Entstehung des Schweizer Kapitalismus
Willi Eberle. Das Funktionieren des heutigen Schweizer Kapitalismus kann nur durch seine Geschichte verständlich gemacht werden. Der Kapitalismus muss von seiner Entstehung her als ein Weltsystem begriffen werden, in dem es Zentren der Akkumulation und eine ausgebeutete Peripherie gibt, wie die Kontinente Afrika, welches die Sklav:innen, und Zentral- und Lateinamerika, welche Gold, andere Edelmetalle und Rohstoffe – insbesondere Baumwolle für die Textilindustrie – lieferten. Die Entwicklung des Schweizer Kapitalismus kann daher nur in seiner Einbettung in dieses Weltsystem verstanden werden. Zudem gibt es kein geschichtliches Verständnis, ohne dass die Entwicklungen im Zusammenhang der Klassenkonflikte interpretiert werden.
Die Herausbildung des Kapitalismus ist kein idyllischer geschichtlicher Prozess[1]. Er ist vielmehr von einer meistens rücksichtslosen Durchsetzung der privaten Verfügungsrechte über den gesellschaftlichen Reichtum geprägt. Dies gilt auch für das Gebiet, das ab der Mitte des 19. Jahrhunderts den Nationalstaat der Schweizer Eidgenossenschaft ausmachen sollte. Diese Geschichte kann insbesondere für die Schweiz nur im Zusammenhang der europäischen polit-ökonomischen Dynamik begriffen werden. Ab dem 16. Jahrhundert greift die kapitalistische Mehrproduktaneignung und die Enteignung durch die erstarkende europäische Bourgeoisie mit dem Kolonialismus auf alle Kontinente aus. Die Schweiz findet darin eine ganz spezifische Rolle, ohne Kolonien, ohne militärisch untermauerte Großmachtpolitik[2].
Wie kam es zur Scheidung von Produzent:innen und den Eigentümer:innen der Produktionsmittel? Wie kam es zur kapitalistischen Klassentrennung zwischen Lohnabhängigen und Kapitalist:innen? Wie kam es zur Bildung des helvetischen Zentralstaates? Bei der Beantwortung dieser Fragen sollten auch die Spezifika des helvetischen Kapitalismus in ihrer geschichtlichen Entwicklung hervortreten: eine außergewöhnlich erspriessliche Einbettung seit seinen Ursprüngen in die Entwicklungslinien und Konjunkturen des weltweiten Kapitalismus und, ab dem späteren 19. Jahrhundert, des Imperialismus, durch eine hohe Abschöpfung des international erarbeiteten Mehrwerts und einen hohen Grad an Dämpfung der einheimischen sozialen Konflikte. Diese beiden Faktoren waren entscheidend für die Tatsache, dass heute in der Schweiz die Bourgeoisie mit einer bürgerlichen direkten Referendumsdemokratie ihre Interessen gewaltlos durchsetzen kann, wie sonst nirgends auf der Welt. Dabei wird auch ersichtlich, dass die Herausbildung einer zentralisierten staatlichen Struktur weniger aus dem politischen Willen der herrschenden Eliten, sondern aus deren Verfolgung ökonomischer Interessen und des äusseren und inneren Drucks erfolgte: das Ökonomische geht dem Politischen vor. Dieser Wirtschaftsliberalismus bleibt bis heute eine Grundeigenschaft des Schweizer politischen Systems.
Handel und Alpen
Mit dem Aufblühen des Handels auf dem europäischen Kontinent und im Mittelmeerraum ab dem Hochmittelalter wurde auch das seit jeher als Durchgangsraum dienende Gebiet zwischen den Alpen, dem Rhein und Bodensee, dem Jura und dem Genfersee in eine neue Dynamik gezogen. Dies geschah zuerst durch eine Belebung der Alpenpässe und der Wasserstraßen, dann durch die Entstehung neuer, oft kleiner Städte. Um 1300 gab es etwa 80 Städte, neben Genf mit vielleicht 5 000 waren diese oft nach heutigen Begriffen mit einigen Hundert Einwohnern sehr klein. Dies ist ein Ausdruck der einsetzenden Trennung von Land und Stadt, von Handel, Handwerk und Geld auf der einen Seite, und von der überwältigenden Mehrheit der Bauern und Bäuerinnen, die weiterhin das Land bearbeiteten auf der anderen Seite. Ab dem 13. Jahrhundert nahm der alpenquerende Verkehr vor allem über die Gotthardroute stark zu und in Europa entstanden neue Handelsplätze. Genf wurde für etwa zwei Jahrhunderte zu einem zentralen europäischen Marktort.[3]
Ab dem 16. Jahrhundert traten in Europa neue Gebiete – Süddeutschland, Böhmen, die Niederlande, Norddeutschland, Spanien, Portugal an die Stelle von Norditalien als Zentren frühkapitalistischer Akkumulation. Gleichzeitig traten in der Schweiz zunehmend Basel, Zürich, St. Gallen und andere Städte anstelle von Genf in den Vordergrund. Die damit verbundenen Berufe – Kaufleute, Geldwechsler:innen, Handwerker:innen, Säumer:innen, Gastwirt:innen, Zollbeamt:innen, Geleitschutz und viele andere – gediehen. Es wurden vor allem über die Bankiers und die Kaufleute Beziehungsnetze innerhalb dieses Gebietes geknüpft und immer mehr auch weit darüber hinaus[4]. Die Schweizer Handelsbourgeoisie wurde auch früh ein aktives Element der Kolonialpolitik der europäischen Kolonialmächte[5].
Mit der großen Krise um die Wende des 15. zum 16. Jahrhundert, die sich neben anderem auch durch den grossen Deutschen Bauernkrieg, die Erhebungen der Bauern und Bäuerinnen in Böhmen und in Frankreich ausdrückte – die die materielle soziale Basis der Reformation ausmachten – treten wir in eine neue geschichtliche Epoche: den Frühkapitalismus. Hier begann in groben Zügen das, was als ursprüngliche kapitalistische Akkumulation bezeichnet wird: die Trennung einer breiten Bevölkerung von den naturgegebenen, auf dörflicher Gemeinschaft basierenden Produktionsmethoden und der langsame Vormarsch des Geldes, später der Lohnabhängigkeit, in alle Lebensbereiche.[6]
Die wachsende Krise ab dem Spätmittelalter führte auch zu immer größeren Konflikten um die Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent und in England. Diese Konflikte führten oft in weitläufige Kriege in Europa und auch in innere Konflikte und soziale Veränderungen auf dem Gebiet der künftigen Schweiz. Dabei verstanden es die Eliten immer wieder, sich durch gegenseitige Schutz- und Beistandspakte und Landfriedensabkommen gegen die Bedrohungen von innen und von außen zu wappnen.
Soldwesen und Frühkapitalismus
Die Schweiz hat seit der vernichtenden Niederlage bei Marignano um 1515 kaum mehr Kriege im europäischen Rahmen geführt. Dafür fehlten schlichtweg die Voraussetzungen: Es gab keine politische Zentralisierung über den Rahmen der „Orteʺ (in etwa der heutigen Kantone) hinaus, kein stehendes Heer, keine finanziellen Mittel, um gegen die immer stärker ins Gewicht fallende Artillerie der europäischen Armeen anzukommen.[7]
Die grossen europäischen Kriege ab dem 15. Jahrhundert waren für die Eliten ein einträgliches Geschäft, nicht zuletzt über das Soldwesen, mit dem über die folgenden ca. drei Jahrhunderte gegen eine Million junger Männer und vielleicht auch Frauen in fremden Diensten umkamen; über längere Perioden waren auf eine Bevölkerung von gegen einer Million gleichzeitig 50 000 bis 70 000 Schweizer Söldner:innen in fremden Diensten. Eine direkte Beteiligung an diesen großen Kriegen hätte dazu geführt, dass auf der gegnerischen Front ebenfalls Schweizer:innen gekämpft hätten, was gegen innen schwer zu rechtfertigen gewesen wäre.[8] Zudem wäre es für die Eliten bei einer aktiven Grossmachtpolitik kaum möglich gewesen, den feindlichen Mächten Solddienste zu verkaufen – wie auch der internationale Handel schwieriger gewesen wäre. Die Schweizer Eliten verzichteten von daher fortan auf eine militärische Großmachtpolitik. Dies kann als Ursprung der Neutralitätspolitik bezeichnet werden.
Das Soldwesen und die damit verbundenen Verträge und Zahlungen durch die fremden Kriegsherren waren ein wesentlicher Faktor der Korrumpiertheit der eidgenössischen Eliten. Die wichtigsten Quellen des Reichtums der Schweizer Eliten waren über Jahrhunderte im Ausland das Soldwesen und der Handel und im Inland die Heimindustrie und die Abgaben auf bäuerlicher Arbeit. Mit der Beteiligung am kolonialen Handel und dem Sklav:innenenhandel erhielt der kolonialistische Reichtumstransfer eine immer grössere Bedeutung. Da die Schweiz keinen Meeranstoss und keine Kolonien hatte, wirkten die Händler:innen, Financiers und einzelne Abenteurer:innen entsprechend aktiv mit bei der ökonomischen Unterwerfung der kolonialisierten Überseegebiete.[9]
Soziale Unrast, europäische Großmachtkonflikte und Zentralisierung
Der wachsende Bevölkerungsdruck stellte ab dem 15. Jahrhundert eine Quelle von sozialer Unrast dar: Die wachsende Bevölkerung stand einer begrenzten landwirtschaftlich nutzbaren Fläche gegenüber. Gleichzeitig erhöhten die Eliten die Abgabenlast. Überhaupt war die Schweiz bis Mitte des 19. Jahrhunderts ständig überbevölkert und arm. Das wachsende Potential an sozialer Unrast äußerte sich auch darin, dass die grosse deutsche Bauernerhebung auf den Boden der Schweiz überschwappte, beispielsweise dem Rorschacher Klosterbruch mit den St. Gallerkriegen um 1489, dem Ittinger Klostersturm um 1524 und anderen.
Die sozialen Konflikte, vor allem die Revolten der Bäuer:innen, nahmen im Gebiet der Schweiz aber kaum je die scharfe Form an wie etwa in Deutschland und in Frankreich, vielleicht mit Ausnahme der bäuerlichen Erhebung von 1653[10]; diese erstreckte sich als einzige über das Gebiet mehrerer Kantone und wurde von den Obrigkeiten vereint blutig niedergeschlagen. Die „Regelungenʺ von frühneuzeitlichen Erhebungen waren in der Schweiz immer vom gemeinsamen Vorgehen der Obrigkeiten mehrerer „ Orteʺ geprägt. Bei diesem gemeinsamen Vorgehen wurden die Interessen der beteiligten Obrigkeiten – mehr oder weniger auf Kosten der Untertanen – weitgehend gewahrt. Dies war auch der Fall bei den Abkommen zwischen den „Ortenʺ für die Durchsetzung gemeinsamer Interessen gegen aussen, ab dem 17. Jahrhundert vor allem gegen die Dynastien der Habsburger, der Valois und später der Bourbonen.
Aufgrund erstens der schwächeren Ausprägung der bäuerlichen Erhebungen und zweitens der Ermangelung einer zentralisierten Entscheidungsstruktur und eines stehenden Heeres zur Niederschlagung dieser Erhebungen mussten die Eliten gegen die Aufständischen eine gewisse Kompromissbereitschaft walten lassen. Dies machte großen Eindruck vor allem auf die sich erhebenden deutschen Bauern und Bäuerinnen, die gnadenlos von ihren vereinten Herren niedergemacht wurden; letztere wurden durch die Hasspredigten des Reformators Martin Luther – siehe etwa dessen Flugschrift „Wider die mordischen und reubischen Rotten der Pawren“ von 1525 – zum Vornhinein von aller Schuld freigesprochen. Die Reformation flößte den deutschen und etwas früher den böhmischen Bauern und Bäuerinnen im Hinblick auf ein besseres Leben grosse Hoffnungen ein. Als sie diese Hoffnung jedoch einlösen wollten, sahen sie sich einer tollwütigen Schar von Mörder:innen gegenüber.[11]
In der Schweiz verlief dieser Konflikt milder. Der Reformator Zwingli entstammte selbst dem gehobenen bäuerlichen Milieu im Toggenburg; sein Vater war Bauer und Importeur von Weinen aus dem Veltlin. Auch hier erhofften sich die Bauern und Bäuerinnen von der Reformation ein besseres Leben. Zwingli wies ihre Erwartungen bezüglich einer Milderung der Abgaben auf eingezogenen Kirchen- und Klostergütern erst im weiteren Verlauf der Reformation klar zurück. Hauptsächlich aber war die Reformation in der Schweiz eher einem Konflikt zwischen den Eliten eingeschrieben, die vom Handel einerseits oder andererseits von dem Soldwesen lebten. Der Konflikt entbrannte insbesondere um die gemeinsam verwalteten Untertanengebiete und um das Soldwesen, gegen das sich Zwingli und mit ihm die Handelsstadt Zürich vehement wandte; in den Untertanengebieten ging es unter anderem darum, ob und wer Aushebungen für das Soldwesen machen durfte und um die Aufhebung der Klöster. Fortan sollten Konflikte um die Konfession bis in das zwanzigste Jahrhundert hinein in der Geschichte der Schweiz eine wichtige Rolle spielen.[12]
Frühkapitalismus in Stadt und Land
In Europa ist das Verlagssystem schon im Mittelalter bezeugt. Die Verbreitung des Verlagssystems ging mit zwei sozialen Veränderungen einher: Erstens musste in den Städten der Widerstand der Zünfte gebrochen werden, zweitens begünstigte das System die Abhängigkeit der Produzent:innen von den Verleger:innen mit einer Vorform der Lohnabhängigkeit.[13]
Die Frühindustrialisierung entwickelte sich einerseits im Umfeld von Städten wie Genf, St. Gallen, Basel und Zürich, insbesondere als Verlagssystem und Heimindustrie. Diese Städte waren weniger am Soldgeschäft beteiligt. Vielmehr suchte die reich gewordene Handelsbourgeoisie neue lukrative Betätigungsfelder. Der Verschuldung der Kleinbäuer:innen gegenüber dieser Händler:innenschicht in Form des Warenkredits kam dabei eine grosse Bedeutung zu: Die Kaufleute konnten der stets drohenden Zahlungsunfähigkeit ihrer Klientel abhelfen, indem sie diese mit gewerblicher Arbeit versahen und ihre Ansprüche über Lohnabzüge einforderten. Mit dieser Praxis konnte die Kaufmannsschicht und die aus dieser später hervorgehende Finanzbourgeoisie die Regeln der Zünfte in den Städten umgehen. Dadurch wurde reines Handelskapital, vermittelt über die Verarmung weiter Bevölkerungskreise, quasi zwangsweise in frühindustrielles Kapital verwandelt. Die Heimindustrie war als Textilindustrie und gelegentlich als Uhrenindustrie beinahe ausschließlich auf den Export ausgerichtet. Diese Exportorientiertheit gewichtiger Bereiche der Schweizer Wirtschaft gilt bis heute.[14]
Gewerbliche Tätigkeiten wurden in den Landgebieten bis ins 20. Jahrhundert hinein, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, mit landwirtschaftlicher Arbeit kombiniert. Die Heimindustrie konnte sich deshalb vor allem in Gebieten ausdehnen, die entweder ein arbeitsextensives, das heisst mit weniger Arbeit verbundenes, agrarisches Nutzungssystem aufwiesen oder die durch eine große soziale Ungleichheit mit einem hohen Anteil landarmer oder landloser Haushalte gekennzeichnet waren. Die erste Situation trifft besonders für das voralpine Hügelland, wie z.B. Appenzell Ausserrhoden zu, wo schwerpunktmäßig vom 15. bis ins 17. Jahrhundert mit dem Vormarsch der überregionalen Agrarmärkte eine Verlagerung zu einer arbeitsextensiven Viehwirtschaft erfolgte. Die zweite Situation fand sich dagegen auch in Mittellandgebieten, wo sich eine intensive Landwirtschaft mit Ackerbau durchsetzte. In den Weinbaugebieten des Zürichsees etwa war die Koexistenz von arbeitsintensiver Landwirtschaft mit Seidenweberei in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung begründet: Frauen arbeiteten im Seidengewerbe, während sich Männer aus der Unterschicht und dem Kleinbauerntum als Taglöhner oder Knechte in den Bauernbetrieben verdingten.[15]
Dank Einhegungen konnten die Heimarbeiter:innen eine auf ihre Konsumbedürfnisse (Milch, Kartoffeln) ausgerichtete Nebenerwerbslandwirtschaft betreiben; sie orientierten sich auf Geldeinkommen aus der Heimarbeit, die Landwirtschaft diente vor allem der Selbstversorgung. Vielerorts lösten Einhegungen und damit die Beseitigung althergebrachter Allmendrechte wegen der Frage des Weidegangs Konflikte aus zwischen den Einheger:innen, die meist reichere Vollbäuer:innen oder eben Heimarbeiter:innen waren, und landarmen Bäuer:innen, für die der uneingeschränkte Weidegang eine wichtige Existenzbasis bildete. In der Schweiz hatten die Heimarbeiter:innen, meistens Kleinbauern und -bäuerinnen, ein Interesse an einer Bewirtschaftungsform, die ihnen mehr Bewegungsfreiheit versprach als die an kollektive Absprachen gebundene kollektive Bewirtschaftung der Allmende. Diese Bewegung der Einhegungen, der Beseitigung von Allmenden, des Übergangs des Bodens von Gemein- in Privateigentum, ging in der Schweiz somit bei weitem nicht so dramatisch und gewalttätig vor sich wie beispielsweise in England, wo die Bauernschaft teils gewaltsam von ihrem Land vertrieben wurde und über eine Reihe von brutalen Zwangsmassnahmen zur Arbeit gezwungen wurde. Auch diesbezüglich war die Schweiz ein Sonderfall.[16]
Bis etwa zur Mitte des 17. Jahrhunderts trugen die im Umfeld von Solddienstabkommen mit Nachbarstaaten geschlossenen Wirtschaftsabkommen über die Senkung der Zölle und der Transportkosten des schweizerischen Aussenhandels viel zur Konkurrenzfähigkeit des exportorientierten Gewerbes bei. Zwischen der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und der Mitte des 18. Jahrhunderts waren dagegen innerhalb der einzelnen Orte die zahlreichen Gewerbegesetze mit dafür verantwortlich, dass die Zölle und Transportkosten einer zwar komplexer werdenden, aber immer noch dezentralen Produktion tief gehalten werden konnten. Vor allem aber spielte die Tatsache, dass die industrielle Produktion fast ausschließlich in Heimarbeit geleistet wurde, eine zentrale Rolle. Dadurch war sie nach unten enorm flexibel, ohne während ökonomischen Einbrüchen grosse soziale Konflikte hervorzurufen; denn in der Heimarbeit traten die Lohnabhängigen den Verlagsunternehmer:innen als Einzelpersonen gegenüber, ohne kollektive Interessenvertretung. Zudem benötigte die Heimarbeit einen vergleichsweise tiefen Fixkostenaufwand. Durch die Heimindustrie, mit dem Solddienst und der Reislauferei konnten die durch den andauernden Bevölkerungsdruck entstehenden sozialen Spannungen etwas abgemildert werden. Und die Eliten konnten sich, zusammen mit den Handelsgewinnen, enorme Summen an Profiten aneignen. Dieser wurde oft in Finanzanlagen im Ausland oder bei den Privatbanken in Genf und St. Gallen, später auch in Zürich und Basel angelegt und leistete dort dem Geld von reichen Flüchtlingen aus Frankreich und Italien und ausländischen Reichen Gesellschaft.
Zudem war die Herrschaft dieser Eliten, wie in Unruhen immer wieder deutlich wurde, viel labiler als jene des feudalen Adels, der im Spätmittelalter ausgestorben war. Sie mussten stets mit dem Misstrauen rechtlich gleichgestellter Geschlechter, der Bürgerschaft oder der Landleute, aber auch der Untertanen rechnen. Ohne stehendes Heer fehlte ihnen die Möglichkeit, den Gehorsam mittels Gewalt zu erzwingen. Wie in den Städten und in den Länderorten entwickelten sich auch in den untertänigen Kleinstädten und auf dem Land Eliten, die sich aus Angehörigen reicher Bauerngeschlechter und Gewerbetreibenden (Wirt:innen, Müller:innen) zusammensetzten, die die wichtigen Gemeindeämter an sich zogen und sich im Lebensstil von den anderen Bauersleuten immer stärker abhoben.[17]
Französische Revolution und Sturz des Ancien Régime
Im Ancien Régime wuchs zwar die innere Kohärenz auch zwischen den Kantonen durch ein immer dichter werdendes Netz von Abkommen und Landfriedensbündnissen. Diese Bündnisse konnten durchaus auch äußere Mächte – Habsburg, Frankreich, Mailand, Savoyen, den deutschen Kaiser, den Papst – einschließen. Die gemeinsamen Regeln und Aktionen wurden in der seit dem Spätmittelalter bestehenden Tagsatzung beschlossen. Die Tagsatzung entstand einerseits aus älteren Wurzeln, vor allem aber aus der Notwendigkeit der Verwaltung der gemeinsamen Untertanengebiete, der gemeinsamen Kriegsführung gegen fremde Mächte und der Bekämpfung innerer Konflikte. Aber sonst gab es keine Bemühungen, das schweizerische Territorium nach einheitlichen Regeln und Verfahren zu organisieren, wie dies im französischen Absolutismus seit langem am deutlichsten zu sehen war. Zwar bauten die alten und die neuen Eliten in den „Ortenʺ ihre Autorität ebenfalls aus, sträubten sich jedoch gegen jede zentrale Organisation des Territoriums der Eidgenossenschaft.[18]
Die Französische Revolution kam für die Eliten des Ancien Régimes, in der Schweiz wie anderswo, sehr ungelegen; zu bedrohlich waren die Massenbewegungen und deren Forderung nach „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeitʺ und eine zentralisierte republikanische Ordnung mit einer universalistischen Grundausrichtung. Der Schweizer Bankenplatz bot den bedrohten Vermögen des französischen Adels und der Großbourgeoisie hingegen großzügigen Schutz; Schweizer Söldner verteidigten in Paris die alte Ordnung mit ihrem Blut. Vor allem Genfer Bankiers halfen der französischen Finanzbourgeoisie in der Revolution beim Verschieben ihres Geldes in die Schweiz. Es gab auch findige Bankiers, die wie der Zürcher Bankier Jean-Gaspar Schweizer mit überteuerten Lieferungen an die neu geschaffene französische Armee ein Riesenvermögen zusammenraffen konnten.[19]
In der Schweiz gingen wie in anderen Ländern der bürgerlichen Revolution größere Aufstände voraus. Sie reichten jedoch nicht aus, um eine Änderung der Machtverhältnisse herbeizuführen. Demgegenüber stand die französische Bourgeoisie in einem jahrzehntelangen Kampf, um die in Bewegung geratenen Massen – auch gewaltsam – niederzuhalten. Die Machtergreifung durch Napoleon Bonaparte mit dem Staatsstreich vom 18. Brumaire (9. November) 1799 war die letzte Waffe, die die Finanz- und Handelsbourgeoisie im Bündnis mit den Eliten des Ancien Régimes zur Verfügung hatte. Soweit brauchte die helvetische Bourgeoisie nicht zu gehen, um sich die Macht zu sichern.
Erst die Eroberung des Territoriums der Schweiz durch napoleonische Truppen 1798 erlaubte durch die Helvetik die Errichtung eines einigermaßen modernen Staates mit zentralen Strukturen. Die Helvetik endete allerdings mit der Niederlage der französischen Truppen bei Waterloo. Beim Wienerkongress (1815), als die reaktionären Mächte Europas die revolutionären Errungenschaften wieder zurückrollten, haben sie aus Eigeninteresse die Jahrhunderte alte faktische Neutralität der Schweiz in einem internationalen Vertrag festgeschrieben[20]. Diese stand ja durchaus auch im Interesse der Schweizer Handels-, Sold- und Finanzbourgeoisie, die damit viel Geld verdient hatte – nicht zuletzt auch durch den mit dem kolonialen Handel eng verflochtenen Sklav:innenhandel. Die Eliten der eher konservativen Orte, die ihr Geld hauptsächlich mit den Soldverträgen gemacht hatten (Solothurn, Bern, Innerschweiz, Luzern, Basel-Stadt), hatten bislang ihr Geld auch dank dieser Neutralität verdient, aber sie mussten nun aufgrund des Niedergangs der Solddienste auf „modernereʺ Formen der Geldmacherei umsteigen.
Liberalismus und industrielle Revolution
Die liberale Bewegung entstand während der Aufklärung in einem Teil der patrizischen Schichten und des Bildungsbürgertums; diese sympathisierten mit der französischen Revolution. Im Industrialisierungsprozess entstand zudem auf dem Land aus Gewerbekreisen ein industrielles Bürgertum. Auch die Bauernschaft barg ein revolutionäres und radikales Potential, mindestens solange, bis sie im Besitz des Landes war und die ehemaligen Untertanengebiete befreit waren.
In der ökonomischen Krise nach der Französischen Revolution wuchs die Maschinen- und Schwerindustrie. Vorerst entwickelte sich diese Dynamik um den Bau von Textilmaschinen. Die technischen Neuerungen, gerade in der Baumwollverarbeitung in England und Frankreich, drängte die Schweizer Textilindustrie aus dem Markt. Die verhängte Kontinentalsperre erhöhte zudem die Dringlichkeit einer Umorientierung der Wirtschaft. Die Schweizer Textilindustrie wurde durch eine enge Zusammenarbeit mit englischen Ingenieuren auf modernste Standards umgestellt. Die dafür nötigen finanziellen Mittel wurden oft von größeren Gewerbebetrieben oder von den Industriellen selbst aufgebracht, ohne die Privatbanken; Investitionsbanken und Regionalbanken existierten damals noch nicht, wie es auch keine Aktienmärkte gab. Durch die Mechanisierung der Baumwollindustrie, dem weitaus wichtigsten Industriezweig im Ancien Régime, verlor die Heimindustrie weitgehend ihre Grundlage.[21]
Die aufklärerischen Stossrichtungen der Helvetik hatten in der Schweizer Bourgeoisie jedoch ihre Spuren hinterlassen. Die Liberalen spalteten sich 1814 in Liberale und Radikale. Letztere strebten die Schaffung eines zentralisierten Nationalstaates mit weitestgehender Wirtschaftsfreiheit und garantierten kapitalistischen Eigentumsrechten an, während die Liberalen den einheitlichen Zentralstaat ablehnten. Sie trafen sich dabei in vielerlei Hinsicht mit den konservativen Eliten des Ancien Régime; diese hielten aus sehr weltlichen Gründen (Soldwesen, internationale Bündnisse) am Katholizismus fest, während die Radikalen eher in den reformierten Kantonen, allen voran in Zürich, die Macht innehatten. Bei alldem spielten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts konfessionelle Spaltungen eine sehr wichtige Rolle, was im Rahmen der Konflikte um die Bildung eines Nationalstaates 1847 in den Sonderbundskrieg führte. Dieser wurde durch die Konservativen kurz und relativ schmerzlos verloren.
1848 wurde die Schweizerische Eidgenossenschaft unter Führung der Radikalen als Nationalstaat gegründet. Die Bevölkerung, insbesondere die Bauern und Bäuerinnen der ehemaligen Untertanengebiete, standen auf der Seite der Radikalen. Sie erhofften sich dadurch eine Gleichstellung. Dies erwies sich als eine vergebliche Hoffnung, da die einheimischen Eliten nicht entmachtet wurden, die Bauernschaft weiterhin arm blieb und der Vormarsch des Kapitalismus ihnen einfach neue Unterdrückungsformen, insbesondere weitere Verschuldung oder die Lohnarbeit brachten. Dies galt gerade auch für die grosse Zahl nun arbeitsloser Heimarbeiter:innen, die zu elenden Bedingungen in die neu entstehenden Fabriken gedrängt wurden.[22]
Vom klassischen Liberalismus …
Die Gründung des Bundesstaates war das Werk der Radikalen. Sie brachte eine Zentralisierung von Recht, Militär, der Währung, der Masse und der Zölle, sowie den Freihandel und das allgemeine männliche Wahlrecht. Die Mächte des Ancien Régime konnten nach dem heftigen Konflikt des Sonderbundkrieges durch Zugeständnisse, wie den ausgeprägten Föderalismus, eingebunden wurden. Mit der Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraums mit absolut geltenden kapitalistischen Eigentumsrechten begann in der Schweiz die Phase der Hochindustrialisierung, wo neben der Textilindustrie unter anderem im Zusammenhang mit dem Eisenbahnbau eine selbständige und international orientierte Maschinenindustrie, eine Chemieindustrie, eine Versicherungsindustrie und Investitionsbanken entstanden.[23]
In der Schweiz gab es seit der frühen Neuzeit Privatbanken, die Geld europaweit von reichen Kaufleuten und vor allem von Soldunternehmer:innen in der Schweiz verwalteten. Diese Privatbanken waren bis weit ins 19. Jahrhundert hinein sehr zurückhaltend, ihr verwaltetes Vermögen in die aufkommende Industrie zu stecken. Ebenso die im frühen 19. Jahrhundert gegründeten Regional- und Kantonalbanken, die das Geld eher an Handwerker:innen oder an den Staat verliehen. Die grossen Investitionen, die für die industriellen Umwälzungen und den Eisenbahnbau aber erforderlich waren, benötigten ein Bankensystem, das diese erforderlichen Summen schnell aufbringen konnte. In diesem Zusammenhang wurden ab den 1850er Jahren grosse Investitionsbanken gegründet und grosse Aktiengesellschaften entstanden.[24]
Die Radikalen differenzierten sich nach der Jahrhundertmitte recht schnell weiter aus. Einerseits die klassischen Manchesterliberalen wie Alfred Escher, die ihre Basis bei den Unternehmer:innen und den wohlhabenden, freiberuflichen Mittelschichten wie Anwält:innen und Ärzt:innen hatten. Andererseits wuchs eine neue Mittelschicht heran, die nicht wohlhabend, aber gebildet war und die radikalere, demokratische Zielsetzungen verfolgte. Sie formierte sich politisch in der sogenannten Demokratischen Bewegung. Diese setzte sich in einigen Kantonen wie auch auf Bundesebene mit der Verfassungsreform von 1873/74 durch.[25]
Die Industrie war in der Schweiz nie auf große städtische Zentren konzentriert. Früher war die ländliche Heimindustrie dominierend. Mit dem Aufkommen der Nutzung der reichlich vorhandenen und über das ganze Land leicht zugänglichen Wasserkraft entstanden kleinere Betriebe mit jeweils einer kleinen Zahl von Arbeiter:innen. Große Industriebetriebe entstanden erst mit der Nutzung der Kohle und dann der Elektrizität als Energiequellen.[26] Entsprechend entwickelte sich die Industriearbeiterschaft. Insbesondere gab es kaum proletarische Ballungszentren wie in England, Frankreich, Deutschland, den USA und später in Russland. Die Industriearbeiterschaft in der Schweiz war am Ende des 19. Jahrhunderts bei einer Bevölkerung von etwa 3,3 Millionen etwa gleich gross wie die Beschäftigten im Gewerbe, der traditionelle Mittelstand und die lohnabhängigen Mittelschichten (je ca. 280 000). Alle drei Segmente, wie auch die Bauernschaft, waren in der aktiven Politik kaum vertreten. Ihre Anliegen wurden durch die demokratische Bewegung wahrgenommen. Ab den 1870er Jahren nahm mit der Entstehung von industriellen Großbetrieben, der staatlichen Verwaltung und der Großbanken auch die gebildete, lohnabhängige Mittelschicht zu. Bedeutende Teile davon wurden fortan zu wichtigen Faktoren der politischen Konsensbildung bei der Einordnung der Schweiz in das imperialistische System.[27]
… zum Imperialismus
Die Herausbildung des „klassischen“ Imperialismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts war eng mit der Grossen Depression von 1865 bis etwa 1885 und mit deren Lösung verknüpft: Die Produktionsverhältnisse mussten angesichts der weltweiten strukturellen Krise den veränderten Produktivkräften angepasst werden. Dies erforderte hohe Kapitalsummen in der Industrie, was zu einer weiteren Verschmelzung von Industriekapital und Bankkapital führte, gerade auch in der Schweiz. Dies war auch die Zeit der Entstehung von grossen Aktiengesellschaften. Um das Kapital vor grösseren Verlusten zu schützen, intervenierte der Staat zunehmend in die Wirtschaft zum Beispiel mit Schutzzöllen. In der Schweiz wurde der international aufkommende Protektionismus jedoch eher als Ursache der wirtschaftlichen Kalamitäten gesehen, denn die Schweizer Industrie war traditionell ausserordentlich stark auf den Import und den Export ausgerichtet. Insbesondere die bis anhin dominierende Textilindustrie, aber auch die Uhrenindustrie gerieten aufgrund der weltweiten Depression und des weltweiten Protektionismus und der starken Konkurrenz vor allem aus den USA unter schweren Druck. Für die breite internationale Verankerung der Schweizer Industrie und der Banken spielte die jahrhundertalte Tradition der Handelsgesellschaften und die im Soldwesen aufgebauten internationalen Beziehungen eine wichtige und nützliche Rolle.[28]
Politisch schlossen die Liberalen, die in den meisten europäischen Ländern nach 1860 eine führende Rolle spielten und zusammen mit der sich herausbildenden politischen Arbeiter:innenbewegung gegen die konservativen Kräfte gekämpft hatten, zunehmend ein Bündnis mit den Konservativen gegen die stärker werdende Arbeiter:innenbewegung. Der Liberalismus wandelte sich in dieser Zeit von einer fortschrittlichen zu einer zunehmend reaktionären Kraft.[29]
Die Landwirtschaft erlebte wie beinahe überall in Europa aufgrund der Getreideimporte aus Übersee eine grosse Krise. Die Agrarkrise beschleunigte den Wandel der Bauernschaft von einem politisch radikalen zu einem eher konservativen Potential; sie war seit Urzeiten letztendlich auf sich alleine gestellt und in traditionellen Erwerbs- und Wertesystemen verankert. Die Bauern und Bäuerinnen sahen sich bedroht durch die tiefgreifenden Änderungen ihres traditionellen Lebenszusammenhangs. Die Gründung ihrer Interessenorganisation, des Bauernverbandes, war in erster Linie darauf ausgerichtet, den egalitären und kollektivistischen Tendenzen der Arbeiterbewegung eine politische Gegenkraft gegenüberzustellen. Die Arbeiter:innen und Angestellten der grossen Industrie wuchsen an Zahl und es kam zu einer Zentralisierung der Organisationen der Arbeiter:innenbewegung in der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SPS) und dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB). Die Liberalen und die Radikalen orientierten sich zusehends am Deutschland Bismarcks, welches die virulente soziale Frage paternalistisch-autoritär löste. Es war eine Zeit heftiger Kämpfe mit schwachen politischen Vermittlungs- und Konsensstrukturen. Gegen Ende des Jahrhunderts kam es zur organisatorischen Vereinheitlichung der wichtigsten liberalen Strömungen unter der Führung der Radikalen in der FdP.[30]
In den 1870er Jahren wuchs die Stärke der Arbeiter:innenbewegung auch in der Schweiz stark an. Dies war eine Folge des Wachstums der Industrie und des organisierten Erstarkens der internationalen Arbeiter:innenbewegung. Die Pariser Kommune vom Frühjahr 1871 jagte der Bourgeoisie in ganz Europa eine enorme Angst ein. Die Verfassungsreform von 1874 muss auch in diesem Zusammenhang gesehen werden: Die Einführung des Referendumrechts war auch eine Massnahme, um die Arbeiter:innen und andere oppositionelle Kräfte ins politische System zu integrieren. Abgesehen davon wurde damit im Sinne der konservativen Kantone und der Liberalen die Zentralgewalt geschwächt. Obwohl der Organisationsgrad in den Gewerkschaften stets gering war, so kam es trotzdem zu ebenso heftigen Arbeiter:innenkämpfen, wie in den anderen industrialisierten Ländern Europas; dies galt zumindest bis zum Generalstreik 1918.
Politische Konturen im Zeitalter des Imperialismus
Über Jahrhunderte wuchs heran, was dem Schweizer Kapitalismus eine spezielle Stellung im Imperialismus, dem „verfaulenden Kapitalismusʺ[31], verlieh. Seine „Stärkenʺ sind seine außerordentlich gute Verankerung in globalen Zusammenhängen der Mehrwertproduktion und vor allem der Mehrwertabschöpfung und seine geografische Lage im Herzen Europas, dem damaligen Zentrum des sich durchsetzenden imperialistischen Regimes. Und dies ohne Kolonien, ohne Massierung einer industriellen Basis, ohne aktive Teilnahme an Kriegen. Der Schweizer Imperialismus kann genügend Mehrwert vor allem aus den Ländern der Peripherie absaugen, um eine gute Infrastruktur, politische Stabilität und für breite Bevölkerungsschichten ein vergleichsweise erträgliches Leben zu ermöglichen.[32]
Was das polit-ökonomische System der Schweiz als imperialistisch auszeichnet, ist die typisch hohe Verschmelzung von Bankkapital und Industriekapital zum Finanzkapital, welche beide vorzüglich in den weltweiten Zusammenhängen der Kapitalakkumulation verankert sind[33]. Dazu gehört ein nationalstaatlicher Rahmen, der das „einheimischeʺ Kapital im globalen Konkurrenzkampf unterstützen kann. In der Krisenperiode der 1870er und 1880er Jahre wurden die politischen Organisationen geschaffen, die fortan die wichtigen politischen und sozialen Konflikte so regeln konnten, dass die heftigen Krisen, die den Kapitalismus bis heute erschütterten, die politische Stabilität und die Herrschaft der imperialistischen Bourgeoisie eher festigen, als denn ins Wanken bringen konnten. Dabei half auch, dass die Schweiz von den tiefen Krisen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts oft relativ milde getroffen wurde; insbesondere wurde das Gebiet nie durch Kriege verwüstet.
Der Erste Weltkrieg und der darauffolgende Generalstreik waren eine erste, wenn auch nicht die letzte, Prüfung für dieses Modell. Während im Ersten Weltkrieg Vorstösse von Teilen der Schweizer Bourgeoisie – vor allem aus dem Industriesektor – an der Seite des Deutschen Kaiserreichs in den Krieg zu treten, insbesondere von führenden Persönlichkeiten des Finanzsektors erfolgreich abgewehrt werden konnten[34], so fand sich die gesamte Bourgeoisie einhellig zusammen, um dem Aufstand der Arbeiter:innenklasse im Generalstreik vom November 1918 entschlossen und gewaltsam entgegenzutreten. Da die Armee am Ende des Krieges noch nicht demobilisiert war, musste sie nicht erneut ausgehoben werden. Dies hätte vermutlich größere Probleme bereitet. Gleichwohl wurden für diesen Einsatz vorsichtshalber eher bäuerliche Einheiten herangezogen. Die Bauernschaft war damals gleichsam – trotz der hohen Verschuldung gegenüber den Banken – noch die Prätorianergarde der Schweizer Bourgeoisie.
Diese Radikalisierung der Arbeiter:innenklasse war eine Folge der Kriegslasten, die diese im Rahmen einer Burgfriedenspolitik der Gewerkschaften – neben der Bauernschaft – beinahe alleine zu tragen hatte. Die Radikalisierung entwickelte sich weitgehend außerhalb der Führungen der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften. Vielmehr stellten sich diese eher gegen diese Radikalisierung. Dies aus nackter Angst einerseits vor einer revolutionären Dynamik, wie sie ein Jahr zuvor in die Russische Revolution geführt hatte und, andererseits, vor der aufflammenden Radikalisierung der europäischen Arbeiter:innenklasse bei Kriegsende. Die da und dort entstehenden unabhängigen Koordinationsorgane der kämpfenden Arbeiter:innen waren noch zu schwach, um dem versöhnlerischen Druck der Sozialdemokratie und der Gewerkschaftsführungen etwas entgegensetzen zu können. Diese hatten denn auch genügend Autorität, um angesichts der Gewaltandrohung durch die Armee den Streik für beendet zu erklären. Und dies, ohne dass kaum eine der materiellen Forderungen der kämpfenden Arbeiter:innen unmittelbar erfüllt worden wäre.[35]
Dies war ein Ausdruck der Klassenzusammenarbeit, wie sie als Sozialpartnerschaft in den wichtigen Bereichen der Industrie, des öffentlichen Sektors und des Finanzsektors seit der Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich Fuss fasste und in einzelnen Gemeinden und dann in den Kantonen in der politischen Konkordanz in den Regierungen ab den 1890er Jahren institutionalisiert wurde[36]. Dieses System wurde fortan ausgebaut und verfeinert, bis im Zweiten Weltkrieg aufgrund ihres Wohlverhaltens die Sozialdemokratie auf Konkordanz-Basis in der Landesregierung Einsitz nehmen durfte.[37]
Literatur
Die hier aufgeführten Arbeiten waren bei der Entwicklung meines Argumentes alle wichtig. Insbesondere hilfreich waren Bergier, Maissen und Grimm; die marxistischen Klassiker Marx und Lenin gaben den gedanklichen Orientierungsrahmen ab.
Arbeitsgruppe für Geschichte der Arbeiterbewegung Zürich, 1975: Schweizerische Arbeiterbewegung. Dokumente zu Lage, Organisation und Kämpfen der Arbeiter von der Frühindustrialisierung bis zur Gegenwart. Zürich
Bairoch, Paul, 1997: Victoires et déboires. Histoire économique et sociale du monde du XVIe siècle à nos jours. 3 Bände. Paris
Behrendt, Richard, 1932: Der Schweizer Imperialismus. Die Volkswirtschaft des hochkapitalistischen Kleinstaates im Zeitalter des politischen und ökonomischen Imperialismus. Zürich
Bergier, Jean-François, 1984: Histoire économique de la Suisse. Lausanne
Degen, Bernard, 1993: Sozialdemokratie: Gegenmacht? Opposition? Bundesratspartei? Die Geschichte der Regierungsbeteiligung der schweizerischen Sozialdemokraten. Zürich
Van Dülmen, Richard, 1977: Reformation als Revolution. Soziale Bewegung und religiöser Radikalismus in der deutschen Reformation. München
Eberle, Willi und Schäppi, Hans, 2007: Eine Skizze zur polit-ökonomischen Analyse der Schweiz. Denknetz Jahrbuch 2007. Zürich
Eberle, Willi: Schweizer Imperialismus, 2021: Eine marxistische Interpretation. Online: https://maulwuerfe.ch/?p=9060; siehe auch: antikap 13, Zeitschrift der Bewegung für den Sozialismus
Engels, Friedrich, 1847: Der Schweizer Bürgerkrieg. Marx Engels Werke, Band 4
Fässler, Hans, 2005: Reise in Schwarz-Weiss. Schweizer Ortstermine in Sachen Sklaverei. Zürich
Grimm, Robert, 1976: Die Geschichte der Schweiz in ihren Klassenkämpfen. Zürich
Gruner, Erich, 1968: Die Arbeiter in der Schweiz im 19. Jahrhundert. Soziale Lage, Organisation, Verhältnis zu Arbeitgeber und Staat. Bern
Historisches Lexikon der Schweiz (HLS). Verschiedene Beiträge zu Bauernunruhen, Heimarbeit, Agrarwirtschaft und Soldwesen. https://hls-dhs-dss.ch/
Lenin, Vladimir, 1976 (1917): Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Berlin
Luciri, Pierre, 1976: Le prix de la neutralité. La diplomatie secrète de la Suisse en 1914 – 1915 avec des documents d’archives inédits. Genève
Maissen, Thomas, 2009: Geschichte der Schweiz. Zürich
Marx, Karl, 1988 (1867): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Der Produktionsprozess des Kapitals. Karl Marx Friedrich Engels Werke. Band 23. Berlin
Masnata-Rubattel, Claire et François, 1978: Le pouvoir suisse. Séduction démocratique et répression suave. Paris
Mühlestein, Hans, 1942: Der grosse Schweizerische Bauernkrieg. 1653. Celerina
Pernoud, Régine, 1981: Histoire de la bourgeoisie en France, Band 2 : Les temps modernes. Paris
Pollux (d.i. Georges Baehler), 1944: Trusts in der Schweiz? Die schweizerische Politik im Schlepptau der Hochfinanz. Zürich
Schulze, Winfried (Hg.), 1982: Europäische Revolten der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main
Stone, Norman, 1983: Europe Transformed 1878 – 1919. Oxford
Waas, Adolf, 1964: Der Bauernkrieg. Die Bauern im Kampf um Gerechtigkeit. 1300 bis 1525. Wiesbaden
Widmer, Thomas, 1992: Die Schweiz in der Wachstumskrise der 1880er Jahre. Zürich
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Diese Arbeit ist erschienen im Buch Der Schweizer Kapitalismus (2025), herausgegeben von Armen Spéth, Dominic Iten und Lukas Brügger.
[1] Marx, vor allem Kapitel 24: Die ursprüngliche Akkumulation
[2] Pollux
[3] Bergier
[4] Bergier
[5] Masnata-Rubatel
[6] Bairoch, Band 1
[7] Maissen
[8] Maissen
[9] Bergier; Grimm; Maissen
[10] Mühlestein
[11] Waas; Van Dülmen; Schulze
[12] Grimm
[13] HLS, Verlagssystem
[14] Bergier
[15] HLS, Heimarbeit
[16] HLS, Einschlagsbewegung
[17] Maissen
[18] Maissen
[19] Pernoud, vor allem Kapitel 9: L’avènement au pouvoir
[20] Siehe Beitrag von Dominic Iten in diesem Buch
[21] Bergier
[22] Arbeitsgruppe für Geschichte der Arbeiterbewegung
[23] Bergier
[24] Bergier; Maissen
[25] Eberle und Schäppi
[26] Siehe dazu den Beitrag von Juri Auderset in diesem Buch
[27] Gruner
[28] Widmer
[29] Stone
[30] Eberle und Schäppi
[31] Lenin
[32] Behrendt; Eberle
[33] Behrendt
[34] Luciri
[35] Arbeitsgruppe für Geschichte der Arbeiterbewegung
[36] Gruner
[37] Degen
Tags: Arbeiterbewegung, Arbeitskämpfe, Arbeitswelt, Bücher, Erster Weltkrieg, Europa, Gewerkschaften, Imperialismus, Politische Ökonomie, Sozialdemokratie, Strategie, Widerstand
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