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Argentinien: Bringt der Populismus die Arbeiterklasse weiter?

Eingereicht on 11. Mai 2024 – 10:03

Xav. Gesundheit, Bildung, Verkehr, öffentlicher Dienst: Seit der Wahl des „Anarchokapitalisten(1) Javier Milei im November 2023 ist es in Argentinien in allen wichtigen Wirtschaftsbereichen zu Streiks von noch nie dagewesenem Ausmaß gekommen. Am 24. Januar 2024 kam es sogar zu einem Generalstreik und sehr gut besuchten Demonstrationen in Buenos Aires, um die „ultraliberale“ Politik des rechtsextremen(2) Präsidenten Argentiniens anzuprangern, der von einer Koalition unterstützt wird, die sowohl Sozialdemokraten als auch Nostalgiker der Militärdiktatur umfasst.

Die Wahl von Milei stellt eine Wende im politischen Leben Argentiniens und Lateinamerikas dar: Wie der Aufstieg des Rechtspopulismus in Europa, Brasilien und den Vereinigten Staaten zeugt sie von einer Beschleunigung der politischen Krise, die einer wirtschaftlichen und sozialen Krise folgt und sich in vermeintlich „dégagistischen(3) und „Anti-Establishment„-Parolen ausdrückt. Dies zeigt, dass die Bourgeoisie nicht mehr mit halbherzigen Maßnahmen zur Rettung ihres krisengeschüttelten und dekadenten Systems besänftigt werden kann, halbherzige Maßnahmen, wie sie von den wechselnden Regierungen der „Linken“ und der „Rechten“ ergriffen wurden, um den Anschein von sozialem Frieden zu wahren. Im Gegenteil, während das Land immer tiefer in die Krise rutscht, wird ein sozialer Krieg vorbereitet.

Innerhalb von drei Monaten hat der neue Präsident eine Reihe von Maßnahmen zur Bewältigung der Wirtschaftskrise erlassen, die Argentinien seit 2018 erlebt. Diese Maßnahmen haben ein einziges Ziel: das Ausbluten des Proletariats mit der härtesten Sparpolitik, die Argentinien seit dem Crash von 2001 erlebt hat. Diese Politik – das sogenannte „Omnibus-Gesetz„, das insbesondere die Privatisierung öffentlicher Unternehmen, massive Kürzungen von Sozialausgaben und direkten Steuern, die Deregulierung großer Teile der Wirtschaft und die Streichung Zehntausender Stellen im öffentlichen Dienst umfasst – hat bereits sehr greifbare Auswirkungen auf die Lebensqualität und den ohnehin schon höllischen Alltag der Arbeiter: Wohnungskrise(4), Lebensmittelknappheit, sinkende Reallöhne, Anstieg der Armutsquote um 13 Prozentpunkte (!), 250 % Inflation, 2.8 % Rezession im Jahr 2024 usw…

Auf diesen Klassenkrieg, den die Regierung zusammen mit den Bossen führte, antwortete das Proletariat (manchmal spontan) mit Hungerrevolten, Massendemonstrationen, Blockaden und sektoralen oder allgemeinen Streiks. Dies zeugt von der starken Kampfbereitschaft des argentinischen Proletariats, das im Laufe seiner Geschichte besonders intensive, sogar revolutionäre Klassenkämpfe geführt hat – sei es die „Tragische Woche“ von 1919, der Aufstand in Patagonien 1921 oder der Cordobazo im Jahr 1969 -, wobei der bürgerliche Staat in Argentinien jedes Mal kurz vor dem Zusammenbruch stand. In jüngerer Zeit – aber ohne dieselbe Intensität zu erreichen – war das argentinische Proletariat infolge einer Krise erheblichen Ausmaßes im Jahr 2001, die auf die neoliberale Politik von Carlos Menem zurückzuführen war, zum Kampf gezwungen. Eine neue Krise, die 2018 begann und mit der Einführung einer vom IWF unterstützten Sparpolitik verbunden ist, die von der damaligen Regierung der péronistischen Linken verstärkt wurde und sich mit der aktuellen Politik von Milei wahrscheinlich noch verschärfen wird, wird das Proletariat zwangsläufig dazu bringen, erneut den Weg des Klassenkampfes einzuschlagen. Nichtsdestotrotz werden die Streiks heute von der wichtigsten Gewerkschaft Argentiniens, der CGT, gebremst. Diese Gewerkschaft, die in den 1940er Jahren in den Orbit des péronistischen Staates integriert wurde, wird auch heute noch von den Péronisten geleitet. Sie hat die gesamte kapitalistische und unsoziale Politik der Kirchners und von Sergio Massa, dem Wirtschaftsminister der vorherigen Linksregierung und Gegenkandidaten von Milei in der zweiten Runde der letztjährigen Präsidentschaftswahlen, unterstützt.

Milei hat nichts Neues erfunden: Bereits unter Massa verhandelte Argentinien mit dem IWF über eine Umstrukturierung seiner Schulden und eine starke Kürzung der Energiesubventionen, um das Defizit abzubauen und die Wirtschaftskrise zu beenden. Die Krise der argentinischen Wirtschaft ist jedoch strukturell mit der fünfzig Jahre alten historischen Krise des Kapitals und dem tendenziellen Rückgang der Profitrate verbunden. Die Kapitalisten sind daher gezwungen, die arbeiterInnenfeindlichen Angriffe zu vervielfachen, um den erlahmenden kapitalistischen Apparat zu verjüngen und die Profite zu steigern. Vor allem im Falle Argentiniens, das extrem abhängig vom ausländischen Kapital und den internationalen Investoren ist, denen man „Stabilität“ und „Freiheit“ garantieren muss. Es ist also zu erwarten, dass in den kommenden Wochen und Monaten die Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse zunehmen werden, in Argentinien wie im Rest der Welt.

Das Proletariat kann kein Vertrauen in die Gewerkschaften, insbesondere in die CGT, haben. Ihr falscher Radikalismus führt nur dazu, dass die Proteste in den Wahlzirkus zugunsten der „Linken“ des Kapitals einfließen. Dies hat sich bereits in ihrer typischen, konzilianten Politik gegenüber der neuen Staatsmacht gezeigt: in der Hoffnung, dass das Omnibus-Gesetz vom Verfassungsgericht (kampflos) verurteilt wird(5), und in den sporadischen Vorschlägen für friedliche Streiks und Mobilisierungen. Sie agieren wie alle guten Wachhunde, denen die Verhandlung mit den Bossen über die Arbeitskraft anvertraut wurde, um jede Radikalisierung der ArbeiterInnenmassen zu ersticken. Aber all das trifft auch auf die extreme Linke des Kapitals zu: den Trotzkismus. Die FIT („Frente de Izquierda y de los Trabajadores” – “Front der Linken und der ArbeiterInnen”), in der vier trotzkistische Parteien zusammengeschlossen sind, nahm am 18. Mai 2023 in Buenos Aires an einem „Marcha Federal“ mit verschiedenen péronistischen und Piquetero-Organisationen teil – kurz gesagt eine „Einheitsfront“ -, um „Druck“ auf die Regierung von Alberto Fernandez(6) auszuüben (der 2019 gewählte alte péronistische Führer, der auch von der stalinistischen und maoistischen „Linken“ unterstützt wird, womit sich der Kreis schließt). Wir erinnern daran, dass einer der wichtigsten Theoretiker des Trotzkismus in Argentinien, Nahuel Moreno, die Unterdrückung der Guerilla durch die Militärdiktatur unterstützte(7), für die Gründung einer großen, „legalen“ und „demokratischen“ Mitte-Links-Partei eintrat(8) und die Machtübernahme des Sozialdemokraten Rául Alfonsin unterstützte, indem er von einer „triumphierenden demokratischen Revolution“ sprach.(9) In ähnlicher Weise wurde die Piquetero-Bewegung (Straßenblockaden von ProletarierInnen und Arbeitslosen, die Barrikaden errichteten), die 2001-2 an der Spitze der sozialen Bewegung stand, schnell institutionalisiert und wird heute entweder von der parlamentarischen vorgeblich radikalen „Linken“ (wie den Organisationen der FIT) oder von péronistischen Kräften dominiert.

Die argentinischen ProletarierInnen werden noch mehrere Jahre lang eine äußerst beklagenswerte Situation ertragen müssen, in der die Kinder im Müll wühlen müssen, um etwas zu essen zu finden.(10) Aufgrund der strukturellen Schwächen ihrer Ökonomien bekommen die Schwellenländer die Auswirkungen der Krise ständig zu spüren und verfügen nicht über die gleichen Möglichkeiten wie die kapitalistischen Kernländer, den Ausbruch der unüberwindlichen Widersprüche des Kapitalismus hinauszuzögern.

Für das Proletariat gibt es nur eine Option, wenn es der Barbarei entkommen will, die es bedroht – eine Barbarei, von der Milei nur einer der karikativsten Ausdrücke ist. Das Proletariat muss sich außerhalb der linken Parteien und der Gewerkschaften, die den Kampf sabotieren, organisieren, indem es ein klares Klassenprogramm bekräftigt: Gegen Milei und seine Clique, gegen die „Linke“ und die „extreme Linke“ des Kapitals, gegen die Gewerkschaften, gegen das nationale und transnationale Kapital; für den Sturz des bürgerlichen Staates, die Errichtung der Macht der ArbeiterInnenräte, infolge des aufständischen, massenhaften Streiks unter Führung der revolutionären Klassenpartei… Dieser Weg ist sicherlich mit Fallstricken gepflastert, aber für das argentinische Proletariat von heute, wie für das übrige Proletariat von morgen, gibt es keinen anderen Ausweg.

So wie der Tag notwendigerweise auf die Nacht folgt, wissen wir, dass diese unmenschliche Gesellschaft von der Emanzipation der ArbeiterInnenklasse abgelöst werden wird: dem Kommunismus.

(1) Eine ultraliberale ideologische Strömung, die die Abschaffung des Staates zugunsten der Privatisierung aller Bereiche der Gesellschaft fordert (einschließlich des privaten Verkaufs von Kindern im Fall von Milei). (legrandcontinent.eu)

(2) lemonde.fr

(3) fr.wikipedia.org

(4) 20minutes.fr und liberation.fr

(5) Die Demonstration vom 27. Dezember 2023, zu der die CGT aufgerufen hatte, fand zum Beispiel direkt vor dem Justizpalast von Buenos Aires statt: was für ein Symbol! (rfi.fr)

(6) wsws.org

(7) Nahuel Moreno, una biografía reciente, Prensa Obrera, Nro. 979, janvier 2007

(8) marxists.org

(9) marxists.org

(10) radiofrance.fr

Quelle: leftcom.org… vom 11. Mai 2024

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