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Widersprüchliche Wiederkehr der Proletarität. Eine Spurensuche im Medialen

Eingereicht on 25. November 2017 – 11:00

Gerhard Hanloser. Auf der 67. Berlinale waren 2017 zwei Filme beziehungsweise Serien zu sehen, die meines Erachtens Stärke und Schwächen der Linken zeigen und sich insofern bestens zur Illustration der hier an anderer Stelle vorgestellten und kritisierten Theorien mit ihrer Kritik an der Linken eignen.[i] Im Berlinale-Special wurde die restaurierte Fassung von Rainer Werner Fassbinder Serie Acht Stunden sind kein Tag von 1972 gezeigt. Fassbinders Kino – Ausdruck der Moderne – geht in die Stammkneipe und sucht das Arbeiter/innendorf auf. Im Zentrum seines Mehrteilers steht nicht der vereinzelte Einzelne, sondern das in der Familie sozialisierte, auf sie verwiesene und ihr gleichsam entkommen wollende Individuum auf der Suche nach freier Sozietät.

Die explizit auf das proletarische Milieu abstellende Serie durchstößt den schönen Schein der damaligen, vorrangig aus den USA stammenden Familienserien der Reichen, Glücklichen und Schönen. Vielleicht eignet sich eine solche Repräsentation des Proletarischen und Plebejischen im Film viel besser als die reformerische Repräsentation im Parteiensystem. Es geht um Betriebsauseinandersetzung, Streik, Sabotage, Ringen um Mitbestimmung am Arbeitsplatz, aber auch um private Belange wie Wohnen, Kindererziehung, Alkoholkonsum, gelungene Beziehungen, frustrierende Ehen. Wenn die Existenz einer proletarischen Common Decency eine filmische Umsetzung erfahren hat, dann hier. Im Bewusstsein der proletarischen, aber auch familiär-sozialen Unentbehrlichkeit beziehen sich die gezeigten drei Generationen solidarisch aufeinander, wenn auch nie konfliktfrei. Natürlich sollte dadurch die Heile-Welt-Stimmung deutscher Nachkriegsproduktionen konterkariert werden.[ii]

Acht Stunden sind kein Tag ist eine didaktisch ausgerichtete Familienserie, in deren Zentrum ein Werkzeugmacher steht; so der junge, klassenbewusste Jochen, gespielt von Gottfried John. Starke Frauenfiguren stehen ebenso im Fokus des Filmes: Hanna Schygulla verkörpert seine Freundin Marion, eine Angestellte in einer Zeitungsannoncenabteilung, immer im Kampf mit der proletarierverachtenden Kollegin Irmgard, die etwas Besseres sein will, aber nicht zuletzt über die Begegnung mit einem Werkzeugmacher aus dem Betrieb von Jochen eines Besseren belehrt wird. Im Film sind Sozial- und Künstlerkritik vereint und lassen sich insofern nicht unterscheiden. Gut sichtbar wird dies in einem von der Oma Luise Ullrich (dargestellt von einem Kinostar der 1950er-Jahre) angeführten Kampf um Wohnraum und schließlich auch einen selbständigen Kinderladen, für den sie sich mit subversiven, der Spontibewegung entlehnten Aktionsformen einsetzt. Die Belegschaft kämpft natürlich gegen Ausbeutung und Ungleichheit, aber auch für ein Mehr an Mitbestimmung, Autonomie und Authentizität. Wo ihre Vorschläge selbst aufgegriffen werden, um die Arbeitsabläufe im Betrieb zu Gunsten des Unternehmens zu optimieren, erfolgt eine kleine durch die junge Hanna Schygulla vorgenommene Lehrstunde in marxistischer Mehrwerttheorie, der zufolge sich der Kampf der Arbeiter/innen nicht in bloßer Mitbestimmung erschöpfen kann.

Ehe und Familie werden hier als beengt und einengend gezeigt, stellen aber dialektisch doch einen Ort und Rückzugspunkt nichtkonkurrenzvermittelter Begegnung dar, wenn „Kummer“ besprochen werden kann und Solidarität zwischen den Generationen waltet. Ist Gewalt und Lieblosigkeit im Spiel, gilt das Prinzip der freien Liebe (im Sinne der alten Anarchisten und Sozialisten) als ein begründetes Lösen einer ehelichen Verbindung, wie gezeigt in der Staffel über ,Harald und Monika‘.

Es gibt in der Serie keine Linken als personale Statthalter einer Idee. Das Linke hat hier keinen aparten Auftritt, ist nicht ein abgegrenztes Milieu, sondern stellt sich als Aufklärung, Erkenntnis der eigenen Lage und Mut zum Kampf gegen Zumutungen erst in Gesprächen und gemeinsamen Aktionen her, auch als plötzliches Erkennen. Die Gespräche können unter der Dusche im Betrieb erfolgen, aber auch als Liebespaar im Bett. Acht Stunden sind kein Tag zeigt auch Prozesse von Radikalisierung: Wenn der Betriebsrat nicht aktiv wird, müsse man sich selbst zur Wehr setzen, nur resignieren, das dürfe man nie; so endet die erste Staffel mit den weisen Worten der jungen Marion. Und tatsächlich produzieren die Arbeiter daraufhin „Schrott“, betreiben mithin Sabotage, um wieder eine ihnen zugesprochene und dann vorenthaltene Prämie von der Unternehmensleitung zu erhalten.

Antirassismus spielt als ostentative Geste des guten Willens oder als Konsumentenideologie keine Rolle, aber natürlich gibt es ausländische Kollegen und auch Rassismus im Betrieb. Im Kampf gegen einen unliebsamen Meister spielt der gebrochen Deutsch sprechende italienische Kollege eine Schlüsselrolle, weil er eine dem Meister schadende Bestellung aufgibt. Daraufhin von Entlassung bedroht, setzen sich alle Kollegen für ihn ein. Nur „Rüdiger“, ein unangenehm wirkender blonder Protagonist, der rassistisch, unkollegial und mit dem Lauf der ausbeuterischen Dinge meist einverstanden ist, will ihn bei der Betriebsleitung diffamieren. Dies fliegt auf, so dass er in der Belegschaft isoliert ist.

Die Serie präsentiert indessen keinen Proletkult. Wir sehen saufende und schwitzende, lallende Arbeiter in ihrer ganzen Hässlichkeit, Armseligkeit und Verzweiflung, aber niemals gelangt der/die Zuschauer/in in eine überlegene Position – oder in eine, in der er/sie sich selbst geneigt sieht, sich von den Protagonisten abzuwenden. Stattdessen bringt der/die Zuschauer/in im Betrachten der elenden Arbeiter mit ihren Sorgen und Nöten (dem in der Serie wiederholt artikulierten „Kummer“) diesen vielmehr etwas entgegen, was man wohl heutzutage als Empathie bezeichnet, was man aber auch – in der Sprache der alten Linken – schlicht „Solidarität“ nennen kann. Ein anderer Film, der im Rahmen von Generation 14plus auf der 67. Berlinale lief, der dreistündige Film Ceux qui font les révolutions à moitié n‘ont fait que se creuser un tombeau (Those Who Make Revolution Halfway Only Dig Their Own Graves), ist dahingegen ein Beispiel für die lebensfeindliche antiaufklärerische Haltung der aktuellen Linken, und er kann als Darstellung narzisstisch-verdorbener Desperados als „radikaler Linker“ Michéas Kritik an dieser nur untermalen.[iii] Der Film stammt von den beiden Kanadiern Mathieu Denis und Simon Lavoie und ist aus dem Jahre 2016.

Er zeigt einen Prozess der zerstörerischen Selbstisolation einer nur noch auf sich selbst verwiesenen Gruppe von vier Verzweifelten nach dem Verebben der studentischen Protestbewegung des „Ahorn-Frühlings“ in Quebec. Ohnmacht und Sprachlosigkeit führen zu Zerstörungssehnsüchten, und die neue Kommune der Protagonisten von Klas Batalo, Ordine Nuovo, Tumulto und Giutizia hat wenig von avantgardistischer Auflösung der Kleinfamilie in einer neuen freien Vereinigung, sondern mehr von einem Zwangskollektiv en miniature. Einige anfängliche Aktionen mögen noch im Geiste der situationistischen Spaßguerilla gehalten sein, doch die Übergänge zum ziellosen Terrorismus sind fließend.

Das eigene Anliegen kann hierbei nicht mehr kommuniziert werden. So fragt eine aus den Philippinen stammende Kosmetikerin ein in der Sexarbeit sich verdingendes Mitglied der Kommune beim Wachsen des Intimbereichs, was es denn gegen die Gesellschaft einzuwenden habe? Man habe doch in Kanada ein funktionierendes Sozialsystem und keine Diktatur. Darauf keine Antwort – bloß Schweigen. Das Geheimwissen über die Unzumutbarkeit der Verhältnisse kann nicht kommuniziert werden, weil das Leiden ein apartes, nicht verallgemeinerbares ist. Gleichzeitig verbleibt die philippinische Beautyarbeiterin in der Rolle der bloßen Dienstleisterin und wird bei aller Intimität des Vorgangs beim Wachsen doch auf Distanz gehalten. Als potenziell zu überzeugende arbeitende Genossin erscheint sie nicht im Bewusstsein des Kommunemitglieds. Ihr subjektiver Hass auf die Verhältnisse erwächst aus psychischen Dispositionen, nicht aus einer allgemeinen Lage der Ausbeutung, Unterdrückung, Vereinzelung, Beleidigung. Die vier Mitglieder der Kommune-Gang werden so auch niemals in der Lage sein „den ursprünglichen Egoismus der Jugend zu überwinden und sich, wie Lasch weiter ausführt, ‚allmählich mit dem Glück und dem Erfolg der Mitmenschen zu identifizieren‘“.[iv] Eine solche Revolte bezieht „ihre Motivation nur noch aus Wut, Hass, Neid und Ressentiment (also letztlich aus den kindischsten Formen des Machtstrebens)“.[v]

Am Ende des Filmes verbrennt sich eine Kommuneprotagonistin vor den Augen der eigenen Mutter, als letzter verzweifelter Akt einer autoaggressiven narzisstischen Störung. Solche von allen Mitgliedern der Kommune geteilten Störungen waren bereits erkennbar in den Selbstkritikorgien der Gruppenmitglieder, in denen sie sich selbst unter anderem wegen „Nostalgie“ anklagten und verletzten. „Die Linke hat nur zu häufig als Zufluchtsort vor den Schrecken der Innenwelt gedient“, so Michéa in einem Zitat des Kulturkritikers Christopher Lasch, der für die Linke der USA protokollierte: „Ein anderer ehemaliger Linker, Paul Zweig, hat sich dahingehend geäußert, er sei in den frühen fünfziger Jahren Kommunist geworden, weil der Kommunismus […] ihn von den ramponierten Räumen und zerbrochenen Vasen eines bloß privaten Lebens befreite. Solange politische Bewegungen eine fatale Anziehungskraft auf Menschen ausübten, die das Gefühl persönlichen Versagens in kollektivem Handeln zu ertränken suchen – als ob kollektives Handeln eine intensive Beachtung des persönlichen Befindens eines Menschen ausschlösse ‒, werden politische Bewegungen über die persönliche Dimension sozialer Krisen wenig aussagen können.“[vi] Der eigene Schmerz und das eigene Leiden werden unmittelbar politisiert und damit als der Bearbeitung harrende Probleme negiert. Gleichzeitig wird politische Agitation und Praxis lebensfeindlich und regressiv.

,1968‘ erscheint in dem Film als ähnlich verwerflich und des Attackierens würdig wie bei Michéa und Boltanski / Chiapello, wenn auch nicht als den Narzissmus befördernde Bewegung oder als Kritikform, welche die Managementambitionen der Modernisierung des Kapitalismus unterlegt. Der 68er tritt direkt in zwei patriarchalen Figuren auf: zum einen in Gestalt des Vaters von Klas, zum anderen in Form eines sich an die Vergangenheit erinnernden aufdringlichen Freiers, der bei der transsexuellen Sexarbeiterin Ordine Nuovo eine Rosa-Luxemburg-Schrift entdeckt. Dies löst bei ihm eine Reflexion über seine angeblich radikale Jugend aus. Der Freier wird, hilflos-weinend, geschlagen und rausgeschmissen. Dass er schlicht als Freier übergriffig geworden ist, wird allerdings nicht kommuniziert; er ist vom Vertragspartner schlicht zum Feind geworden – das Medium dieses radikalen Übergangs ist ausgerechnet ein marxistisches Buch, das ja auch Gemeinsamkeit jenseits des Vertragssex implizieren könnte.

Auch der Vater-Sohn-Konflikt wird nicht gelöst, sondern nur extrem ausagiert. Klas rammt seinem Vater ein Steakmesser in die Schulter und stürmt aus dem Haus; der alt gewordene väterliche Ex-68er hatte seine rebellische Vergangenheit längst verdrängt und wollte den Sohnemann nur noch aufs Funktionieren verpflichten: er solle erst mal ein nützlicher Teil der Gesellschaft werden. Die vier Revolteprotagonisten sind kaum in der Lage, ihre Erfahrungen zu verbalisieren. Diskutiert wird nicht, und von der Lust am besseren Argument, der Lust an der Kritik, die 68 prägte, ist in dem Film nichts zu verspüren. Während Acht Stunden sind kein Tag eine Orgie an Mitteilsamkeit, Diskussion und Verständigung ist, erschöpft sich Ceux qui font les révolutions à moitié n‘ont fait que se creuser un tombeau (Those Who Make Revolution Halfway Only Dig Their Own Graves) in bloßem Verstummen oder im autistischen Monolog. Liegen die vier Protagonisten nackt zusammen, so werden hier nicht etwa, körpertherapeutisch oder sexualpolitisch motiviert, Blockaden aufgelöst, sondern eine kuschelnde Regression, gepaart mit narzisstischer Selbstausstellung schöner Körper, entwickelt sich.

Welche Theorie hat die Gruppe? Keine! Zitatfetzen aus Manifesten und Pamphleten werden präsentiert, die für die Gruppe Wichtigkeit signalisieren, vielleicht auch den Film diskursiv unterfüttern sollen. Längst ist Theorie nur noch ein beliebig zusammensetzbarer, dekonstruierbarer Zitatenschatz, allein auf Schlagworte der Radikalität verkürzt. In Fassbinders Satire der Dritten Generation der RAF (Die dritte Generation, 1979) werfen sich die kleinbürgerlich-radikalisierten Protagonisten die Klassiker der revolutionären Literatur als Zeichen ihrer theoretischen Unernsthaftigkeit zu. Eben diese Symbolik trifft auch auf den kanadischen Dreistunden-Streifen zu. Die radikale Linke wird bei Ceux qui font les révolutions à moitié n’ont fait que se creuser un tombeau (Those Who Make Revolution Halfway Only Dig Their Own Graves) mit einem Negativbild konfrontiert; eine filmische Darbietung, die als Kritik und Warnung gleichermaßen gesehen werden kann, während sie in der 70er-Jahre-Serie von Fassbinder Acht Stunden sind kein Tag eine Herausforderung findet, dem Sozialen und Proletarischen wieder gewahr zu werden und es einer wirklich subversiven und fundamentaloppositionellen Praxis zuzuführen, die an der Erkenntnis festzuhalten versteht, dass das Ganze im Kapitalismus das Falsche ist.

Quelle: Sozial.Geschichte Online… vom 25. November 2017


[i] Vgl. den vorangegangenen Artikel des Autors in diesem Heft: Französische Erklärungsversuche für die Schwäche der Linken. Eine Auseinandersetzung mit Luc Boltanski / Ève Chiapello, Didier Eribon und Jean-Claude Michéa.

[ii] Wobei den Figuren der patent-anpackenden Oma und ihres dementen alten liebevollen Freundes Gregor durchaus nachgespürt werden könnte. Schließlich entstammen beide der Generation der Nazitäter/innen. Faschismus ist in dem Film allerdings abwesend; die Oma poltert nur einmal verdächtig wütend gegen die Spekulanten bei der Wohnungssuche. Die altersbedingte Amnesie des so liebevoll gezeigten Gregors, gespielt von Werner Finck, könnte auch als Allegorie auf ein Vergessenwollen der Nazivergangenheit der älteren Generation interpretiert werden. Damit wäre natürlich ein Schatten auf den emanzipatorischen Gehalt dieser Serie geworfen.

[iii] Zu Jean-Claude Michéas Kritik an der „radikalen Linken“ vgl. den vorangegangen Artikel des Autors in diesem Heft: Französische Erklärungsversuche für die Schwäche der Linken. Eine Auseinandersetzung mit Luc Boltanski / Ève Chiapello, Didier Eribon und Jean-Claude Michéa.

[iv] Jean-Claude Michéa, Das Reich des kleineren Übels. Über die liberale Gesellschaft, Berlin 2014, S. 170.

[v] Ebenda, S. 171.

[vi] Christopher Lasch, Das Zeitalter des Narzissmus, München 1980, S. 33 f.

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