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Der Ukraine-Krieg und die Trends zu Krisen, Kriegen und Revolutionen

Eingereicht on 13. Juni 2022 – 21:04

Claudia Cinatti. Der Krieg in der Ukraine bestätigt, dass mit der kapitalistischen Krise von 2008, die der langanhaltenden neoliberalen Hegemonie ein Ende setzte, verschärft durch die Pandemie und die Umweltkrise, eine Periode eröffnet wurde, in der die tiefgreifenden Tendenzen der imperialistischen Epoche der Kriege, Krisen und Revolutionen (Lenin) wieder auf der Tagesordnung sind.

In den 1920er Jahren analysierte Trotzki die Perspektiven der internationalen Situation im Sinne des «kapitalistischen Gleichgewichts», eines dynamischen Konzepts, das sich aus der Betrachtung der internationalen Situation als Gesamtheit, als dialektische Beziehung zwischen Wirtschaft, Geopolitik und Klassenkampf ergab, um die tieferen Tendenzen zu verstehen, die dieses instabile Gleichgewicht durchbrechen könnten.

Wenn man diese Definitionen Trotzkis aufgreift, zeigen die strategischen Konsequenzen des Ukraine-Krieges, dass wir zumindest mit einer erheblichen Verschlechterung (Bruch?) des «kapitalistischen Gleichgewichts» konfrontiert sind, was bedeutet, dass sich die Spielräume für eine evolutionäre Entwicklung verringern und dass Krisen, der Militarismus der Grossmächte sowie Tendenzen von Revolution und Konterrevolution in die Logik der Entwicklung eingeschrieben sind.

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine/NATO ist der gravierende Faktor in der internationalen Lage und wird dies auch in der nächsten Zeit bleiben. Die Tatsache, dass die Entwicklung und die letztendliche Lösung nicht genau vorhergesehen werden können, bedeutet, dass wir die Analyse der internationalen Situation auf der Grundlage von Hypothesen und Szenarien angehen müssen, die je nach Entwicklung der Ereignisse angepasst werden müssen.

Trotz dieses erheblichen Masses an Unbestimmtheit ist klar, dass es sich um einen Konflikt mit einer strategischen Dimension handelt, der bereits zu geopolitischen Neuordnungen und Wendungen von historischer Bedeutung geführt hat, wie die Wiederaufrüstung Deutschlands oder die Aufgabe der Neutralität durch Schweden und Finnland, die ihre Aufnahme in das von den Vereinigten Staaten hegemonial geführte Atlantische Bündnis forderten.

Kurzfristig profitiert die Regierung von Joe Biden vom Krieg in der Ukraine und nutzt die russische Invasion, um die Hegemonie der USA gegenüber den Mächten der Europäischen Union wiederherzustellen, mit Blick auf den Konflikt mit China, das die grösste Herausforderung für die Führungsrolle der USA darstellt. Die Aussicht auf einen langwierigen Krieg, der das wahrscheinlichste Szenario zu sein scheint, belastet jedoch den westlichen Block und bringt die konkurrierenden Interessen der imperialistischen Mächte zum Vorschein.

Aber auch ausserhalb des «Westens» hat der Krieg die Grenzen der US-Führung aufgezeigt. Die USA waren nicht in der Lage, andere wichtige Verbündete wie Indien, Mexiko und Brasilien zu einer automatischen Einordnung auf die Spur des US-Imperialismus zu bewegen, einschliesslich strategischer Verbündeter wie Israel, die sich aus verschiedenen Gründen den USA bei der Abstimmung gegen Russland in der UNO nicht angeschlossen haben.

Kurz gesagt, der Krieg in der Ukraine ermöglichte kurzfristig eine Stärkung der US-Führung, die durch den chaotischen Rückzug aus Afghanistan und die Jahre der Präsidentschaft Trumps geschwächt war, aber er allein reicht nicht aus, um den hegemonialen Niedergang umzukehren und eine «neue Weltordnung unter Führung des US-Imperialismus» zu schaffen, wie Biden behauptet.

Als Gegenstück zur Neuordnung der westlichen Mächte zu einer «Anti-Putin»-Front hat sich zwischen China und Russland formell ein Bündnis gebildet, eine Partnerschaft mit eurasischer Projektion, die in erster Linie auf der Opposition gegen die US-Führung und nicht auf gemeinsamen strategischen Interessen beruht. Dies zeigt sich darin, dass das Bündnis mit Russland China in eine unangenehme Lage gebracht hat, da es kein Interesse an einem langwierigen Krieg hat, der es von seinen europäischen Märkten entfernt und seine ehrgeizige Belt and Road Initiative in Frage stellt. Deshalb versucht die Regierung von Xi Jinping, eine relativ zweideutige Position im Krieg in der Ukraine einzunehmen, indem sie Putin bei der Rechtfertigung des Einmarsches und vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet unterstützt, um den Sanktionen entgegenzuwirken, ohne sich jedoch auf Russland einzulassen, wie es die imperialistischen Mächte hinter Zelenskis Regierung tun.

Die globale Dimension des Krieges geht über die geopolitische Sphäre hinaus

Die von den USA und der EU gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen und die Tatsache, dass zwei der weltweit führenden Exporteure von Getreide (und im Falle Russlands von Öl, Gas und Düngemitteln) in den Krieg verwickelt sind, hatten unmittelbare Auswirkungen auf die Weltwirtschaft, die sich immer noch nicht von der durch die Coronavirus-Krise ausgelösten Depression erholt hat.

Die Inflation, die nicht zuletzt aufgrund von Unterbrechungen der Lieferketten und der Merkmale der Erholung nach der Pandemie bereits im Ansteigen begriffen war, erreicht in den Kernländern Rekordwerte. In der Eurozone lag sie bei durchschnittlich 7,5 % (mit Spitzenwerten wie 11,9 % in den Niederlanden und 9,5 % in Spanien) und erreichte in den USA 8,5 %; dies sind die höchsten Raten seit vier Jahrzehnten.

Die in Davos versammelten IWF-Beamten, Präsidenten und Premierminister der imperialistischen Mächte und sogar die Grossbourgeoisie kündigen Rezessionen, Nahrungsmittelkatastrophen, Hungersnöte und Schuldenkrisen in den Schwellenländern an. Die geldpolitischen Restriktionsmassnahmen wie die Anhebung der Zinssätze, die die US-Notenbank und andere Zentralbanken zur Eindämmung der Inflation ergriffen haben, machen die Gefahr einer «Stagflation», d. h. einer wirtschaftlichen Stagnation mit Inflation, greifbar. In diesem Zusammenhang haben die Verlangsamung des chinesischen Wachstums, die durch Xi Jinpings «Zero-Covid»-Politik noch verschärft wurde, und die Handelsbeschränkungen (Sanktionen, Zölle usw.) die bedrohliche Aussicht auf eine weltweite Rezession wieder aufkommen lassen, auch wenn dies im Moment noch nicht eingetroffen ist. Die Märkte haben diese Befürchtungen mit erheblichen Kursverlusten, insbesondere bei Technologieunternehmen, aufgegriffen.

Der Krieg vertiefte die sich bereits abzeichnenden Tendenzen. Die Erschöpfung (oder zumindest die tiefe Krise) der neoliberalen Globalisierung, die durch die Grosse Rezession von 2008 deutlich wurde, führte zum Aufkommen nationalistischer und protektionistischer Tendenzen in den Kernländern – Trump in den USA, Brexit und souveränistische Tendenzen in der EU –, deren soziale und wahlpolitische Basis die von der Globalisierungspolitik in Mitleidenschaft gezogene Sektoren sind. Die US-amerikanische Offensive gegen Europa dürfte die Entwicklung dieser souveränistischen Tendenzen (auf der Rechten, aber auch auf der Linken) fördern.

Dennoch gibt es eine tiefgreifende Internationalisierung des Kapitals, sowohl in der Produktion (Wertschöpfungsketten) als auch im Handel, im Finanzwesen und in der Kommunikation, die sich ständig neu zusammensetzt. Die wirtschaftliche Stagnation führt in diesem komplexen Gefüge zu einem stärkeren Wettbewerb zwischen Staaten und Unternehmen um die Akkumulationsräume, was zu einer Kluft zwischen den herrschenden Klassen selbst führt, im Gegensatz zur hegemonialen Phase der neoliberalen Globalisierung (zwischen den 1990er Jahren und 2008).

Die Bourgeoisie bereitet Massnahmen vor, um die Arbeiterklasse für die Krise zahlen zu lassen, indem sie die Löhne und die Beschäftigung angreift. Ihre Ökonomen argumentieren offen, dass es notwendig ist, die Löhne zu senken und die Arbeitslosenquote zu erhöhen, um die Inflation zu senken und die Rentabilität wiederherzustellen. Doch wie andere Wirtschaftswissenschaftler, auch solche der entgegengesetzten ideologischen Richtung wie M. Roberts und Adam Tooze, gezeigt haben, sind nicht die Löhne, sondern die Unternehmensgewinne der Motor der Inflation in den USA.

Der Krieg in der Ukraine verschärfte die durch die Pandemie geschaffenen Bedingungen, die die soziale Ungleichheit vertieften und das Leben von Millionen von Arbeitnern unsicherer machten, während eine Handvoll Reicher ihre Gewinne in grösserem Umfang als in den vergangenen zwei Jahrzehnten steigerte.

Diese explosive Situation schafft die Voraussetzungen für soziale Ausbrüche, Hungerrevolten und Preissteigerungen, aber auch für Kämpfe der organisierten Arbeiterbewegung. Die Arbeiter- und Volksrevolte in Sri Lanka gegen die Sparpolitik, die Bauernkämpfe in Peru, die wilden Streiks der Ölarbeiter in Grossbritannien und vor allem der Prozess des Kampfes und der Organisierung einer breiten Avantgarde der Arbeiterbewegung in den USA sind einige Anzeichen dafür, dass der Klassenkampf ein Akteur in dieser neuen konvulsiven Phase sein wird.

In diesem Rahmen ist es notwendig, die Bedeutung des gegenwärtigen Krieges zu verstehen. Es ist nicht so, dass es früher keine Kriege gegeben hätte. Im Gegenteil. Mit dem amerikanischen Triumph im Kalten Krieg begann nicht die Ära der «friedlichen Globalisierung». Neben den imperialistischen Kriegen im Irak und in Afghanistan (und dem Krieg gegen den Terrorismus als Strategie) gab und gibt es zahlreiche regionale Konflikte (Jemen, Israel-Palästina-Libanon), in die Grossmächte eingreifen, wie z.B. der Bürgerkrieg in Syrien. Sogar schreckliche Kriege auf europäischem Boden, wie die Balkankriege. Im Allgemeinen handelte es sich jedoch um asymmetrische Kriege oder um begrenzte Konflikte. Der Krieg in der Ukraine hebt sich von diesen Kriegen in seiner globalen Dimension ab.

Über den Charakter des Krieges

Bevor die Elemente der Analyse entwickelt werden, scheint es wichtig, die Definition des Charakters des Krieges zusammenzufassen, da es sich um eine komplexe Tatsache handelt, die die Linke international gespalten hat und eine grundlegende programmatisch-strategische Diskussion eröffnet hat.

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat einen zutiefst reaktionären Charakter und ist typisch für den «Militärimperialismus», auch wenn Russland aufgrund der Grösse seiner Wirtschaft und seiner Rolle im Weltsystem keine imperialistische Macht ist. Diese Invasion und dieser Krieg finden im geopolitischen und historischen Kontext einer feindseligen US-Politik gegenüber Russland statt, die in der Osterweiterung der NATO und insbesondere in den Beziehungen zwischen den USA (und der EU) und der Ukraine nach dem Maidan-Aufstand von 2014 zum Ausdruck kommt und ohne die sie nicht verstanden werden kann.

Historisch gesehen wurde die Aussenpolitik des US-Imperialismus von dem Ziel geleitet, das Entstehen eines «feindlichen Hegemons» zu verhindern, der ihm die Weltherrschaft streitig machen könnte. Diese Politik verfolgte zwei zentrale Ziele: Erstens sollte ein Bündnis zwischen Europa (insbesondere Deutschland) und Russland verhindert werden. In diesem Sinne ist die NATO der militärische Arm der amerikanischen Hegemonie in Europa. Das zweite Ziel war die Verhinderung eines Blocks zwischen Russland (und zuvor der UdSSR) und China. Diese Politik mündete 1972 in den Pakt zwischen Nixon und Mao, der für die Entwicklung des Vietnamkriegs sehr wichtig war.

Mit diesen Zielen vor Augen setzten die Vereinigten Staaten nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung der Sowjetunion ihre Politik der Einkreisung Russlands durch die Erweiterung der NATO fort, die ihre Mitgliederzahl verdoppelte und die meisten ehemaligen Sowjetrepubliken einschloss. Diese Feindseligkeit verstärkte sich mit Putins Machtübernahme im Jahr 2000 und schloss die Förderung von Bewegungen durch Washington ein, die sich gegen Kreml-freundliche Regierungen richteten, um sie durch pro-westliche zu ersetzen, bekannt als die «Farb-Revolutionen» (Ukraine 2004-2014, Georgien usw.).

In seinem Buch The Grand Global Chessboard (1997) vertrat Zbigniew Brzezinski, einer der Architekten der US-Aussenpolitik, die Auffassung, dass die Fähigkeit der Vereinigten Staaten, ihre Vormachtstellung auszuüben, davon abhängt, das Entstehen einer «dominanten eurasischen Macht» zu verhindern. In dieser Strategie war die Ukraine ein wichtiger Akteur bei der «Eindämmung» von Russland. Brzezinskis Politik bestand 2014 darin, die Ukraine aufzurüsten, sie aber nicht in die NATO aufzunehmen.

Um den Aufstieg Chinas einzudämmen, initiierte Obama den so genannten «Pivot to Asia», der die Verstärkung der US-Militärpräsenz im indopazifischen Raum (d. h. in Chinas maritimer Nachbarschaft) sowie den Aufbau von Sicherheitsallianzen und Handelsverträgen mit asiatischen Nachbarn vorsah, um China zu isolieren. Trump verschärfte die Anti-China-Linie und begann einen Handelskrieg gegen Peking, der im Wesentlichen bis in die Präsidentschaft Bidens andauert.

Seit 2017 ist die wichtigste nationale Sicherheitshypothese für den US-Staat die Rivalität mit China und Russland (und in zweiter Linie mit dem Iran), die er als «revisionistische Mächte» bezeichnet; das bedeutet, dass es sich um Mächte handelt, die versuchen, die von den USA geführte «liberale Ordnung» zu untergraben, ohne so weit zu gehen, dass es zu einer direkten und globalen Konfrontation kommt.

Die Dynamik des Krieges in der Ukraine, insbesondere das anfängliche Straucheln der russischen Armee, hat die USA dazu veranlasst, ihn als strategische Chance zu begreifen, Russland zu schwächen, die EU durch die Wiederbelebung der NATO unter ihre Kontrolle zu bringen und sich in der Auseinandersetzung mit China zu positionieren, indem sie ihre Verbündeten in diesem Kampf um die Hegemonie bündeln.

Aus diesem Grund handelt es sich um einen Konflikt mit internationaler Dimension, auch wenn er militärisch gesehen auf das ukrainische Territorium beschränkt bleibt (d.h. wir haben es nicht mehr mit einem «Dritten Weltkrieg» zu tun, wie manche sagen). Sowohl die Vereinigten Staaten als auch die übrigen europäischen Mächte intervenieren nicht direkt mit «boots on the ground» – d.h. es gibt keinen Krieg zwischen Russland und der NATO -, aber ohne die «rote Linie» einer direkten militärischen Konfrontation zu überschreiten, spielt der US-Imperialismus über die NATO eine Rolle als politisch-militärische Führung der ukrainischen Seite gemäss seinen eigenen Interessen: Schwächung Russlands und Bündelung seiner Verbündeten in seinem Streit mit China. Dies bedeutet, dass er Elemente eines «Stellvertreterkrieges» aufweist. Neben der Bewaffnung der Ukraine sind die Wirtschaftssanktionen gegen Russland ein weiteres Instrument des «Krieges» der USA und der EU, mit dem die russische Wirtschaft unterdrückt und Putins Regime in die Enge getrieben werden soll.

Von dieser unabhängigen und antiimperialistischen Position aus, gegen die russische Invasion und gegen die NATO, haben wir sowohl mit dem Teil des linken «Lagers» polemisiert, der aufgrund seiner Widersprüche mit dem US-Imperialismus auf der Seite Russlands (und Chinas) steht, als auch mit dem Teil der Linken, der der Meinung ist, dass ein «nationaler Befreiungskrieg» im Gange ist, ohne zu sehen, dass die Vereinigten Staaten und alle imperialistischen Mächte hinter der Zelenski-Regierung stehen und ihr Sieg daher den Imperialismus stärken würde.

Auch mit Positionen wie der der argentinischen Partido Obrero, die zwar die Notwendigkeit des Widerstandes gegen die russische Invasion hervorhebt, aber gleichzeitig festhält, dass es sich in erster Linie um einen imperialistischen Krieg (der USA und der NATO) handelt, um die kapitalistische Restauration in Russland zu vollenden; diese Einschätung führt zu einer widersprüchlichen Position, denn für den Fall, dass Russland, wenn auch in abgeschwächter Form, den Charakter eines Arbeiterstaates beibehält, würde sich die PO jenseits des reaktionären Charakters von Putins autokratischem Regime im russischen Lager einreihen.

Im Gegensatz zu anderen Kriegen, die eindeutig einen imperialistischen Charakter hatten, wie z.B. der Irak-Krieg, ist diesmal keine Antikriegsbewegung entstanden, und die westlichen Regierungen haben einen Konsens für die Einmischung der NATO erreicht, der unter dem Deckmantel der humanitären und ukrainischen Verteidigung steht.

Die Ausrichtung eines grossen Teils der Linken auf die imperialistische Politik – einschliesslich der NATO-Aufrüstung und der Sanktionen – wirkte der Entstehung eines unabhängigen Pols entgegen, der über einige kleine Avantgardeaktionen hinausgehen würde.

Über die Dynamik des Krieges und mögliche Szenarien

Im Grossen und Ganzen hat der Krieg bisher zwei Momente erlebt.

Die Hypothese eines siegreichen russischen Blitzkriegs – einer massiven Invasion rund um die grossen Städte, einschliesslich Kiew, die zum Sturz oder zur Kapitulation der Zelenski-Regierung führen sollte – hat sich aufgrund einer Kombination von Faktoren nicht bewahrheitet, u.a. aufgrund der Tatsache, dass Putin auf grösseren als den erwarteten ukrainischen Widerstand stiess, der durch die Unterstützung der NATO gestärkt wurde, und dass die russische Armee erhebliche logistische und strategische Mängel aufwies, was zu Opfern und dem Verlust von militärischem Gerät führte.

Nachdem das Szenario eines Blitzkriegs ausgeschlossen wurde, trat der Konflikt in eine zweite Phase ein, die sich auf die Region Donbas und die Südukraine konzentrierte. Diese zweite Phase nimmt immer mehr die Züge eines Zermürbungskrieges an, mit einem langsamen und kostspieligen Vormarsch der russischen Armee. Der bisher wichtigste Sieg Putins war die Eroberung von Mariupol, eine wertvolle Position, da sie der Ukraine den Zugang zum Asowschen Meer nahm und eine Landbrücke zwischen dem Donbas und der Krim herstellte, die der russischen Besatzung eine territoriale Einheit verlieh. Die Position Russlands eröffnet eine Reihe von Möglichkeiten: Putin könnte versuchen, die Kontrolle über das bereits eroberte Gebiet zu festigen. Von diesen Eroberungen aus wird er weiter in Richtung Moldawien vorstossen, nach Westen, an die Grenzen Rumäniens, d. h. der EU. Oder es gibt aufgrund einer Kombination von militärischen, wirtschaftlichen und politischen Faktoren andere Zwischenvarianten.

Der genaue Zustand der russischen Front und Putins wirtschaftliches (und politisches) Rückgrat zur Aufrechterhaltung der Kriegsanstrengungen ist nicht bekannt, aber alles deutet darauf hin, dass Russland nicht in die Enge getrieben ist und dass die westliche Propaganda die Schwächen der russischen Armee übertreibt, um den Eindruck zu erwecken, dass diese auf eine durchschlagende Niederlage zusteuert. Gleichzeitig verschleiert sie den Zustand der ukrainischen Armee. Die Sanktionen sind zwar ein Schlag, aber die russische Wirtschaft ist nicht zusammengebrochen, auch wenn das BIP um schätzungsweise 7-15 % schrumpfen wird. Die Regierung hat eine Politik zur Stabilisierung des Rubels und zur Eindämmung der Inflation verfolgt. Und der Staat hat seine Einnahmen aus den Ölexporten erhöht, die sogar noch gestiegen sind, was Putin erlaubt, Demagogie zu betreiben und Lohn- und Rentenerhöhungen zu gewähren, um seine Basis zu halten, während er jede Opposition gegen den Krieg mit aller Härte verfolgt. Als Gegenleistung für die Aufhebung der Sanktionen bietet er die Aufhebung der Seeblockade im Schwarzen Meer an, die Getreideexporte aus der Ukraine verhindert.

Von den drei logischen Szenarien erscheinen zwei am wenigsten wahrscheinlich:

Das Szenario eines ukrainischen Sieges, verstanden als Rückzug der russischen Truppen aus den neuen Stellungen oder, wie die Kriegstreiber meinen, aus den seit 2014 annektierten und/oder besetzten Gebieten, ist praktisch ausgeschlossen. Obwohl die USA und ihre engsten NATO-Verbündeten wie Grossbritannien von einer «defensiven» Position zu «Die Ukraine kann gewinnen» übergegangen sind, ist dies keine realistische Aussicht. Dieser Diskurs ist eine Funktion der Aufrechterhaltung des Konflikts und des Flusses von Waffen und Finanzmitteln in die Ukraine, um den Krieg aufrechtzuerhalten, eine Politik, die vor allem von den USA, Grossbritannien, Polen und den baltischen Staaten vorangetrieben wird.

Eine Eskalation und weitere Internationalisierung der militärischen Konfrontation, etwa durch einen direkten Angriff der USA oder der NATO auf russisches Territorium, ist zwar nicht kategorisch auszuschliessen, erscheint aber auch nicht wahrscheinlich. Oder dass Putin ein NATO-Mitglied angreifen würde. Ein offener Krieg zwischen Russland und der NATO würde objektiv die Möglichkeit des Einsatzes von Atomwaffen mit sich bringen.

Auf der Grundlage der von uns analysierten Elemente ist das Szenario, das wir für am wahrscheinlichsten halten, das eines langwierigen Konflikts aufgrund eines relativen militärischen Pattes und der Tatsache, dass keine der beiden Seiten den Zeitpunkt für Verhandlungen für gekommen hält, weil sie hofft, ihre Position auf dem Schlachtfeld zu verbessern.

Diese Situation wird auch durch die kriegstreiberische Politik der USA überdeterminiert, die im Moment die Zeit gegen Russland und für ihre eigenen Interessen ausspielen. Der Umfang der vom US-Kongress im Mai bewilligten Finanzmittel für die Ukraine deutet darauf hin, dass sich die USA auf einen langen Krieg (oder zumindest einige Monate) vorbereiten. Dieses 40-Milliarden-Dollar-Paket (das zu den vorherigen 13 Milliarden Dollar hinzukommen muss) ist in erster Linie für militärische Mittel bestimmt, während nur 8 Milliarden Dollar für Wirtschaftshilfe und 900 Millionen Dollar für ukrainische Flüchtlinge in den USA vorgesehen sind.

Die Verlängerung des Konflikts bringt auch das Weisse Haus in ein Dilemma: Je länger die Verhandlungen hinausgezögert werden, desto grösser werden nicht nur die Zerstörungen in der Ukraine, die Opfer unter der Zivilbevölkerung und die Folgen des Krieges für die internationale Wirtschaft, sondern auch die Wahrscheinlichkeit, dass Putin einen grösseren Teil des Territoriums unter seine Kontrolle bringt, als er es vor dem 24. Februar hatte. Dies würde als sicherer Sieg für Russland (auch wenn es nicht die Art und das Ausmass des Sieges ist, den Putin anstrebte) und als Zeichen der Schwäche des westlichen Bündnisses interpretiert werden. Daher vermuten einige Analysten, dass der Konflikt in der Donbass-Region (oder in der Südukraine) ohne ein formelles Friedensabkommen chronisch bleiben könnte, was einige Analysten mit dem Ende des Koreakriegs vergleichen.

Die Regierung Biden hat ihre kriegstreiberische Rhetorik verschärft, aber über das vage Ziel der «Schwächung Russlands» hinaus ihre strategischen Ziele nicht klar definiert. Der Hauptwiderspruch dieser Politik besteht darin, dass sie jegliche Verhandlungen mit Putin über territoriale Zugeständnisse behindert, die nach Ansicht der meisten Analysten der einzige Weg zur Beendigung des Krieges sind. Ein Teil des Establishments, der sich auf die «realistische» konservative Strömung beruft – zu der unter anderem Henry Kissinger und Richard Haass gehören – ist der Ansicht, dass diese strategische Unbestimmtheit die Regierung Biden in Richtung einer Politik des «Regimewechsels» abgleiten lässt, was für die Interessen des US-Imperialismus gefährlich wäre, nicht nur wegen der Aussicht auf einen ewigen Krieg (wie im Irak und in Afghanistan, aber mit der zweiten Weltmacht), sondern vor allem wegen der Folgen einer eventuellen Zerschlagung nicht nur des Regimes von Putin, sondern auch des russischen Staates. Sie argumentieren, dass Russland, selbst wenn es von einem Autokraten wie Putin regiert wird, einen Wert als konservatives Bollwerk hat und dass es ein Fehler wäre, seine Zerstörung anzustreben. In gewissem Sinne deckt sich dieser anti-neokonservative Sektor mit der Politik Deutschlands, Frankreichs und Italiens, die Russland nicht demütigen und Verhandlungen mit Putin aufnehmen wollen, bevor es zu spät ist, was eine Gebietsabtretung durch die Ukraine bedeuten würde. In diesem Zusammenhang erklärte Biden kürzlich in einem Artikel der New York Times, dass die USA nicht versuchen werden, den Sturz des Regimes in Russland herbeizuführen, und machte damit einen Rückzieher von dem, was er in seiner Rede in Warschau angedeutet hatte.

Risse an der Westfront

Kurzfristig hatte die russische Invasion den Effekt, die NATO wiederzubeleben, die, wie oben erwähnt, aufgrund von Trumps Politik in einer Krise steckte, so dass Macron, der französische Präsident, sie als «hirntot» diagnostiziert hatte.

Im Gegensatz zur schwachen Reaktion der westlichen Mächte auf die Annexion der Krim durch Putin im Jahr 2014 verhängte die US-Regierung diesmal eine Politik harter Wirtschaftssanktionen gegen Russland und zwang Deutschland (und die EU), seine Energieabhängigkeit von Russland zu revidieren. Darüber hinaus gab Deutschland seinen traditionellen «Pazifismus» auf: Die sozialdemokratische Regierung Scholz sorgte für eine beispiellose Aufstockung des Militärhaushalts und leitete die Aufrüstung des deutschen Imperialismus ein, vorerst im Dienste der NATO. Schweden und Finnland, zwei Länder, die sich für die Neutralität entschieden hatten – Schweden im 19. Jahrhundert und Finnland nach seiner Niederlage gegen die Sowjetunion – beantragten förmlich den Beitritt zur NATO.

Diese auffällige Zunahme der US-Präsenz in der europäischen Politik hat den deutschen Soziologen Wolfgang Streeck zu der Behauptung veranlasst, der «König ist zurück» und hat die europäische Politik (und die Haushalte) übernommen. Doch je länger der Konflikt andauert, desto mehr veraltet das Bild der von den USA geführten «westlichen Einheit».

Das Szenario eines Krieges, der länger dauert als erwartet, fordert seinen Tribut an die Einheit der westlichen Mächte.

Die von den USA vorangetriebene Verschärfung der Wirtschaftssanktionen stösst an die Grenze, dass die europäischen Mächte aufgrund ihrer Energieabhängigkeit von Russland am meisten unter den Folgen dieser Sanktionen leiden.

Brüssel hat zwar Pläne zur schrittweisen Verringerung der Einfuhren dieser Rohstoffe erörtert, aber die grossen Volkswirtschaften, insbesondere Deutschland, das infolge des Krieges bereits schrumpft, können die Lieferungen nicht unterbrechen, ohne in eine tiefe Rezession zu geraten. Daher haben die deutsche und die italienische Regierung in Absprache mit der EU einen dubiosen Mechanismus entwickelt, der es Unternehmen ermöglicht, Rubelkonten zu eröffnen, um russische Gasimporte zu bezahlen, angeblich ohne gegen Sanktionen zu verstossen.

Ein vollständiges Embargo gegen russisches Öl und Gas ist in der Europäischen Union blockiert, die eine solche Massnahme nur einstimmig beschliessen kann. Ungarn und die Slowakei, die zu 100 Prozent von russischer Energie abhängig sind und über keine Häfen oder Pipelines für alternative Versorgungsquellen verfügen, haben ihr Veto gegen die Massnahme eingelegt. Nach wochenlangen erfolglosen Gipfeltreffen und mühsamen Verhandlungen einigten sie sich schliesslich auf ein teilweises Ölembargo – ohne Gas – (mit Ausnahmen für Öl, das über Pipelines wie die Druschba nach Ungarn, in die Tschechische Republik und die Slowakei gelangt).

Die Differenzen gehen über Sanktionen und die Energiefrage hinaus. Hinter den Meinungsverschiedenheiten darüber, ob die Ukraine in den Friedensverhandlungen territoriale Zugeständnisse akzeptieren sollte, stehen die Sorge über die Risiken eines langwierigen Krieges und letztlich Meinungsverschiedenheiten über Russlands Rolle in der europäischen Sicherheit.

Laut The Economist hat Europa begonnen, sich über die Bedingungen für die Beendigung des Krieges in zwei Blöcke zu spalten. Ein Block, der sich «Friedenspartei» nennt, setzt sich aus Frankreich, Italien und Deutschland zusammen, die mit unterschiedlichen Argumenten und unterschiedlicher Intensität für die Notwendigkeit plädieren, den Krieg jetzt zu beenden und Verhandlungen aufzunehmen. Ein anderer Block, der sich «Partei der Gerechtigkeit» nennt und aus den treuesten Verbündeten der USA – Grossbritannien, Polen und den baltischen Staaten – besteht, argumentiert, dass Russland einen hohen Preis für die Invasion zahlen muss.

Diese Unterschiede treten offen zutage. Macron, der sein Streben nach «europäischer Souveränität» nicht verleugnet, erinnerte daran, dass sich Europa «nicht im Krieg mit Russland» befindet, und warnte, dass eine «Demütigung Russlands» ein ähnlicher Fehler wäre wie der, den die Siegermächte am Ende des Ersten Weltkriegs mit Deutschland begangen haben.

Mario Draghi, der italienische Ministerpräsident, sagte Biden bei seinem Besuch in Washington, dass so schnell wie möglich ein Weg nach vorne gefunden werden müsse. Und er hat bereits einen Vier-Punkte-Plan für eine politische Vereinbarung mit Putin zur Beendigung des Krieges in Umlauf gebracht. Neben geopolitischen Gründen und wirtschaftlichen Interessen besteht eine der Motivationen Draghis darin, die Einheit seiner bunt zusammengewürfelten Regierungskoalition zu wahren, die einen offen prorussischen Flügel hat (einschliesslich der 5-Sterne-Bewegung), der die Lieferung tödlicher Waffen an die Ukraine entschieden ablehnt.

Kleinere Mächte mit eigenen Ambitionen und Interessen, wie die Türkei, sehen, dass sie diese Risse ausnutzen können, um ihre Ziele zu verfolgen. In diesem Zusammenhang hat der türkische Präsident Recep Erdogan die NATO-Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands in Frage gestellt, die nur im Konsens aller derzeitigen Mitglieder beschlossen werden kann. Als Gegenleistung dafür, dass er kein Veto gegen den Beitritt der nordischen Länder einlegt, will Erdogan über die Auslieferung von etwa 30 Mitgliedern der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die sich derzeit in Schweden aufhalten, an die Türkei verhandeln. Die Herausforderung durch die Türkei hat andere kleinere Länder wie Kroatien ermutigt, das einen ähnlichen Weg eingeschlagen hat: Im Gegenzug fordert es Änderungen des Wahlgesetzes in Bosnien und Herzegowina, um die Vertretung der bosnischen Kroaten zu verbessern. Es ist unklar, ob dies Erdogan das nötige Machtgleichgewicht verschaffen wird, um die Erpressung aufrechtzuerhalten, oder ob er sich mit einer Entschädigung zufriedengeben wird, aber allein die Tatsache, dass er einen der grössten Erfolge der NATO in der Schwebe hält, zeigt das Ausmass der Probleme.

Um zu verhindern, dass zweitrangige Mitglieder ihre Entscheidungen blockieren können, haben die Gründungspartner der EU die Konsensfindung abgeschafft und beschliessen mit Mehrheits- und Minderheitsentscheidungen. Aber auch eine solche institutionelle Reform würde Einstimmigkeit erfordern, um verabschiedet zu werden.

Die Grossmächte sind besorgt, dass Länder wie die Ukraine und die Republik Moldau auch in Zukunft in die EU aufgenommen werden, was das Risiko der Instabilität im Block erhöhen würde. Angesichts dessen hat Macron eine Art «Wartesaal» oder «B-Liga» von Mitgliedern vorgeschlagen, die nicht der EU beitreten, sondern eine Art Gemeinschaft zweiter Klasse bilden würden.

Eine weitere Zeitbombe sind die Millionen von ukrainischen Flüchtlingen, die hauptsächlich von EU-Ländern aufgenommen wurden und von denen viele nirgendwo hin zurückkehren können, wenn der Krieg weitergeht.

Es ist klar, dass Putin darauf setzt, dass sich diese Spaltungen mit dem Fortschreiten des Konflikts vertiefen werden.

Die Widersprüche des US-Imperialismus

Wie wir oben dargelegt haben, bot der Einmarsch Russlands in die Ukraine den USA die Gelegenheit, eine Machtdemonstration zu veranstalten, die sich auf die beiden traditionellen Säulen der US-Hegemonie stützt: das Pentagon (das die ukrainische Armee aufrüstet und ausbildet) und den Dollar.

Die Regierung Biden ergreift zweifellos die Gelegenheit, die Führungsrolle der USA wiederherzustellen, doch wie verschiedene Initiativen zeigen, hat sie Schwierigkeiten, ihre Ziele in einer Welt durchzusetzen, die sich stark von der Welt unmittelbar nach dem Kalten Krieg unterscheidet, in der nicht nur China als Hauptkonkurrent aufgetaucht ist, sondern auch regionale Mächte mit einer gewissen Handlungsfähigkeit bei der Verfolgung ihrer Interessen. Einerseits ist es den USA sehr gut gelungen, den «Westen» (zu dem neben der EU auch Japan, Australien und Südkorea gehören) in ihrer antirussischen Politik zu bündeln. Gleichzeitig gelang es ihr jedoch nicht, die uneingeschränkte Unterstützung Lateinamerikas (ganz zu schweigen von Asien und Afrika) zu gewinnen. Auch die Zusammenarbeit mit traditionellen Verbündeten wie Saudi-Arabien und sogar Israel, das der Sicherheit, die Russland durch die Herstellung von Ordnung in Syrien bietet, Priorität einräumt, konnte nicht gewonnen werden. Dies zeigte sich bei den UN-Abstimmungen, die das Thermometer der politischen Ausrichtung sind. Eine wichtige Gruppe von Ländern, darunter Indien, Südafrika, Brasilien und Mexiko (die im Grossen und Ganzen mit den BRICS und dem so genannten «globalen Süden» übereinstimmen, mit Ausnahme der argentinischen Regierung, die sich Washington gebeugt hat), haben sich nicht der antirussischen Front angeschlossen. Obwohl jeder seine eigenen Interessen hat, die nicht unbedingt übereinstimmen, gibt es insgesamt einen starken gemeinsamen Grund, der darin besteht, keine Eingriffe zu legitimieren, die morgen gegen sie verwendet werden könnten. Noch weniger kann man der Macht der Vereinigten Staaten zustimmen, Devisenreserven zu konfiszieren, wie sie es mit der Hälfte der russischen Dollarreserven getan haben, etwa 350 Milliarden Dollar in dieser Währung.

Dies hat einige Analysten dazu veranlasst, von der Entstehung einer neuen «blockfreien Bewegung» zu sprechen, auch wenn diese Analogie nicht ganz zutreffend ist, vor allem wenn man bedenkt, dass die meisten Länder, anders als während des Kalten Krieges, eine «gegenseitige Abhängigkeit» von den Vereinigten Staaten, China und Russland entwickelt haben und daher ihre Positionen verschieben und ihre Bündnisse nach wirtschaftlichen, sicherheitspolitischen oder sogar politischen Interessen ausrichten. Das macht es schwierig, einen mehr oder weniger dauerhaften Block mit einer anerkannten Führung zu bilden.

Biden will die NATO auf den indopazifischen Raum ausdehnen und hat zu diesem Zweck eine Asienreise unternommen, um die Beziehungen zu den Verbündeten gegen China neu zu beleben. Bidens Politik bestand darin, die westliche Reaktion auf Russland als Warnung an China zu nutzen. Er sagte, dass die USA Taiwan militärisch verteidigen würden, wenn es von China angegriffen würde, und dass sie kurz davor stünden, die «strategische Zweideutigkeit» aufzugeben, mit der die USA anerkennen, dass es «ein China» gibt, ohne sich zum Status Taiwans zu äussern.

Aber wenn die Politik der Isolierung Russlands die Welt an den Rand einer Nahrungsmittelkrise bringt, scheint das Ziel der «Abkopplung» Chinas, das der wichtigste Handelspartner praktisch aller Länder ist, direkt unerreichbar zu sein.

Biden kündigte die Gründung des so genannten «Indo-Pacific Economic Framework for Prosperity» an, eines Handelsblocks, der dem wirtschaftlichen Vormarsch Chinas entgegenwirken soll und 13 Länder umfasst, darunter Japan, Australien, Indien, Indonesien, die Philippinen und Südkorea. Bei dieser Initiative handelt es sich jedoch nicht um ein Freihandelsabkommen, das weder Zölle oder andere Handelshemmnisse abbaut, noch einen präferenziellen Zugang zum nordamerikanischen Markt vorsieht. Kurz gesagt, es ist weit von der «hegemonialen» Linie der Transpazifischen Partnerschaft entfernt und bietet keine Handelsalternative zu China. Der Schwerpunkt der US-Politik liegt nach wie vor auf der Stärkung von Militärbündnissen wie dem Sicherheitsviereck mit Australien, Japan und Indien (das sich im Krieg in der Ukraine der russischen Seite angenähert hat), dem sich Südkorea wahrscheinlich anschliessen wird.

Die nach wie vor ungelöste Krise rund um den «Gipfel der Amerikas» zeigt auch die Schwierigkeiten der Biden-Administration bei der Führung Lateinamerikas, einer erschütterten, instabilen und politisch zersplitterten Region, die insgesamt eine schwache zweite Welle von Mitte-Links- und «populistischen» Regierungen erlebt, von denen einige, wie die von Boric in Chile, auf die Ablenkung von Volksaufständen und Revolten zurückzuführen sind. Oder wie im Falle Kolumbiens, wo der Uribismus aus dem Rennen ist und die Präsidentschaft zwischen dem Mitte-Links-Kandidaten Gustavo Petro und dem «Trumpisten» Rodolfo Hernández ausgemacht wird.

Biden versuchte, die Tagesordnung, in deren Mittelpunkt der Krieg in der Ukraine stand, einseitig durchzusetzen, und beschloss, Kuba, Nicaragua und Venezuela von dem Gipfel auszuschliessen. Er bemühte sich auch darum, dass der Putschistenführer Juan Guaidó als Vertreter Venezuelas akzeptiert wird. Es hat sich gezeigt, dass diese Bestrebungen nicht den tatsächlichen Machtverhältnissen entsprechen. Und sie haben eine Krise mit Mexiko und Brasilien ausgelöst, den beiden Ländern, die für die Führung der Region unverzichtbar sind.

Der mexikanische Präsident López Obrador machte seine Teilnahme von der Aufhebung des Ausschlusses von Kuba, Nicaragua und Venezuela abhängig. Ihm folgten Argentinien, Chile und Bolivien. Im Falle Brasiliens drohte Jair Bolsonaro ebenfalls damit, nicht zu kommen, vor allem weil er gegen Bidens Regierung ist, und zwang die Vereinigten Staaten, über seine Teilnahme zu verhandeln. Im Falle Brasiliens ist die bedingungslose Nichtanpassung an die USA in der antirussischen/antichinesischen Front und das Streben nach einem gewissen Mass an Autonomie eine Frage des Staates, da es sich um eine Politik handelt, die sowohl von Bolsonaro als auch von Lula geteilt wird, der wahrscheinlich die nächsten Wahlen gewinnen wird.

Das soll nicht heissen, dass der Gipfel scheitern wird, und auch nicht, dass die lateinamerikanischen Länder nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den Vereinigten Staaten stehen. Die Verhandlungen, zu denen die US-Regierung gezwungen war, zeigen jedoch, wie schwierig es ist, verlorenen Boden in der Region zurückzugewinnen, in der China für die meisten Länder der wichtigste Handelspartner und Exportziel ist.

Innenpolitisch besteht der Hauptwiderspruch in der Schwäche der Regierung Biden, die die Zwischenwahlen aufgrund der weit verbreiteten Unzufriedenheit mit der demokratischen Regierung wegen der hohen Inflation wahrscheinlich verlieren wird. Die Ukraine-Kriegspolitik wird derzeit von allen Parteien unterstützt, und die Politik der indirekten Intervention ohne Einsatz von Truppen vor Ort bleibt populär. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass diese Unterstützung aufrechterhalten werden kann, wenn sich der Krieg in die Länge zieht und kein Ende in Sicht ist.

Bereits jetzt hat sich eine noch kleine, aber intensive Gruppe von Republikanern im Kongress – viele von ihnen Trump-Anhänger – gegen die offizielle Politik ausgesprochen und argumentiert, dass der Krieg in der Ukraine nicht im nationalen Interesse des Imperiums liege.

Das Gespenst der Stagflation und die Nahrungsmittelkrise

Der Krieg und die Wirtschaftssanktionen hatten erhebliche Auswirkungen auf die internationale Wirtschaft und verstärkten die Tendenzen, die sich nach der Pandemie entwickelt hatten, insbesondere die inflationären Tendenzen, die unter anderem auf Engpässe in den Versorgungsketten zurückzuführen sind. Die Europäische Union hat ihre Wachstumsprognose von 4 auf 2,5 Prozent gesenkt. Und die US-Wirtschaft hat im ersten Quartal 2022 zum ersten Mal eine Schrumpfung erlebt.

Der starke Anstieg der Rohstoffpreise, insbesondere der Lebensmittel- und Energiepreise, hat den Inflationsdruck erheblich verstärkt, nicht nur in den Schwellenländern, sondern vor allem in den Kernländern, die sich von einer Deflation zu den höchsten Inflationsraten der letzten drei oder vier Jahrzehnte entwickelt haben. Auch wenn dieser Anstieg der Rohstoffpreise kurzfristig den Nahrungsmittel und Energie exportierenden Ländern – darunter mehrere lateinamerikanische Länder, darunter auch Argentinien – zugutekommen mag, ist es unwahrscheinlich, dass die allgemeinen Bedingungen und Aussichten der internationalen Wirtschaft – die sich von denen des vorangegangenen Rohstoff-Superzyklus stark unterscheiden – diesen komparativen Handelsvorteil aufrechterhalten können.

Die Aussicht auf eine Stagflation ist nicht länger eine theoretische Hypothese von Akademikern, sondern eine Gefahr, die von den Zentralbanken und den kapitalistischen Regierungen heraufbeschworen wird, um ihre Politik der Straffung der Geldpolitik zu rechtfertigen, die unweigerlich eine rezessive Wirkung haben wird.

Die Anhebung der Zinssätze durch die US-Notenbank und die Aufwertung des Dollars haben das Gewicht der auf Dollar lautenden Schulden erhöht. Nach Angaben des IWF befinden sich 60 Prozent der verschuldeten Länder mit niedrigem Einkommen bereits in Schwierigkeiten und sind von einem Zahlungsausfall bedroht.

In seinem Bericht vom April korrigierte der IWF die Wachstumsprognosen für 143 Länder (die 86 % des weltweiten BIP ausmachen) nach unten. Und er wies auf drei Risiken hin, die die Weltwirtschaft «verdunkeln»: die Krise in der Lieferkette, Chinas «Nullzins»-Politik, die in Verbindung mit der Immobilienkrise zu einem starken Rückgang der chinesischen Wirtschaft im ersten Quartal führte, und der Krieg in der Ukraine. Noch schlimmer ist jedoch, dass diese drei Risiken zusammen das am meisten gefürchtete Risiko erhöhen: eine weltweite Nahrungsmittelkrise, die in den ärmsten Ländern zu einer Hungersnot führen könnte. Die Nahrungsmittelkrise könnte sich noch verschärfen, weil einige Länder wie Indien protektionistische Massnahmen ergreifen und ihre Weizenexporte verboten oder drastisch reduziert haben.

Kristalina Georgieva, die bereits den Krieg in der Ukraine mit einem Erdbeben verglichen hatte, spricht nun von einem «Zusammentreffen von Katastrophen» – Covid 19, Krieg, Inflation, Marktvolatilität, Klimakrise -, zu denen noch das «Risiko einer geoökonomischen Fragmentierung» hinzukomme.

Um es mit den Worten des marxistischen Ökonomen M. Roberts zu sagen: «2022 sieht es nicht gut aus», angesichts eines Cocktails aus verlangsamtem Wachstum, steigender Inflation, steigenden Zinsen, sinkenden Finanzrenditen, Ausfallrisiken (staatlich und privat) und einem Krieg in Europa. Und wenn sich der Krieg weiter hinzieht, sieht es wahrscheinlich auch 2023 nicht gut aus.

Der Krieg hat die Gefahr einer Hungersnot zwar verschlimmert, aber nicht geschaffen. Einem Oxfam-Bericht zufolge könnten bis 2022 rund 263 Millionen Menschen in extreme Armut abrutschen, während der Reichtum der weltweiten Spitzenbourgeoisie – darunter die Eigentümer der grossen Lebensmittelmonopole – zwischen 2020 und 2022 um denselben Betrag wächst wie in den 23 Jahren zuvor. Dabei geht es nicht nur um Ungleichheit, sondern um die Konzentration des Kapitalismus selbst.

Politische und klassenkämpferische Perspektiven

Seit der kapitalistischen Krise von 2008 hat es zwei grosse Wellen von Klassenkämpfen gegeben, die sich international ungleich verteilt haben. Die erste, als direkte Reaktion auf die Auswirkungen der Grossen Rezession, fand ihren Höhepunkt im Arabischen Frühling, einer weit verbreiteten Rebellion gegen die pro-amerikanischen arabischen Diktaturen, ausgelöst durch nichts Geringeres als den Anstieg der Brotpreise. Diese Welle fand in Europa ihren Ausdruck in der Bewegung der Empörten in Spanien und den Dutzenden von Generalstreiks in Griechenland, die vor allem von neuen reformistischen linken Vertretungen wie Podemos und Syriza getragen wurden.

Die zweite Welle begann 2018 in Frankreich mit der Mobilisierung der «Gelbwesten» gegen die Benzinpreiserhöhungen und entwickelte sich zu einer grossen Rebellion gegen die Regierung Macron. Diese Welle erreichte Lateinamerika mit dem Aufstand in Ecuador (gegen die vom IWF angeordnete Erhöhung der Treibstoffpreise), den landesweiten Protesten und Streiks in Kolumbien und der Revolte in Chile im Oktober 2019, die den Weg zur Revolution hätte öffnen können, aber den Charakter der Revolte nicht überwunden hat, und der Umweg wurde erst von der verfassungsgebenden und dann von der borischen Regierung aufgezwungen.

Diese Welle wurde durch die Coronavirus-Pandemie unterbrochen, aber nach dem anfänglichen Moment der Quarantäne kehrte der Klassenkampf mit dem Ausbruch der Black-Lives-Matter-Bewegung, einer Mobilisierung gegen die Ermordung des von der Polizei getöteten Afroamerikaners George Floyd, an der sich mehr als 25 Millionen Menschen beteiligten, mit Macht zurück, auch in den Vereinigten Staaten.

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Ungleichheit und Unsicherheit, die die Pandemie hinterlässt, wirkt die Inflation – und vor allem der Anstieg der Lebensmittel- und Kraftstoffpreise – als Auslöser für soziale und politische Konfliktsituationen. Es gibt bereits erste Reaktionen der Lohnabhängigen und der Bevölkerung auf diese neue Situation, die von Lohnverteilungskämpfen von Teilen der organisierten Arbeiterklasse bis hin zu Aufständen und Revolten reichen.

Zu diesen Kämpfen gehört der Aufstand der Arbeiter und des Volkes in Sri Lanka, wo die Regierung mit ihren Auslandsschulden in Verzug geraten ist und versucht, sich durch ein Abkommen mit dem IWF zu retten, das die Verarmung der Mehrheit der Bevölkerung vertiefen wird. Und der Mobilisierungsprozess im Iran angesichts der Streichung von Subventionen für Weizen und Mehl durch die Regierung, die zu einem Preisanstieg von 300 % führte.

Es gab auch Bauernkämpfe in Peru – ein Sektor, der den Kern der Wählerbasis von Pedro Castillo bildete; wilde Streiks im Vereinigten Königreich von Öl- und Gasarbeitern in der Nordsee für Lohnerhöhungen; Streiks und Arbeitsniederlegungen von Arbeitergruppen in Deutschland und Italien.

Neu im Klassenkampf ist der Prozess, der sich in den letzten Jahren in den USA entwickelt hat und der Kampferfahrungen, gewerkschaftliche Organisierung und Politik umfasst. Neben dem Kampf für die Verteidigung der Abtreibungsrechte, die durch die konservative Offensive im Obersten Gerichtshof und die republikanischen Gesetzgeber bedroht sind.

Was wir in Prozessen wie der Streikwelle des letzten Oktobers (Striketober) und auf einer anderen Ebene der «grossen Resignation» sehen, ist ein signifikanter Wandel in der Selbstwahrnehmung wichtiger Sektoren der Arbeiterklasse, insbesondere der Arbeiter, die während der Pandemie als unverzichtbar angesehen wurden, in Bezug auf ihre Stärke und ihre Rolle im Funktionieren der Gesellschaft. Es handelt sich um einen tiefgreifenden Bewusstseinswandel, der darin zum Ausdruck kommt, dass eine Mehrheit den Gewerkschaften positiv gegenübersteht, obwohl nur 10 % der Lohnabhängigen gewerkschaftlich organisiert sind. Am weitesten fortgeschritten ist der Prozess der gewerkschaftlichen Organisierung von prekär Beschäftigten wie bei Starbucks oder in strategischen kapitalistischen Sektoren wie bei Amazon. Es handelt sich um einen sich abzeichnenden Prozess der «Basisgewerkschaft», der Widersprüche aufweist und unter dem Druck der Kooptationspolitik der Demokratischen Partei und der Gewerkschaftsbürokratie durch ihre eher linken Sektoren steht, der aber insgesamt eine grosse Erfahrung darstellt, die noch in den Kinderschuhen steckt.

Hintergrund dieser Prozesse ist die tiefgreifende politische Polarisierung, die sich weiterentwickelt. Es gibt nicht nur rechtsextreme Phänomene, die sich als Vektoren der Unzufriedenheit erweisen, insbesondere in den konservativen Mittelschichten und den entpolitisierten Teilen der Volksschichten. Politische Phänomene der «radikalen Linken» (links vom traditionellen Reformismus) entwickeln sich weiter, die in vielen Fällen Berührungspunkte mit Kampf- und Organisationsprozessen haben (wie in den Vereinigten Staaten). Ein Beispiel dafür ist der hohe Wähleranteil von J.-L. Mélenchon in Frankreich, wo vor allem in den Arbeitervierteln, in den Banlieues (Randbezirke, in denen vor allem die zweite und dritte Generation von Einwanderern lebt) und bei jungen Menschen zwischen 18 und 24 Jahren zu verzeichnen war. Dieses Phänomen zeigt, dass es eine «Dreiteilung» und gibt und nicht nur eine Polarisierung zwischen der extremen Rechten von Marine Le Pen und eine «republikanischen Front», zumindest wenn es sich um Wahlen handelt.

Ein weiteres Beispiel ist die Entstehung der so genannten «U-Generation» in den Vereinigten Staaten, die an der Spitze des Gewerkschaftsbildungsprozesses steht und, wie bereits erwähnt, die Erfahrung der Black Lives Matter Bewegung gemacht hat. Es handelt sich um eine Avantgarde, die weitgehend die Basis des «Sanders-Phänomens» bildet, insbesondere organisiert in der DSA, und die eine politisch-ideologische Präferenz für den «Sozialismus» hat.

Wahrscheinlich werden auch in Chile, wo man schnell Erfahrungen mit der abweichenden Regierung Boric und ihrer Politik der Wiederherstellung der alten linken Mitte gemacht hat, linke Prozesse entstehen.

Es hat sich eine Periode aufgetan, in der wir uns auf scharfe Wendungen der Situation und das mögliche Aufkommen des revolutionären Kampfes der Arbeiterklasse vorbereiten müssen. Gleichzeitig machen es die Bedingungen der Zeit und die «Katastrophen» des Kapitalismus – kapitalistische Krisen, Kriegstreiberei, Militarismus – notwendig, dass wir die ideologische Offensive mit einem Diskurs verdoppeln, der die Intervention in den Klassenkampf und die politischen Prozesse in jedem Land und international mit unserem Ziel der sozialistischen Gesellschaft, für die wir kämpfen, artikuliert.

Quelle: laizquierdadiario.com… vom 13. Juni 2022; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch

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