uhr setzte es erst einmal eine Ladung Tränengas, doch der Andrang – möglicherweise sogar noch beflügelt durch das, als ungerecht wahrgenommene Verbot – erwies sich schnell als so bedeutend, dass die Polizei durch von allen Seiten herandrängende Menschen überfordert wurde. Über 5.000 Menschen, die Veranstalter/innen würden im Anschluss von 10.000 Teilnehmer/inne/n sprechen, formten einen stattlichen Demonstrationszug. (Vgl. dazu die Fotos) Über diesem kreiste zwar stundenlang ein Hubschrauber, dennoch ging der Protestzug bis zur Ankunft auf der Pariser place de la République ungehindert vonstatten.
Zum Ausklang wurde am Ende des Tages bekannt, insgesamt seien jedoch 98 Festnahmen erfolgt, hauptsächlich nach Abschluss der Veranstaltung unter Personen, die sich nicht relativ rasch vom Ankunftsort zu entfernen versucht hatten. Diese wurden auf mehrere Polizeiwachen, im 18. und 12. Pariser Bezirk, verteilt. Am Abend gegen 21 Uhr wurde jedoch bekannt, alle Festgenommen seien freigekommen, allem Anschein nach ohne Strafverfolgung mit einer einzigen Ausnahme.
Am gestrigen Dienstag Abend (02. Juni 20) ab 19 Uhr rief ein neuer Appell zum Demonstrierten vor dem Pariser Justizpalast im 17. Arrondissement auf. Der Anlass war ein doppelter: zum Einen die Revolte in den USA infolge des gewaltsam verursachten Todes von George Floyd, zum Anderen die zeitgleiche Veröffentlichung eines offiziellen Justizgutachtens, dem zufolge die Gendarmeriebeamten in der Pariser Vorstadt Persan-Beaumont im Juli 2016 den Tod des (auf dem Weg zum Gebäude der Gendarmerie mutmaßlich erstickten) 24jährigen Adama Traoré nicht verschuldet hätten. Der „Fall Adama Traoré“ ist in den letzten vier Jahren zur in der Öffentlichkeit am stärksten sichtbaren Affâre, anhand derer Polizeigewalt – mit möglicherweise bzw. mutmaßlich rassistischem Hintergrund – thematisiert wird und zu dem es immer wieder zu Protestmobilisierungen kommt. (Vgl. dazu u.a.: https://www.labournet.de/internationales/frankreich/soziale_konflikte-frankreich/kein-sommerloch-frankreich-polizeigewalt-protest-und-gelbwesten-bleiben-aktuell/) Adama Traoré, sportlich durchtrainiert, soll demnach an einem (unentdeckten) Herzfehler verstorben sein. Am gestrigen Dienstag legte die Familie dazu ein, von ihr bestelltes und privat bzw. dank Spendengeldern bezahltes, Gegengutachten vor, das klar von Erstickungstod spricht.
Ab 17.30 Uhr befand sich bereits eine zahlreiche und aggressiv aufgeheizt wirkende Polizei vor Ort, anderthalb Stunden vor Kundgebungsbeginn. Einzelne Beobachter/innen bereiteten sich bereits darauf vor, die Demonstration werde zum „Laufen ins Messer“. Doch dann strömten vor und vor allem nach 19 Uhr die Menschen in solchen Massen herbei, dass die Einsatzkräfte auf das Hoffnungsloseste überfordert waren. Vielleicht dreißig Prozent der Teilnehmenden waren schwarz, wie auch die Opfer Adama Traoré und Georg Floyd, doch die Gesamtzusammensetzung war bunt durchmischt.
Unsere Photos sollen einen ersten Eindruck erwecken. Zum Rest der Ereignisse kurz zusammenfassend: Die Teilnehmer/innen waren in ihrer überwiegenden Mehrheit absolut friedlich. Im Laufe des Abends, gegen 21 Uhr, brannte jedoch in Clichy-la-Garenne – in wenigen hundert Metern Entfernung vom Justizpalast, in der nahegelegenen nordwestlichen Pariser Trabantenstadtzone – ein Polizeikommissariat. Circa eine halbe Stunde später setzte die Polizei auf der Kreuzung in der Nähe des Gerichtssitzes kurzzeitig Tränengas ein, um die Menge in Richtung Westen abzudrängen. Anderthalb Stunden lang strömten die Menschen ununterbrochen über die Boulevards in Richtung Westen (17./18. Bezirk) zurück. Kleinere Gruppe lieferten sich gegen 23 Uhr noch Scharmützeln mit den Polizeikräften, ein Wasserwerfer rollte gegen 23 Uhr durch den Norden des Pariser Stadtgebiets. Seitdem beschäftigen die Ereignisse, unter ihren diversen Aspekten, die Medien ausgiebig. Am Mittwoch (03.06.20) gegen elf Uhr beharkten sih die Polizeigewerkschafterin Linda Kebbab (Force Ouvrière/FO bei der Polizei) und der Anwalt der Familie von Adama Traoré, Yassine Bouzrou, heftig beim Privatfernsehsender BFM TV: (Kebbab) : „Was Sie hier machen, Herr Bouzrou, ist dasselbe, was die extreme Rechte mit den Muslimen tut!“ (Dies sollte bedeuten: Anti-Polizei-Rassismus zu schüren…) (RA Bouzrou:) „Sie sind eine Ignoratin. Wenn man keine Ahnung von einem Fall hat, hält man den Mund. Sie haben soeben Quatsch daher geredet…“ (Nachdem die Polizeidame behauptet hatte, die Unschuld der Gendarmen am Tod von Adama Traoré sei bereits erwiesen, wozu es noch keinerlei Gerichtsentschluss gibt.) (Kebbab🙂 „Ich sage nicht, dass die Gendarmen vollständig unschuldig seien.“
Usw.usf. … Wir bleiben am Ball…
Quelle: labournet.de… vom 3. Juni 2020
Tags: Arbeiterbewegung, Frankreich, Gewerkschaften, Rassismus, Repression, USA, Widerstand
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